"Ich habe den Tod gespürt, er saß in mir. Ich habe gekämpft."

Christoph Schlingensief über sein Leben mit dem Lungenkrebs.

Christoph Schlingensief sieht nicht besonders müde aus, er sieht auch nicht krank aus. Er hat vielleicht ein paar Falten mehr um die Augen, er ist dünner, die Haare sind ein wenig grau geworden. Aber sieht so jemand aus, der mit dem Dämon gerungen und ihn erst einmal besiegt hat? Dieser Dämon, den manche Krebs nennen oder Tod und der man doch immer auch selbst ist.

Er bestellt Kakao und ein Eis-Sandwich, braun-weiß-rot gestreift, an der Pommesbude hier im Landschaftspark Duisburg-Nord, wo früher der Stahl floss und heute die riesigen Kesselanlagen und die rostigen Rohre wirken wie die Organe eines Körpers, der vor langer Zeit gestorben ist.

Wir setzen uns in die Sonne, auf zwei Plastikstühle, der eine ist rot, der andere ist gelb. Ein leichter Wind geht durch die Birken. Schlingensief inszeniert hier gerade: Am 21. September wird sein Oratorium »Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir« bei der Ruhr Triennale Premiere haben. Dafür hat er eine Monstranz gebaut, in die er ein Röntgenbild seiner Lunge eingefügt hat. »Ich trinke sehr viel Kakao«, sagt Schlingensief, »und eine Weile habe ich mich fast ausschließlich von diesen Eis-Sandwichs ernährt.«

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Eigentlich hatte er dieses Treffen schon abgesagt. »Ich will hier arbeiten«, hatte er in einer SMS geschrieben, »ich tauche nach sieben Monaten Horrorzeit wieder langsam und ängstlich ins Leben.« Eigentlich wollte er nicht mit der Presse sprechen.

Aber dann reden wir. Er erzählt von seinem Vater, der im Januar 2007 starb, und von der Chemotherapie, von Ärzten, von den Ängsten, der Wut. Es gibt so viel zu sagen, es gibt so wenige Worte.

»Wenn dein Leben sich in eine Tragödie verwandelt, versuche, sie als Zuschauer zu betrachten.« Das ist einer der Sätze, die Schlingensief festgehalten hat, in den langen Nächten, als er im Krankenhaus lag und ins Diktiergerät sprach. 450 Seiten sind es geworden, ein ganzer Leitz-Ordner voll, kleine Teile daraus sind in die Inszenierung gewandert, die seine Krankheit zum Thema hat.

Der große Rest: ein beeindruckendes Protokoll der Selbstbefragung.
Christoph Schlingensief war nie der Provokateur, als den ihn viele sehen wollten. Er war immer ein wunder, ein verletzter Mensch. Jetzt, da er wirklich krank ist, verändern sich sein Leben und seine Kunst. Und auch unser Blick auf Christoph Schlingensief ist ein anderer.
Muss es sein.

Im Januar 2008 erfuhr er, dass er, der nie geraucht hat, Lungenkrebs hat. Er kam gerade aus Nepal, wo er die rituellen Totenverbrennungen gefilmt hatte. Er hatte einen Husten, der hartnäckig blieb. Er ging zum Arzt, ließ sich röntgen – und war gezeichnet.

Ich bin zutiefst verletzt in meinem Gottvertrauen.


Ich weiß nicht, ob ich jemals einen solchen Tag erlebt habe. Vielleicht einmal, in meiner Jugend, da war ich elf und habe auf einem Feld von Bauer Mewes ein Gefäß gefunden, in dem eine Taube saß. Ich habe das Ding berührt, dann gab’s einen großen Knall, die Taube flog hoch und zur Seite raus – und mein Arm wäre fast in diesem Metallständer gelandet, abgequetscht.

Es war eine Falkenfalle. Der Falke sollte runterfliegen auf die Taube, das Gerät schlägt zu, die Taube fliegt raus, er ist gefangen.
Dr. Bauer hat mich heute ins Zimmer geholt und war direkt bei der Sache. Er würde gern etwas anderes sagen, sagte er, aber wir haben den Befund und das ist große Scheiße. Das ist ein Adenokarzinom.
Ich habe dann bald auch daran gedacht, mich umzubringen. Vielleicht haue ich ab, dachte ich. Fliege nach Afrika, besorge mir Morphium oder irgendwas und setze mich irgendwohin, schaue in die Landschaft, und vielleicht kommt ja eine Kobra vorbei, und dann lässt man sich kurz mal beißen und erstickt.

