Irrtum eingeschlossen

38 Jahre lang saß der indische Bauer Jagjivan Ram Yadav hinter Gittern - die Justiz hatte ihn schlicht vergessen. Jetzt ist er wieder draußen. Aber weiterhin gefangen in sich selbst.

Da hängt keine Glocke mehr, aber in Jagjivans Kopf klingelt sie noch. Um Punkt halb vier Uhr morgens klingelt sie und der alte Mann schreckt hoch. Er erhebt sich von seinem charpoy, einem mit Stricken bespannten Bettrahmen, der unter dem Strohdach vor dem Haus seines Schwagers steht. Er schaut in der Dunkelheit umher und sieht die Umrisse seines schlafenden Schwagers, hört seinen Enkel Sanjay atmen. Nein, hier gibt es keine Gefangenen, keine Baracke mit fünfzig Betten und vergitterten Fenstern, auch keinen Wärter, der um halb vier die Glocke läutet und alle hochjagt, die nicht schnell genug strammstehen. Hier gibt es das Dorf, die Familie, die Felder. Jagjivan ist wieder zu Hause. Aber ein Teil von ihm befindet sich noch immer hinter jenen sechs Meter hohen Mauern, hinter denen er mehr als die Hälfte seines Lebens verbrachte. Um kurz nach fünf bricht endlich die Dämmerung an. Reglos sitzt Jagjivan auf dem Bettgestell. Er blickt auf die Dorfstraße, die direkt vor dem Haus vorbeiführt. Motorräder knattern, der Enkel kommt vom Füttern der fünf Rinder zurück, welche die Familie besitzt. In bunte Saris gekleidet treten die Frauen aus dem fensterlosen Backsteinhaus. Nachbarn grüßen, doch Jagjivan hockt wie versteinert im morgendlichen Zwielicht, die großen, knorrigen Hände ineinander gelegt. Seine Wangen sind eingefallen, seine Augen blicken unter flatternden Lidern hervor ins Leere. »Es geht ihm schon viel besser«, sagt der Schwager, ein zahnloser Greis mit Namen Ram Raj Yadav. Vor zwei Monaten, als er aus dem Gefängnis kam, sei Jagjivan manchmal verwirrt gewesen und habe seine eigene Familie nicht mehr erkannt. Schweigsam und schwermütig sei er immer noch, aber langsam finde er einen Sinn für den Alltag wieder, für dessen Pflichten und kleine Freuden. »Er geht jetzt selbst zum Laden, um sich Tabak zu kaufen«, erklärt der Schwager. »Neulich hat er sogar alte Freunde im Nachbardorf besucht.« Und doch könne es jederzeit passieren, dass sich Dämonen und schlechte Erinnerungen wieder auf Jagjivans Seele herabsenken. »Dann ist er nicht mehr bei uns, auch wenn er mitten unter uns sitzt.« Es war der 29. Januar 1968, ein Montag, als Jagjivan Ram Yadav aus dem Leben gerissen wurde: An diesem Tag verhaftete man ihn in seinem Heimatdorf Mithaura im Bundesstaat Uttar Pradesh unter dem Verdacht, eine Nachbarin mit einer Machete umgebracht zu haben. Beim Prozess in der Kreisstadt Faizabad stellte das Gericht fest, dass er an psychischen Störungen litt, und überwies ihn, noch bevor ein Urteil gesprochen worden war, in die geschlossene Nervenheilanstalt von Varanasi. Von der Justiz vergessen und von der Klinikleitung dem Schicksal überlassen, blieb Jagjivan beinahe vier Jahrzehnte im Irrenhaus eingesperrt. Erst als ein Lokalreporter zu Beginn des Jahres 2006 zufällig von Jagjivans Verhängnis erfuhr und über den Fall berichtete, kam der Vergessene auf Kaution frei: Mit weißem Bart und unsicheren Schritten trat er am 14. Februar aus der Pforte des Gefängnisses von Faizabad, wohin man ihn rück-überwiesen hatte, und schloss seinen erwachsenen Sohn in die Arme, der noch ein Baby gewesen war, als Jagjivan abgeholt wurde. »Mein Sohn, wenn du so alt bist – wie alt bin dann erst ich geworden?