Im Zweifel für den Zweifel

Atomausstieg, Euro-Rettung, Strauss-Kahn – ständig ist heute falsch, was gestern noch richtig war. Oder umgekehrt. Ein Plädoyer für das Innehalten.

Der Zweifel über Berlin: Anfang 2005 thronte diese Installation des Künstlers Lars Ramberg über dem inzwischen abgerissenen Palast der Republik.

Der Bankrott Griechenlands war gerade wieder einmal verhindert worden, da bog schon ein neuer Weltuntergang um die Ecke. Die amerikanische Ratingagentur Moody’s hatte Portugal abgewertet – auf Ramschniveau. Wer Geld in portugiesische Staatspapiere investiert, hieß das, bekommt es im Leben nie wieder zurück. Prompt gingen in Lissabon die Kurse in die Knie. Die Euro-Retter empfanden es wie einen Schlag in den Solarplexus. Hatten die Portugiesen nicht alles getan, was von ihnen verlangt worden war, die Sparauflagen nicht sogar übererfüllt?

Wir müssen das Oligopol der Ratingagenturen brechen, grummelte Finanzminister Schäuble bei einer Pressekonferenz, bei der es eigentlich um den deutschen Staatshaushalt gehen sollte. Dabei hatte Moody’s nichts anderes getan als das, wofür Ratingagenturen existieren: Kreditausfall-Risiken bewertet. Und in diesem Fall eine Einschätzung vorgetragen, die dem Das-schaffen-wir-schon-Optimismus der Politiker zuwiderlief, der sich mittlerweile häufig nach Pfeifen im Walde anhört.

Meistgelesen diese Woche:

Die Geschichte ist bezeichnend für die Art, wie der Zweifel, aber auch seine Abwehr gerade daherkommen. Beides gibt es zunehmend nur noch in der XL-Version. Moody’s nämlich hatte über Nacht um gleich vier Bewertungsstufen herabgesetzt, ganz so, als wäre in den Wochen und Monaten zuvor niemals nachgeguckt worden. Und jene, denen der Zweifel in die Parade grätscht, denken öffentlich darüber nach, ob seine Überbringer einen an der Waffel haben und wie man ihr Genörgel stoppen kann. Es ist ein Erregungsspektakel, das man als halbwegs leidenschaftsloser Beobachter mit nicht viel mehr Interesse, als die Welt einigermaßen zu verstehen, mittlerweile viel zu häufig erlebt. Ständig wird man mit todsicheren Sicherheiten konfrontiert, alle sind sich ihrer Sache so sehr gewiss, dass man sich fragt, ob man sich selbst möglicherweise irgendeinen frühkindlichen Urvertrauensdefekt eingefangen hat.

Kaum war nach der Weltwirtschaftskrise der Arbeitsmarkt ein wenig entspannter, wurde einem von der Regierung erzählt, wie toll alles sei, kaum hatte sich der Außenminister bei der Libyen-Abstimmung im UN-Sicherheitsrat der Stimme enthalten, hieß es, die deutsche Außenpolitik werde mutwillig zerstört, kaum war Fukushima vom Tsunami heimgesucht worden, beschloss die Regierung, der die Kernkraft davor als so was von beherrschbar gegolten hatte, den Atomausstieg – worin ein Nachrichtenmagazin prompt den Anlass fand, über eine »so genannte Regierung« zu lamentieren, als wäre ein Atomstopp etwas anderes als eine sehr souveräne Entscheidung.

Sicher handelt es sich bei alldem um politische Auseinandersetzungen, in denen es nicht sehr verwunderlich ist, dass jeder das Wort so ergreift, als müsse er Säle beschallen statt einen einzigen Verstand überzeugen. Aber es sind ja auch sonst genügend Sicherwisser unterwegs. Die ganz genau wissen, dass Dominique Strauss-Kahn ein oder kein Vergewaltiger ist und die Hotelangestellte, die mit ihm im Zimmer war, unglaubwürdig, weil sie in ihrem Asylantrag falsche Angaben gemacht hatte (als ob man Lügnerinnen nicht vergewaltigen könnte). Oder dass Google+, das neue soziale Netzwerk des Suchmaschinenkonzerns, Facebook so zerschmettern wird, wie Facebook MySpace zerschmettert hat, oder gedruckte Bücher tot sind oder das deutsche Bildungswesen bald kollabiert oder Kinder unbedingt Grenzen brauchen oder ganz viel Liebe und so weiter.