Für mich gibt es zwei Möglichkeiten. Ich muss entweder ganz abhauen und sagen: Das soll halt wachsen, das ist jetzt so in mir, das gehört dazu. Der andere Weg ist: Nee, bitte, bitte, noch eine Infusion und dann ein bisschen kotzen und dann noch mal ein Stückchen hier raus und da raus.

Und da werde ich eben aggressiv, weil ich denke, ja, ich kann nicht abhauen, und ich kann eben vor allem vor mir nicht abhauen, ich kann mich nicht wegschließen und sagen, ich wach etwas später auf, dann ist alles wieder gut.

Im Moment denke ich: Wie kann ich raus aus dieser Wut, aus dieser Aggression in mir, wo führt mich das hin?

Aber Selbstmord ist nicht mein Ding. Noch nicht. Die Möglichkeit wenigstens brauche ich, glaube ich. Aber dann kommt das christliche Geschwätz: Er hat seinen Mann nicht gestanden, sich der Sache entzogen, wir haben doch alles hier getan, Intensivmedizin stand da, und er hat sich einfach nur hängen lassen. Da kann ich nur sagen, bei Jesus war auch keine Intensivmedizin, der hat sich auch hängen lassen.

Aber mit wem rede ich da eigentlich? Du sagst ja doch nix. Die ganzen Schlingensiefs werden ausgerottet. Und vorher noch gevierteilt und gegrillt. Von wem, bitte schön? Von wem? Wer ist das? Ich bin sehr, sehr enttäuscht und traurig. Der anfängliche Schub zu Jesus und Gott geht eher wieder weg. Vielleicht kommt er wieder, wenn man ganz am Arsch ist. Aber das find ich dann auch sehr, sehr schade. Wozu denkt man darüber nach? Wozu erhofft man sich da einen Segen?

Ich bin schon lange müde.

Ich bin zutiefst verletzt in meinem Gottvertrauen, in meiner Liebe zum Leben, zur Natur – zu alldem bricht aus mir eine große Wut, eine große Bösartigkeit aus. Vielleicht hab ich die immer in mir getragen. Es ist schon ein unglaublicher Dreck, der jetzt rauskommt aus meinen Poren, aus meinem Hirn, aus meiner Nase. Aber er riecht gut und er scheint sogar in gewisser Weise mehr zu duften als all der Weihrauch und all der rote Tand, den ich da irgendwie sehen musste, und der Altar und das ganze Zeug.

Gott also. Der ehemalige Messdiener Schlingensief, der gegen die Kirche wütet und das Theater gerne für Performances nutzt, die irgendetwas zwischen Kindergeburtstag und Gottesdienst sind: Aber vor der Krankheit zerfallen die Klischees.

»Ich glaube an Gott«, sagt Schlingensief, »ich habe immer an ihn geglaubt.« Aber irgendwo muss die Wut ja hin.

Und davon erzählen seine Aufzeichnungen, deshalb sind sie wichtig, in diesen Zeiten, da der Brustkrebs von Barbara Rudnik in »Bild« verhandelt wird, da zwischen »Kostenexplosion« und »Gesundheitswesen« kaum ein Platz für das wahre Gesicht der Krankheit bleibt und man immer noch gern Krankengeschichten als Heldengeschichten verkauft.

Schlingensief zeigt, dass es keine einfachen Wahrheiten gibt; dass der Zweifel die einzige Konstante ist; dass es vor der Krankheit keine Theorie gibt, sondern nur Praxis.

Ich bin ganz still geworden und habe hochgeguckt, und da hing das Kreuz, und in dem Moment hatte ich ein warmes, wunderbares, wohliges Gefühl. Ich war plötzlich jemand, der sagt: Halt einfach die Klappe, sei still, es ist gut, es ist gut.

Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Diesen Satz hat Jesus am Kreuz nicht gesagt, davon bin ich fest überzeugt. Das ist einfach Quatsch. Das ist nicht das Zeichen: Ja, ich bin auch so schwach wie ihr. Ich glaube, er ist einfach ganz still da oben gehangen, hat Aua gesagt und was weiß ich, aber er hat nie den Vorwurf gemacht, dass man ihn verlassen hat. Er hat einfach gesagt: Ich bin autonom.

Christoph Schlingensief redet zum Glück immer noch so schnell und so viel wie früher. Von der Frage nach der Absolution über den blinden Vater und die Tochter des KZ-Kommandanten Amon Göth geht es zum Kaktus auf dem Klavier von Adorno und zu der Schönheit des Alltäglichen.

