Ohren zu und durch

Sie sorgen für himmlische Ruhe - aber für viele Menschen sind Ohrenstöpsel mehr als nur praktische Hilfsmittel: Sie benutzen sie wie Waffen im Kampf gegen die Unruhe der Welt.

Der Weltuntergang beginnt mit einer kleinen Bewegung. Zwischen Zeigefinger und Daumen rollt man den Schaumstoffkegel, bis er schmal genug ist, um in den Gehörgang zu passen. Geübte rollen beidhändig. Und dann kommen die Stöpsel in die Ohren.

Die Stille beginnt mit einem Knistern. Der Werkstoff dehnt sich aus, bis man dicht ist. Die Außenwelt geht unter, die Innenwelt geht auf. Der Nachbar liebt Salsa, der Mitschläfer schnarcht, im Großraumwagen kreischt eine Schulklasse – egal. Man hört nur noch sich selbst: den Herzschlag, das Rauschen des eigenen Blutes, die Gelenke, wenn man den Kopf bewegt. Wer hätte geahnt, dass Nasebohren drei verschiedene Geräusche verursacht, bei Brillenträgern sogar vier? Es gibt zwei Wege, wie Menschen zu Ohrenstöpsel-Junkies werden. Der erste Weg beginnt zum Beispiel damit, dass man an eine viel befahrene Straße zieht (»gute Verkehrsanbindung«, sagt die Maklerin) oder wegen Wirtschaftskrise plötzlich im Großraumbüro sitzt (ein »sogenannter nicht-klassischer Lärmbereich«, sagen Arbeitsmediziner) oder ein Schreibaby bekommt (»Ohrenstöpsel aus der Apotheke helfen, den schrillen Ton etwas zu dämpfen«, sagt die Zeitschrift Eltern. »So fällt es Ihnen leichter, Ihr Kind geduldig zu trösten«). Kurz, man will seine Ruhe. Und dann will man nie wieder ohne Stöpsel sein.

Der zweite Weg führt über die Co-Abhängigkeit. Es ist schwierig, mit intensiven Ohrenstöpsel-Nutzern zusammenzuleben; sie reagieren langsam oder gar nicht, wenn man nachts Kontakt aufnehmen möchte. Nie kann man zu einer Ohrenstöpsel-Nutzerin den schönen Bettsatz sagen: »Schläfst du schon?« Eine Frau erzählt, ihr Mann habe eine Feier früher verlassen, um zu Bett zu gehen, und dann beim Heimkommen aus Versehen den Riegel vor die Haustür geschoben. Klingeln, Wummern, Treten, nichts half. Sie schlief bei den Nachbarn. Der Mann wachte morgens gut erholt auf, fand 45 »verpasste Anrufe« auf seinem Handy und erwartete ängstlich die Rückkehr seiner Frau.

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Besonders irritierend am Leben mit einem Ohrenstöpsel-Fan aber ist das Gefühl, selbst ein Störfaktor zu sein: Bei Tageslicht bist du der Mann ihres Lebens, nachts bist du eine unerwünschte Geräuschquelle. Gegen Ohrenstöpsel kannst du nicht gewinnen, du kannst sie aber auch nicht ignorieren. Du kannst sie höchstens selbst benutzen. Ein bisschen aus Notwehr: Mal sehen, wer hier wen ausblendet. Ein bisschen aus Neugier: Nur mal hören, wie das so ist.

Und schon gibt es einen Ohrenstöpsel-User mehr. Derlei passiert tausendfach in deutschen Haushalten: Ein Land macht zu.

Stille Revolutionen manifestieren sich zuerst in Eindrücken und Anekdoten. Egal, wo man in einer Runde mit Menschen zwischen 35 und 45 zusammensitzt: Das Gespräch kommt von ganz allein auf die Stillmacher. Weil man darüber redet, wie oft die Kinder nachts aufwachen. Weil viele in ihren Berufen reisen müssen. Weil überall gebaut wird, mehr denn je (Konjunkturprogramm II). Kurz, weil so viele in dieser Generation müde sind, müde von den prekären Jobs, den spät bekommenen Kindern, dem ganzen Leben, das sich plötzlich so zusammenballt und dabei so einen Lärm macht. Und in jeder Runde sind zwei, drei schwer Abhängige, die sich austauschen über Fachfragen wie: nur nachts oder auch tagsüber, wann immer es geht? Vor allem: Schaumstoff oder Wachs? »Wachs soll ja noch dichter machen«, sagt eine Schaumstoff-Userin, froh, diese Option noch für die Zukunft zu haben. Später, in einer Disco, zeigt ein ausgehfreudiger Bekannter seine maßgefertigten Ohrenstöpsel mit Frequenzfiltern – 189 Euro. Er trägt sie in einer Alu-Hülse am Schlüsselbund.

Und dann steht am nächsten Morgen in der Welt, dass Franka Potente niemals ohne Ohrenstöpsel reist: »Ich kenne alle Sorten«, sagt sie. »Ich bin für die aus Wachs.« Hans Magnus Enzensberger empfiehlt für Friseur-Besuche, »sich mit einer Packung Ohropax auszurüsten«, von Walter Kempowski ist das Diktum überliefert »Ohne Ohropax kein Manuskript«, und die FAS berichtet, auch der Schriftsteller
Nicholson Baker halte sich mithilfe von Ohrenstöpseln die Welt »in der angenehmsten Weise auf Distanz«.