«, hat er mit kaum vernehmbarer Stimme gesagt. 700 Menschen begrüßten ihn bei der Heimkehr in sein Dorf, darunter seine vom Leid gebeugte Ehefrau Patto Devi und ein Abgeordneter des Landesparlaments. Der Fall stieß eine hitzige Debatte über die Mängel des indischen Justizwesens an. Während der Innenminister von Uttar Pradesh von einer »tragischen Fehlleistung einiger Beamter niederen Ranges« sprach, behauptete Lalji Tandon, Oppositionsführer im Parlament des Bundesstaats: »Da ist etwas faul mit unserem Strafsystem!« Ähnlich sahen es viele Journalisten, die in ihren Artikeln betonten, wie sehr die Rechtsprechung in Indien von Bildungsstand und Einkommen des Angeklagten abhänge. Immer wieder komme es vor, dass die Untersten der Gesellschaft – wie Jagjivan – zu Opfern eines Justizsystems würden, das sie als Menschen zweiter Klasse behandle und sich um sie in keiner Weise kümmere. Der Schwager spannt zwei Ochsen ins Geschirr. Später am Tag müssen er und Jagjivan nach Faizabad, wo der im Jahr 1968 begonnene Mordprozess – Aktenzeichen 68/15 – heute, am 12. April, mit der letzten Vernehmung zu Ende gehen soll. Doch die kühlen Morgenstunden werden die Männer auf dem Feld verbringen. Jagjivan sei ein guter Arbeiter, am liebsten bediene er das Heumesser, sagt der Schwager und zeigt auf eine Maschine neben dem Hauseingang, die aus einem großen, gusseisernen Rad und einer Klinge besteht. Wenn man das Rad dreht und gleichzeitig durch eine Eisenrinne Heu schiebt, wird dieses zu Viehfutter zerkleinert. »Jagjivan mag die Maschine. Aber ich muss ihm sagen, wann er aufhören soll. Sonst dreht er weiter und weiter, auch wenn längst kein Heu mehr in der Rinne liegt.« break Hinter den Ochsen durchqueren die beiden Männer das Dorf, vorbei an meterhoch geschichteten Pyramiden aus Kuhdung, am Tempel des Gottes Hanuman und am stattlichen Haus des Dorfchefs. Das weiche Licht der Morgensonne scheint auf gelbe Weizenhalme und grünes, hoch aufragendes Zuckerrohr. Bis weit in die Ferne sind Frauen zu sehen, die gebückt die Ähren sicheln; ihre Saris bilden bunte Farbtupfer im satten Gelb der Getreidefelder. »Das Herz Indiens« hat der langjährige BBC-Korrespondent Mark Tully die Gegend genannt, in der sich Jagjivans Dorf befindet – ein besonders fruchtbarer Teil der Ganges-Ebene. Der Schwager bindet die Ochsen an ein auf dem Boden liegendes Brett, Jagjivan stellt sich darauf und treibt die Tiere quer über den winzigen, kürzlich abgeernteten Acker, um die Krume zu glätten. »Na na na«, ruft er, doch die Laute, die aus seiner Kehle kommen, sind viel zu leise, um Eindruck auf die Zugtiere zu machen. Er räuspert sich, versucht es erneut, sucht nach dem Stimmvolumen, das ihm in all den Jah-ren im Irrenhaus abhanden kam. Immer kraftvoller schallt seine Stimme über die Felder, bis sie schließlich zwei Pfauen aufschreckt, die in einem nahen Hain Zuflucht gesucht haben. Zurück am Haus des Schwagers setzt sich Jagjivan unters Strohdach und faltet die Beine übereinander. Seine Frau Patto Devi bringt ihm einen Becher Wasser. Seit