Könnte mal jemand die ganz großen Thesen stecken lassen, wünscht man sich in solchen Momenten, man leidet ohnehin schon genug an den Bescheidwissern im eigenen Alltag. Im Büro bringen sie einen ja auch zum Wahnsinn, indem sie einem erklären, dass nach der Umstrukturierung die Zukunft gülden und groß sein wird und alles, was man bisher gemacht hat, in Wahrheit in die Tonne getreten werden muss. Die skeptischen Fragen, die einem bei solchen Reden durch den Kopf puckern, erspart man sich lieber. Sie haben ja doch nie eine Chance gegen Visionen, die sich mit Bullet Points und Tortengrafiken bewaffnet haben, so viel hat man schon begriffen.

Der Zweifel kommt so managerhaft rechthaberisch daher

Falls man nach Argumenten gegen solche rundum abgesicherten Weltbilder sucht, stößt man schnell auf ebenso selbstgewisse Verdammungen; Flugschriften, die »Empört euch!« heißen oder einem das Bankensystem, das internationale Finanzkapital, die Gentrifizierungskommandos in den Altbauvierteln der Städte und weiß Gott was noch alles um die Ohren hauen, lauter Weltverschwörungen, die man selbst nie bemerkt hätte mit seinem weniger hitzigen Klein-Klein-Verstand.

Es ist ja nicht so, dass der Zweifel ausgestorben wäre. Er kommt bloß selbst oft so managerhaft rechthaberisch daher. Der Manager ist, sagt der Soziologe Dirk Baecker, jener Typus Mensch, der zwei Grundüberzeugungen hat. Erstens: Die Verhältnisse sind suboptimal. Zweitens: Er hat das Wissen und den Mumm, das Suboptimale zu beheben. Lern einen Manager kennen, und du wirst von ihm erfahren, dass du bisher fast alles falsch gemacht hast. Aber er wird dich da rausholen. Falls du ihm glaubst.

Wie wäre es denn mit ein wenig altmodischerem Zweifel?, fragt man sich in solchen Situationen: einem, der noch aus den Zeiten stammt, in denen nicht immer alles auf dem Spiel zu stehen schien? Der nicht so schnell Entscheidungen fällen wollte, sondern oft genug zauderte und zuwartete, wie sich die Dinge weiterentwickelten?

Doch diese Sorte Zweifel ist oft genug eine sehr langweilige Angelegenheit. Er macht bloß skeptische Kringel im Text der Wirklichkeit, und man fühlt sich dabei nicht lebendig, eher pingelig. Man wird ein wenig zur Spaßbremse, wenn man nicht alles so toll oder schrecklich findet wie die Menschen in der Umgebung. Wie in einer Diskothek, in der man am Rand des Dancefloors steht und sich ansieht, wie die anderen abgehen, und dabei ein wenig melancholisch bemerkt, dass man selbst fürs Abgehen nicht geschaffen ist.

Könnte auch sein, dass einem im Leben eine solche Haltung nicht von Nutzen sein wird, auch wenn sie noch so berechtigt wäre. Man hat ja selbst hin und wieder erlebt, dass am überzeugendsten jene wirkten, die von sich überzeugt waren, dieses Das-wuppen-wir-schon-Charisma ausstrahlten. Wem würde man eher vertrauen? Einem, der sagt: Wenn alles gut geht, sind sechs Prozent Rendite möglich? Oder jenem, der zwanzig Prozent verspricht, Tigerstaaten, Schwellenländer, todsichere Anlage?

Oft genug hat Zweifel etwas Lähmendes. Jedenfalls steht es so in jedem wohlmeinenden Lebensratgeber. Zauderer sind nicht sexy, und Selbstzweifel behindern bloß auf der Suche nach Freunden, Liebe, Karrierechancen. Allein die Zeit, die das ewige Grübeln kostet! Mal ehrlich: Was hat man von Reserviertheit und Skepsis, wenn ringsum die Lautsprecher an einem vorbeiziehen?

Möglicherweise fühlt man sich ja wirklich besser, wenn der Zweifel so weit wie möglich eliminiert wird. Und durch positives Denken ersetzt, in dem Zwischentöne keine gefährlichen Haarrisse mehr auslösen können. Facebook hat das begriffen mit seinem »Gefällt mir«-Button. Oder Google mit seinem Personalisierungs-Algorithmus, der dafür sorgt, dass man von der Suchmaschine im Lauf der Zeit, ohne es mitzukriegen, immer treffsicherer Ergebnisse bekommt, die zum eigenen Weltbild passen – bei »BP« der ökologisch Bewusste die Reportagen über Umweltschäden und der Privatanleger die Portfolio-Beratung.

Ganz sicher fallen die Menschen, die sich den Aufwand des Zweifelns nicht antun, immer wieder auf die Schnauze. Aber das widerfährt den Zweifelnden auch, bei geringerer Fallhöhe. Wenn man bloß wüsste, was besser ist. Dass man nicht weit fällt, wenn man der Höhenangst nachgibt? Oder die Höhe vor dem Fall?

Foto: Lars Ramberg