Der Österreicher ist ein rätselhaftes Wesen. Und ein verschlossenes. Es ist als Deutscher nicht leicht, ihn zu verstehen. Drei Möglichkeiten haben Sie aber, es zu lernen. Sie können es wie ich machen: Ziehen Sie von Deutschland dorthin, gehen sie da zur Schule, lernen Sie, den Dialekt Ihres Deutschlehrers zu entschlüsseln, essen Sie jeden Tag eine Mayo-Semmel, rauchen Sie Zigaretten der Marke hobby auf dem Schulklo, freunden Sie sich mit Tiroler Metallica-Fans an, tanzen Sie sehr eng mit Tirolerinnen zu Bon Jovi, stibitzen Sie sonntags die Kronen Zeitung, lernen Sie alle Seitentäler des Lechtals nicht auswendig und bekommen Sie trotzdem die Matura. Aber ich muss Sie warnen: Obwohl ich so viele Jahre in einer der kleinsten Städte Österreichs verbracht habe, verschattet von Bergen und einem Zementwerk und sechs Monaten Winter, kann ich immer noch nicht hundertprozentig einschätzen, wie er sich fühlt, der Ösi.
Wenn Ihnen das alles zu lange dauert, schlage ich Ihnen zweitens folgendes Bildungsprogramm vor: Tun Sie es wie die Österreicherinnen und Österreicher und schlafen Sie in der Wiener Staatsoper ein, singen Sie Kärntner Lieder, trinken Sie einen ganzen Liter steirisches Kernöl, besuchen Sie nie Salzburg, lernen Sie, wie man Buchteln backt, sehen Sie sich alte Folgen der Partnervermittlungssendung Liebesg’schichten und Heiratssachen bei YouTube an, außerdem alle acht Teile der Hansi-Hinterseer-Heimatfilme aus der Da-wo-Reihe (Da wo die Berge sind, Da wo die Liebe wohnt, Da wo die Heimat ist …), und weinen Sie bei Wolfgang Ambros’ Chanson Heite drah i mi ham (Heute bringe ich mich um).
Ihre dritte und einfachste Möglichkeit, sich dem Österreicher zu nähern, ist die Online-Briefmarkenbörse der Post. Auf meine-marke.at können gültige Briefmarken selbst gestaltet werden, auf post.at/sammelboerse kann man sie bestellen und tauschen. In diesem täglich aktualisierten Archiv aus Tausenden Miniaturen, glauben Sie mir, zeigt der Österreicher sein Innerstes. Die Motive, von denen wir hier einige zeigen, erzählen von kleinen und großen Wünschen, von Frohsinn und Trauer. Alles, was den österreichischen Menschen umtreibt, wird abgebildet: Er trägt das Sechser-Tragerl, sie den Kasten, ein Null-Euro-Geldschein (Wirtschaft), 50 Jahre Weltmeisterschaft im Pflügen (Sport), eine Gruppe Motorradfahrer wartet am Bahnübergang auf eine Dampflok (Tourismus), ein Bobtail sitzt auf einer durchgebogenen Bank, dazu der Spruch »Alles wird gut« (Corona), Angela Merkel (Politik, aber bitte nicht die eigene), »Erstes privates Biermuseum Österreichs« (Kulinarik), »Ich finde mich nicht mehr zurecht« (Zukunft), »Die gute alte Zeit« (Vergangenheit).
Auffallend oft zeigen die Briefmarken Prominente und Ereignisse aus dem Ausland oder gleich andere Ländernamen. Zeigt sich hier ein Minderwertigkeitskomplex? Oder geht es um Sehnsucht und Verbundenheit? Der Österreicher bleibt ein liebenswertes Rätsel.