sechzig Jahren sind sie verheiratet, nach altem Brauch wurde die Ehe geschlossen, als beide noch Kinder waren. Patto Devi trägt einen dunkelblauen Sari mit rosa Zierborte, einen goldenen Nasenring, mehrere Armreife und eine Fußkette. Früher war sie eine Schönheit, doch nun verhüllt das Ende ihres Saris ein Gesicht, in dem die Vergangenheit tiefe Furchen hinterlassen hat. Eine Frau ohne Mann, zudem aus einer niederen Kaste wie den Yadavs, schlecht angesehenen Kleinbauern, steht in einem indischen Dorf am unteren Ende des sozialen Gefüges. In den Städten hat das Kastensystem an Bedeutung verloren, doch die Dorfgesellschaft ist hie-rarchisch weiterhin präzise abgestuft. »Niemand kann ermessen, was ich durchgemacht habe«, sagt Patto Devi mit kaum hörbarer Stimme und beginnt zu weinen. Nach Jagjivans Festnahme ging sie mit zwei kleinen Kindern zu ihren Eltern zurück und begann, als Tagelöhnerin auf den Feldern zu arbeiten. Nie wieder hörte sie etwas von ihrem Mann, kein Gericht, keine Behörde unterrichtete sie über dessen Schicksal. Als sie einmal bei der Polizei nachfragte, wurde sie rüde abgewiesen. Ihre Tochter starb, und als ihr Sohn älter wurde und nach seinem Vater fragte, antwortete sie, der Vater sei tot. Der Sohn ging mit 15 von zu Hause fort, um der Armut zu entfliehen, und wenn im Dorf die Rede auf Jagjivan kam, winkten die Menschen ab und sagten: »Unka to Kalapani ho gaya hoga.« Schreckliche Worte: »Den sehen wir niemals wieder«, bedeutet diese Redensart, die sich auf das gefürchtete Kalapani-Gefängnis auf den Andamanen bezieht, wo die Engländer zu Kolonialzeiten indische Freiheitskämpfer folterten. Dennoch weigerte sich Patto Devi, den Priester die Totenriten vollziehen zu lassen und einen weißen Sari anzulegen, als weithin sichtbares Zeichen ihrer Witwenschaft. Jeden Samstag ging sie zur Pappelfeige in der Dorfmitte, einem heiligen Baum, denn der Legende nach versteckte sich der Gott Wischnu einst in der Krone einer Pappelfeige vor bösen Dämonen. Sie goss Wasser auf den Lehmsockel am Fuss des Baumes, entzündete Räucherstäbchen und ging dreimal um den Stamm herum. Jahrzehntelang bat sie die Götter um die Rückkehr ihres Mannes. »Ich bin sehr glücklich, dass meine Bitte erhört wurde«, sagt sie leise. Seit Jagjivan wieder zu Hause ist, hat sie, das ist das Wichtigste, ihre Ehre zurückerhalten. Nun muss sich das gegenseitige Vertrauen wieder einstellen, das den Eheleuten in den Jahrzehnten der Trennung verloren ging. Noch ist ihr Umgang vorsichtig, am Tag wechseln sie nur wenige Worte miteinander. Patto Devi steht auf und hockt sich ein paar Meter weiter auf den Boden, mit abgewandtem Gesicht. Zu lange hat sie bei den Männern gesessen, im Dorf verleben Frauen und Männer ihre Tage weitgehend getrennt. Jagjivan hat die Worte seiner Frau mit ausdrucksloser Miene verfolgt. Ein Dutzend Fliegen huscht über das Schweißtuch, das der reglose Mann in den Händen hält. Ein Nachbar kommt hinzu, aus der Brusttasche seines Hemdes zieht er einen abgegriffenen, vielfach gefalteten Zeitungsausschnitt: Unter dem in Hindi verfassten Text ist ein im Gefängnis aufgenommenes Foto von Jagjivan abgebildet. Mit unergründlichem Blick schaut der Gefangene hinter dicken eisernen Gitterstäben hervor.