Der Krebs, haben die Ärzte gesagt, ist vor drei oder vier Jahren gekommen – genau zu der Zeit, als Schlingensief in Bayreuth Wagners »Parsifal« inszenierte, der von einer Wunde handelt, die nicht heilen will, von der Erlösung und einem toten Vater. Am Ende, sagt Schlingensief heute, habe er sich leer gefühlt, vernichtet, er wusste nicht, wie es weitergehen sollte.

Als er von dem Krebs erfuhr, sagt er, dachte er erst, es sei der »giftige Atem« seines Vaters gewesen, der daran schuld sei. Im Grunde ist er froh, dass der Krebs älter ist, dass er länger zurückliegt als der Tod seines Vaters.

Krankheit ist kompliziert; Familie ist kompliziert. Aber irgendwo muss die Wut ja hin.

Ich würde gerne noch so viel machen.

Der Weg in die Freiheit kann nur bedeuten, dass man sich auf eigene Gesetze einlässt, die man natürlich nicht selber macht, sondern die einem, in diesem Falle besonders, von anderen vorgeschrieben werden. Aber jetzt noch irgendwo eine Öffnung zu haben, wo man dann sagt, ich werde betreut, ich werde bemitleidet, ich habe noch jemanden, der Händchen hält und so weiter, das ist es nicht, das geht auch nicht.

Ich werde die Entscheidung treffen müssen, ob ich mir in den Kopf schieße, habe aber keine Pistole; ob ich in die Badewanne steige und mir einfach die Adern aufmache; ob ich irgendwie aus dem Fenster falle, dazu ist es hier aber nicht hoch genug. Oder ob ich hoffentlich Tabletten kriege und irgendwas anderes: Denn der Lebenswille, den ich die ganze Zeit geheuchelt habe, dieses Gefühl von, ja, der Christoph, der hat Kraft, der macht’s – das ist vorbei.

Ich bin schon lange müde. Ich habe genug gestrampelt. Ich habe genug gemacht. Und allein die Vorstellung, dass ich etwas Fressendes in mir habe, das sich irgendwo reinschleicht und mich in die Ecke eines gehandicapten, atemlosen Überlebenskämpfers oder so zwängt, nee! Das geht nicht. Irgendwie ist es vorbei. Ich starre in den Kamin, und der ist leer. Ich habe auch keine Lust mehr, ihn anzuzünden, nicht mal mehr die Lust, irgendwas zu sehen, was verbrennt.

Es gibt keine Blumen, die ich noch haben will, und auch keine verwelkten Blumen. Es gibt nur den Hass auf den Vater und auch den Hass auf die Mutter.

Ich bin innerlich tot. Und ich lasse mir jetzt nicht irgendwie noch hier die halbe Lunge rausreißen, damit ich mal sehe, wie die Welt aussieht, wenn man mit halbem Atem durch die Gegend rast. Nur noch schlurft. Nee, das mache ich nicht. Und wieder auf die Liege. Und noch mal nachgucken. Das ist doch alles nicht zu fassen! Ist doch alles nicht zu fassen!

Ich geh dahin, wo Schmerzen noch erlaubt sind, wo Schmerzen nicht sofort im System erkennbar sind. An andern Orten kann man besser Schmerzen haben. Ich ziehe mich zurück. Und wenn ich aufwache, weiß ich, dass da keiner ist, der irgendwelche Säfte absaugt oder Kraft geben will oder sonst etwas. Weil dieses Kraftspielchen, das spielt man einfach nicht mehr. Das Kraftspielchen ist zu Ende.

Dann die große Erleuchtung. Jesus hat sich mir, Christoph Schlingensief, in der Kapelle gezeigt, indem er mich verstummen ließ, und plötzlich wurde alles warm. Ja, super, du Furzknuppen! Das war ein schönes Erlebnis, kann ich nicht abstreiten. Hat mir was gebracht. Fand ich schön. Aber Jesus ist trotzdem nicht da. Und Gott ist nicht da. Und die Mutter Maria ist nicht da.

Es ist alles ganz tot. Es ist alles ganz kalt. Es ist keiner mehr da.
Ich bin so beleidigt, so dermaßen beleidigt und verletzt von diesem Ding. Mit 47 Jahren. Ist echt eine unglaubliche Beleidigung!

Der Tod rückt näher. Das ist die triviale Tatsache, der Grund, warum es eine ziemliche Aufregung gab, als Schlingensiefs Krankheit bekannt wurde, mitten in den Vorbereitungen zu seiner nächsten Operninszenierung: Das Schicksal ist ein fremdes, die Angst ist die eigene.