Ein Ruck geht durch Jagjivan, als er dieses Foto sieht. Seine zusammengesunkene Gestalt richtet sich auf, sein eben noch wächsernes Gesicht ist nun schmerzverzerrt. »Ich möchte mich nicht erinnern«, sagt er. »Ich möchte vergessen.« Doch das gelingt ihm nicht. Mit gebrochener Stimme erzählt Jagjivan von seiner Zeit in der Anstalt, aber es sind nur Erinnerungssplitter, die er aufrufen kann – zu schmerzhaft ist die Vergangenheit, zu sehr hat sein nicht enden wollendes Martyrium seine Wahrnehmung gestört. Er saß in Baracke Nummer sechs, »ein kleiner Raum mit vielen Leuten«, und folgte all die Jahre demselben Tagesablauf: Wecken um halb vier, Feldarbeit auf dem Anstaltsgelände, schlechtes Essen, Schlaf – stets unter Aufsicht der gefürchteten Wachen. »Viele Insassen wurden geschlagen«, sagt Jagjivan. »Ich gehörte dazu.« Ärztlich behandelt wurden die Häftlinge nicht, nur ruhig gestellt. »Am Abend, vor dem Schlafengehen, haben wir eine Tablette gekriegt.« Ohne Freunde, ohne persönliche Gegenstände durchlebte Jagjivan seine Tage, und weil er Analphabet ist, konnte er nicht einmal einen Brief nach draußen schreiben. Die Jahre vergingen, die Erinnerungen verblassten und Jagjivan legte einen Panzer um seine Seele, um seinen Lebensfunken zu schützen. Die Wut, die er zu Anfang gehegt hatte, machte Schicksalsergebenheit Platz. Draußen führte Indien Krieg gegen Pakistan, Indira Gandhi starb bei einem Attentat, in Bangalore begann das indische Computerwunder, in Uttar Pradesh gewann ein Mann aus Jagjivans Kaste, ein Yadav, die Wahl zum Ministerpräsidenten. Hinter den Mauern der Irrenanstalt wurde aus einem temperamentvollen jungen Mann ein Greis, der sein Verhängnis wohl nur dank des Stoizismus und der Leidensfähigkeit überlebte, mit denen Inder der unteren Kasten zu allen Zeiten widrige Lebensumstände gemeistert haben. »Ich will niemanden zur Rechenschaft ziehen, ich will nur hier im Dorf leben und vergessen«, sagt Jagjivan mit rauer, kaum verständlicher Stimme. Dann, merklich klarer: »Und diesen Ort, die Klinik, will ich niemals wiedersehen!« Die Kashi Lansik Chikatsalay, die geschlossene Nervenheilanstalt von Varanasi, liegt am Nord-rand der heiligen Stadt, fern von den Tempeln und Badeplätzen am Ganges-Ufer, zu denen jedes Jahr Millionen von indischen Pilgern strömen, flankiert von zahlreichen Touristen aus dem Westen. Eine sechs Meter hohe, lachsrosafarbene Mauer umgibt das mehr als zehn Hektar große Areal der Anstalt, die 1808 von den Briten errichtet wurde. Der Fall Jagjivan hat die Klinik in die Schlagzeilen gebracht und bewirkt, dass ein weiterer Häftling frei-gelassen wurde; dieser saß sogar schon 39 Jahre lang in der Anstalt fest. Trotzdem beharrt Dr. B. K. Bhargava, der Direktor, darauf, dass hier alles mit rechten Dingen zugehe: »Die Gerichte schicken uns Patienten zur Behandlung. Bei manchen dauert die Therapie nur zwei Monate, bei anderen leider etwas länger.«Der Direktor sitzt in seinem Amtszimmer, hinter ihm ein Bild von Mahatma Gandhi, zu seiner Rechten zwei Untergebene, die murmelnd Zustimmung signalisieren, sobald er etwas Wichtiges verkündet. Natürlich liege einiges im Argen, gibt der Direktor zu, für die 350 Insassen stünden zum Beispiel nur zwei Ärzte zur Verfügung, die täglich dazu noch mehrere Dutzend Patienten ambulant behandeln müssten. Auch seien die Hauptgebäude der Anlage zweihundert Jahre alt, die Häftlingsbaracken einhundertfünfzig. Nein, niemand dürfe die Gefangenenunterkünfte besichtigen, nicht einmal er selbst komme dort problemlos hinein. Doch sei die Klinik gut in Schuss – weil die Insassen das Gelände als Teil ihrer Therapie täglich komplett durch-fegen würden. »Viele Besucher sagen: Oh, bei Ihnen ist es aber sauber, hier müsste man mal ein Picknick veranstalten!«, erklärt der Direktor stolz zu Gemurmel von rechts. Dann setzt er eine ernste Miene auf und kommt auf den Fall Jagjivan zu sprechen. »Niemand darf in dieser Angelegenheit mit dem Finger auf uns zeigen«, sagt er gravitätisch. Man habe für Jagjivan getan, was möglich gewesen sei, und ihn schließlich als geheilt entlassen. Die Therapie habe zugegebenermaßen recht lange gedauert, aber es zähle doch wohl der gute Ausgang. Der Direktor verschweigt, dass die Anstalt nach indischem Recht in regelmäßigen Abständen Berichte an das Gericht in Faizabad hätte schicken müssen – dass Jagjivans Inhaftierung also illegal war. »Wir beaufsichtigen doch nur die Menschen, die uns die Gerichte schicken«, ruft der Direktor und wirft beschwörend die Hände nach oben. »Wenn Sie einen Schuldigen finden wollen, gehen Sie zum Gericht! Zum Gericht!«

Im Hof des Justizgeländes von Faizabad steht ein großes Sonnendach, unter dem die bei Gericht zugelassenen Anwälte ihre Plätze haben. Dutzende von Advokaten, erkennbar an weißen Beffchen und schwarzen Blazern, laufen zwischen den Stützpfeilern umher, Klienten warten auf Holzbänken, ein Kartoffelhändler schiebt seinen Karren durchs Getümmel, Schreiber hacken in die Tasten alter mechanischer Remington-Schreibmaschinen. Jagjivans Anwalt heißt Ram Krishna Yadav. Sein Büro besteht aus einem wackligen Tisch, auf dem ein zerfledderter Aktendeckel liegt, und einer Bank, auf der Jagjivan und sein Schwager Platz genommen haben. Der Anwalt ist ein schmaler Mann mit vorstehenden Zähnen, die sich durchs Kauen der Betelnuss rötlich verfärbt haben. Letzte Woche ist seine Mutter gestorben und als Zeichen der Trauer hat er sich den Schädel rasiert; nur eine Locke am Hinterkopf blieb stehen. »Ich werde auf Freispruch aus Mangel an Beweisen plädieren«, sagt er. »Danach klage ich auf Schadensersatz. Dann braucht Jagjivan nie mehr zu arbeiten.