Also schaut man so ein Gesicht an und versucht zu verstehen, was die Krankheit erzählt. Was es bedeutet, wenn man gezeichnet ist. Was es bedeutet, wenn man den Tod gesehen hat.

Sein Vater hat gelächelt, als er starb, sagt Schlingensief. Er empfand das als ungerecht. Das Lächeln bedeutete ja, dass es dort schön sein musste, wo der Vater hinging. Aber Schlingensief musste ja hier bleiben.
Langsam schmilzt das Eis-Sandwich in seiner Hand.

Eins ist klar. Ich kann mich nicht komplett ändern.

Ich würde gerne noch so viel machen. Die Frage ist nur, muss ich das dann mit einem Sauerstoffgerät machen, oder muss ich das mit irgendwelchen Kanülen oder irgendwelchen Kacktaschen am Bauch oder so. Aber im Kern hat Beuys sicher recht, dass das Leiden irgendwie die Welt auch ausmacht in ihrer Entwicklung und dass der Tod Bestandteil ist dieses Lebens.

Trotzdem: Es gab so viele Momente, wo ich das Glück eigentlich nicht zugelassen hab. Und da hatte ich am Freitag ein gutes Erlebnis, als ich über die Straße ging, um mir was zum Frühstück zu holen – und ich plötzlich einen Stich spürte, in der Brust, von der Punktion.
Ich habe dann erst gemerkt, wie langsam ich gehe, wie vorsichtig. Und dieses vorsichtige Gehen, dieses langsame Gehen, das hat mir auch gezeigt, wie sehr ich ja auf meinen eigenen Erhalt bedacht bin. Das zeigt ja diese kleine Schmerznummer: Christoph, kümmere dich um dich selber! Mach jetzt keinen Scheiß!

Und so wird das ja auch sein. Wenn ich aufwache, werde ich eben anders atmen, und dann wird das eben erst mal anders.

Christoph Schlingensief fährt sich oft unter das Hemd während unseres Gesprächs, unbewusst wahrscheinlich, er wischt sich kurz mit der Hand über seine linke Brust. Die Brust, wo der Lungenflügel fehlt.

Er hat sich doch entschieden zu bleiben und zu kämpfen, nicht nach Afrika zu gehen und langsam zu verlöschen. Er hat verstanden, warum er immer der Alleinunterhalter war, der den Eltern vorspielen musste, dass doch alles gut war. Er hat gelernt, warum er sich früher nicht gemocht hat, »einfach nicht gemocht«, sagt er.

Die Operation, bei der ihm der linke Lungenflügel entfernt wurde, verlief gut. Ist er geheilt? Das ist dann immer sofort die Frage, die man sich stellt. Aber es geht natürlich weiter. Das ist die einzige Klarheit bei all den Tests und dem ewigen Warten auf Ergebnisse, Tumormarker, das alles: Es hört nie mehr auf.

So, da bin ich wieder. Die Operation hat stattgefunden, drei oder vier Stunden. Ich hatte keine Angst vor der Operation, vor dem Reinfahren, Betäuben, dem Schnitt, dem Aufwachen. Ich gehe da gemütlich rein, ich freue mich, wenn es warm wird. Ist mir ein Hochgenuss abzutauchen. Und das ist wunderbar.

Jetzt bin ich aber sehr müde und auch schwach. Meine linke Brust ist voll gelaufen mit Sekret vom Körper. Das Ganze schwabbelt und gluckst. Im Arm habe ich einen Anschluss mit sechs Anschlüssen – da können die eine Kanüle bis ins Herz führen oder kurz vor das Herz und spüren dann, ob das feucht ist, ob da zu viel Wasser ist. Und auch im Rücken habe ich einen Schlauch.

Alles begann mit einer Nacht voller Scheißerei. Ich bin in die Analphase eingetreten. Alles war sehr flüssig, aber die Ärzte sind begeistert, weil das ein gutes Zeichen ist: Wenn der Darm anfängt, ist schon mal Befreiung in Sicht.

Und dann ist heute etwas Merkwürdiges passiert. Ich habe nebenan ein Kind schreien gehört. Ganz laut. Und ich hab gedacht, oh Gott, das Kind stirbt, dem geht’s auch so dreckig, das ist auch so traurig und verlassen und braucht Liebe. Ich habe gesagt, dann lasst doch das Kind leben und mich sterben. Aber nicht pathetisch, sondern wirklich. Das war so ein Gefühl.

Kaum hatte ich das ausgesprochen, ging meine elektronische Superanlage an, die alle Werte nimmt, Blutdruck, Puls, Sauerstoffgehalt und ich weiß nicht was. Da habe ich gedacht, oje, siehst du, irgendwas stimmt nicht, und jetzt sterbe ich tatsächlich.