« Er rechnet vor, wie viel Geld sich ergibt, wenn man für 38 Arbeitsjahre den jeweiligen indischen Mindestlohn veranschlagt. »Ungefähr eine Million Rupien«, erklärt der Anwalt. Umgerechnet nicht einmal zwanzigtausend Euro. Von einem Kollegen borgt er sich eine staubige schwarze Robe, dann führt er Jagjivan und dessen Schwager durch die Mittagshitze hinüber zum Gerichtsgebäude, einem hässlichen Kasten aus den Siebzigern, der im tropischen Klima Indiens schon weitgehend verrottet ist. Die Säle gehen von einem langen Flur im Erdgeschoss ab. Zahlreiche Menschen sitzen auf dem Boden und warten auf ihre Verhandlung, Bauern mit langen Bärten und nackten Beinen, sogar ein Mönch in safran-gelber Robe hockt still in einer Ecke. Jagjivans Fall wird vor der fünften Strafkammer verhandelt, unter Vorsitz des Richters Sri Lalchand Tripathi. Hier tauchte der Vergessene im Juli des vergangenen Jahres plötzlich auf, nachdem ihn das Irrenhaus ins Gefängnis von Faizabad rücküberwiesen hatte. Unbeeindruckt von der langen Haftdauer des Angeklagten nahm das Gericht in aller Ruhe die Ermittlungen auf und versuchte, in langwierigen Zeugenbefragungen mehr über das Verbrechen zu erfahren, dessen Jagjivan beschuldigt wurde. Erst als sich der Supreme Court, das Oberste Gericht Indiens, in das Verfahren einschaltete, nachdem einer der dortigen Richter einen Zeitungsbericht über den Justizskandal gelesen hatte, entschied Sri Lalchand Tripathi, dass Jagjivan auf Kaution freizulassen sei. Zwei dicke Polizisten mit buschigen Backenbärten und altmodischen Flinten bewachen den Gerichtssaal. Gerade wird gegen Pawan Pandui verhandelt, einen namhaften Politiker, der zugleich Chef eines Gangstersyndikats und für viele Morde verantwortlich sein soll; wegen der Nähe von Politik und Verbrechen ist der Bundesstaat Uttar Pradesh in ganz Indien berüchtigt. Pandui trägt ein knielanges Hemd und leichte Hosen, beides schneeweiß und frisch gebügelt. Durch seine randlose Brille beobachtet er die Befragung eines angsterfüllten Zeugen, der ihn belasten soll, sich vor Gericht aber zu keiner Aussage durchringen kann. Der Gangsterboss lächelt siegesgewiss, als die beiden Polizisten kommen, um ihn zurück ins Gefängnis zu bringen. Hinter dem hüfthohen Zaun, der die Anklagebank markiert, steht nun Jagjivan. Sein Anwalt tritt zügig an die Bank der fünften Strafkammer, wo bereits der Staatsanwalt wartet. Richter Tripathi – goldene Uhr, goldene Ringe – ist damit beschäftigt, Formulare auszufüllen, die ihm der beflissene Gerichtsdiener anreicht. Die vergilbten Aktenstapel auf dem mit einem geblümten Wachstuch bedeckten Richtertisch rascheln im Luftzug von vier Ventilatoren, die sich an der Saaldecke gemächlich drehen. Durch die zerbrochenen Fensterscheiben geht der Blick direkt auf die Pinkelrinne des Gerichts-areals. Nach vielen Formularen gibt der Richter schließlich einem Boten ein Zeichen. »Jagjivan Ram Yadav«, schallt es im Befehlston zur Anklagebank hinüber. Der Angesprochene – gewohnt, auf Zuruf vorzutreten – geht zum Tisch und steht stramm vor dem Statthalter des Gesetzes. Nur seine Augenlider flattern.

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»Nennen Sie mir Ihren Namen«, sagt der Richter. Unverständliche Laute entringen sich Jagjivans Kehle. »Wie bitte?« Nun krächzt er: »Jagjivan Ram Yadav.« »Alter?« Jagjivan schweigt und blickt durch den Richter hindurch in die Ferne. Sein Anwalt übernimmt. »Der Angeklagte ist siebzig, Euer Ehren«, sagt er. »Haben Sie am 29. Januar 1968 Ihre Nach-barin Gulabo Devi mit einer Machete umgebracht?« »Ich bestreite das«, sagt der Anwalt. »Am selben Tag wurden Sie festgenommen und nach Paragraf 302 des Indischen Strafgesetzbuchs des Mordes angeklagt.« »Ich bestreite das«, sagt der Anwalt. »15 Zeugen haben damals gegen Sie ausgesagt!« »Ich bestreite das«, sagt der Anwalt. »Allerdings sind sämtliche Dokumente von damals nicht mehr aufzufinden: der Polizeibericht, der Obduktionsbericht und die Gerichtsakten.« »Das ist richtig«, sagt der Anwalt. »Während des Prozesses wurde festgestellt, dass Sie geistig verwirrt waren. Deshalb hat man Sie am 7. Dezember 1968 in die Nervenklinik von Varanasi eingewiesen.« Bei diesen Worten horcht Jagjivan auf. Er tritt von einem Fuß auf den anderen und beugt sich ein wenig nach vorn. »Sie sind dort bis zum 22. Juli 2005 geblieben und behandelt worden.« Jagjivan stößt einen gequälten Laut aus. »Diesem Gericht ist es gelungen, fünf jener 15 Zeugen ausfindig zu machen und zu befragen. Alle haben ausgesagt, dass Sie die Tat nicht begangen hätten.« »Das ist richtig«, sagt der Anwalt zufrieden. Der Richter beendet die Vernehmung und schickt Jagjivan auf die Anklagebank. »Euer Ehren, wie sollen wir diesen Mann verurteilen?«, sagt der Staatsanwalt. »Wir haben keine Belastungszeugen, keine Beweise, keine Akten und Polizeiberichte. Auch der Arzt, der damals die Obduktion durchgeführt hat, ist nicht vor Gericht erschienen. Ich plädiere deshalb auf Freispruch.« Danach spricht Jagjivans Anwalt: »Da dem Gericht keinerlei Beweise vorliegen, sollte der Prozess zügig mit einem Freispruch beendet werden, auch in Anbetracht der langen Zeit, die mein Mandant bereits hinter Gittern verbracht hat.« Der Richter füllt schweigend ein weiteres Formular aus. Dann sagt er: »Das Urteil wird am 20. April verkündet.« Vor dem Gerichtssaal warten zahlreiche Menschen. Der Reporter einer Lokalzeitung stellt Fragen – »Wie fühlen Sie sich? Was werden Sie in Zukunft machen?« –, auf die Jagjivan nicht reagiert. Etwas verloren steht er inmitten der Menschentraube, immer noch flattern seine Lider. Während der Anwalt dem Reporter seine Prozessstrategie erläutert, schaut Jagjivan suchend umher. Als er den Schwager erblickt, zieht er für einen kurzen Moment seinen linken Mundwinkel nach oben – zu flüchtig ist diese Bewegung, als dass man sie ein Lächeln nennen könnte, und doch ist sie deutlich genug, um preiszugeben, dass Jagjivan freut, dass er trotz des Schattens, der auf seiner Seele liegt, verstanden hat, was hier gerade passiert ist: In einer Woche wird sein Leidensweg zu Ende sein. Zum Abschied legt er die Handflächen vor der Brust zusammen und senkt leicht den Kopf. »Gehen wir«, sagt der Schwager. Die beiden Männer überqueren das staubige Gerichtsgelände und sind bald nicht mehr zu sehen. Am 20. April sprach der Richter Sri Lalchand Tripathi wie angekündigt das Urteil im Prozess mit dem Aktenzeichen 68/15: Freispruch. Nach 38 Jahren, zwei Monaten und 23 Tagen verließ Jagjivan Ram Yadav das Gericht als freier Mann. Die Klage auf Entschädigung für all die geraubten Jahre, die sein Anwalt bald darauf einreichte, harrt allerdings weiter der Bearbeitung. Sie droht in den Mühlen des indischen Justizsystems verloren zu gehen – wie es zuvor schon Jagjivan selbst geschah.