Aber ich will nicht sterben!, dachte ich da panisch. Maria, bitte, lieb mich doch, was ist denn los mit euch? Bitte, bitte, ich will leben, ich will noch ganz lange leben, ich hab noch ganz viel zu tun, ich will noch ganz, ganz viel auf der Erde tun. In dem Moment hörte das Kind auf zu schreien. Und da habe ich gedacht, oh Gott, das Kind ist tot.

Mein Gerät war wieder leise. Ich habe dann einen Arzt hier gefragt, da war doch ein Kind, das geschrien hat. Und der Mann hat gesagt, ja, das hatte eine kleine Operation, es ist alles in Ordnung – und da habe ich mich erinnert, dass ich das Baby schon gesehen hatte mit der Mutter und sie gefragt hatte, was das Baby denn hat. Und die Mutter sagte, das Kind rollt vorne immer so komisch ab auf den Fußballen. Wissen Sie, warum das Kind das tut?, sagte ich. Weil Ihr Kind ein hochintelligentes Wesen ist, ein Autist. Der denkt ganz viel und geht auf Zehenspitzen durch diese Welt.

Und die Frau war wahnsinnig glücklich in dem Moment und hat das Kind so schön angelächelt, als hätte sie das Kind neu begriffen. Und als ich weggefahren wurde, hat sie mir zugelächelt. Das Kind und ich, wir wollen beide nichts mehr als einfach leben. Das hört sich jetzt vielleicht zu pathetisch an, aber ich glaube, im Rhythmus dieser Geschichte liegt etwas, nämlich dass man plötzlich begreift, dass man immer nur das Entweder-oder kennt und nie das Zusammen.

Der Wind geht immer noch durch die Birken. Schlingensief schläft viel, er ist leicht erschöpft, er hat sich trotzdem entschieden, relativ kurz nach der Operation wieder zu arbeiten. »Weiter, immer weiter«, sagt er, das ist das Einzige, was bleibt, was hilft. Arbeit ist keine Therapie, aber ein Weg.

Er ist nicht mehr so aufbrausend, sagt er, respektvoller im Umgang, verständnisvoller mit seinen Mitarbeitern. Er nimmt das Papier, in das das Eis-Sandwich gewickelt war, wirft es in den Abfalleimer und geht zurück zur Probe.

Eins ist klar. Ich kann mich nicht komplett ändern. Ich habe den Tod gespürt, er saß in mir. Dieser Tod ist erst einmal weg. Was daraus wird, muss man sehen. Ich habe gekämpft. Wahrscheinlich müssen noch einige Kämpfe stattfinden.

Ich glaube, ich habe Kräfte. Die kann man auch brechen. Aber ich bin gestärkt – nicht in der Arroganz und Überheblichkeit, sondern in der Selbstliebe.

Ich lasse mich da fallen. Ich möchte wissen, warum ich mich selbst nicht wirklich gemocht habe. Ich möchte verstehen, warum es abends für mich so wichtig war, mir mit einer Flasche Rotwein die Birne vollzuhauen. Ich will das nicht mehr. Ich möchte gern geliebt werden.

Mein großer Wunsch an Gott und Maria und Jesus ist es, dass durch diese Entkernung und das Herausnehmen dieser ganzen Lymphen und Drüsen wirklich eine Chance besteht, mit der Chemo und anderen Sachen das Ding wirklich zu putzen. Und dann muss man sich seelisch sauber halten und man muss sich auch körperlich sauber halten.
Und dabei nicht verkrampfen.
Das Leben lieben.

Christoph Schlingensief wurde am 24. Oktober 1960 im norddeutschen Oberhausen als Sohn eines Apothekers und einer Krankenschwester geboren. Er ist Filmregisseur und Theatermacher und hat Wagner in Bayreuth inszeniert. Sein Traum ist ein eigenes Opernhaus in einem Sumpfgebiet in Afrika. Im Januar 2008 wurde bei Christoph Schlingensief eine besonders tückische Form von Lungenkrebs diagnostiziert: Ein Adenokarzinom hatte auch sein Drüsensystem befallen. Bei der folgenden Operation wurde ihm der linke Lungenflügel entfernt. Er hat eine Chemotherapie hinter sich und wurde mit Bestrahlungen behandelt.

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Fotos: Albrecht Fuchs; "Eine Kirche der Angst vor den Fremden in mir", Produktionsarbeiten 2008, Filmstill; Copyright: Christoph Schlingensief