Vielleicht ist Distanz ein Schlüsselwort. Viele stellen diese mittels iPod und Ohrhörern her: Die akustische Dauerberieselung wirkt als Schutzschild gegen unerwünschte Sinneseindrücke und als subtile Form des Psycho-Dopings; Jan Delay und Peter Fox zum Wachwerden, sanfte Elektrobeats zum Runterkommen. Ist der Akku leer, werden übergangslos Ohrpfropfen in die vorgewärmten Gehörgänge gepresst, als asketische Variante der Musikstöpsel. In ihrem viel diskutierten Roman Bitterfotze schreibt die schwedische Autorin Maria Sveland: »Ohrenstöpsel sind ein Gottesgeschenk für Frauen.« Die Heldin genießt Distanz und schläft, während ihr Mann Johan sich nachts ums Kind kümmern muss. »Manchmal, wenn Johan morgens besonders verschlossen war, habe ich die Ohrenstöpsel während des gesamten Frühstücks dringelassen. Ich habe mir gestattet, in meiner wunderbaren stillen Welt zu bleiben, die Zeitung zu lesen und zu warten, bis der Kaffee mich langsam weckte.«

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Der Lärm, das sind die anderen.

»Lärm, das sind unerwünschte Geräusche. Eine subjektive Größe, wie jeder weiß, der in einem Mietshaus lebt«, sagt Christian Maschke, Lärmforscher an der Technischen Universität Berlin. Drastischer formuliert: Der Lärm, das sind die anderen. Mein origineller Klingelton sagt mir, dass jemand mich sprechen möchte – eure originellen Klingeltöne machen mich wahnsinnig. »Das Ohr ist ein Warnorgan, das die Umwelt permanent nach Gefahren absucht. Darum kann man den Gehörsinn nicht verschließen wie die Augen«, erklärt der Lärmforscher. Evolutionsbiologisch dienen Geräusche nicht zu unserer Unterhaltung; jedes Geräusch bedeutet erst mal: Alarm. Indem wir das Ohr wider unsere Natur doch verschließen, rebellieren wir gegen alles, was uns in Kampf- und Fluchtbereitschaft versetzt. Wir fliehen vor dem Fluchtreflex.

Die Geräusche, die wir ausblenden, sind auch heute noch Warn-signale. Wenn wir hinhörten, würden sie uns vielleicht sagen, dass wir die falsche Wohnung gemietet haben; dass wir uns überwinden und den Nachbarn um Ruhe bitten müssten; dass der Mensch, der neben uns liegt, vielleicht doch nicht der richtige ist. Denn was hat es zu bedeuten, wenn wir nicht einmal seine Atemgeräusche ertragen können? Wenn die Benutzung von Ohrenstöpseln eine Rebellion ist, dann geht sie nicht nur gegen den Lärm der anderen, sondern auch gegen unsere eigenen Zweifel, gegen den Verdacht, vielleicht doch das falsche Leben zu führen.

Michael Negwer ist der Geschäftsführer der Firma Ohropax in Wehrheim im Taunus. Als wollte er sein Produkt gegen allzu große Thesen verteidigen, sagt er schon vor dem Eingang des Firmensitzes: »Viele sind erstaunt, wie klein das Haus ist. Aber es ist ja auch ein kleines Produkt.« In seinem Büro breitet er die gesamte Ohropax-Palette aus, sie würde in einen Briefumschlag passen. »Der Ohrenstöpsel hat was Süßes, er ist eher ein sympathisches Produkt am Rande, aber eine echte Lebenshilfe«, sagt Negwer. Fast täglich bekommt er Dankesbriefe und Mails: Eine Studentin bedankt sich für ungestörtes Lernen in der Bibliothek, eine 51-Jährige anlässlich ihrer Silberhochzeit. Sie vermutet, dass ihre Ehe ohne Ohropax nicht gehalten hätte. Vor Jahren hat ein dankbarer Kunde der Firma sogar Geld vererbt (Negwer spendete es dem Roten Kreuz).

»Das Bedürfnis nach Stille ist etwas ganz Elementares«, sagt Negwer, »und das Bedürfnis der Menschen nach Stille nimmt zu. Weil die Welt immer lauter wird.« Entsprechend wachsen die Absatzzahlen von Ohropax – leicht, aber stetig. Dreißig Mitarbeiter arbeiten in Wehrheim, wo jährlich etwa dreißig Millionen Ohrenstöpsel aus Wachs hergestellt und die zugelieferten Stöpsel aus Schaumstoff oder Silikon verpackt werden. Die Schaumstoff-Stöpsel machen etwa 40 Prozent des Geschäfts aus, die Wachsstöpsel, die Michael Negwers Großvater Max 1908 erfand, bleiben ein unverwüstliches Liebhabergeschäft.
»Es gibt keine Ausdehnzeiten, und dank der klebenden Komponente des Wachses schmiegt es sich an die Haut an«, sagt Negwer. »Wer sich davon überzeugen lässt, bleibt beim Wachs.«

Es geht ein Zauber aus vom Ohrenstöpsel, schon beim Produktionsprozess. Aus zwölf Trommeln zieht die Ohrenstöpsel-Maschine dünne weiße Wattestränge, tränkt sie mit rosafarbenem Wachs, schneidet sie zu und umhüllt sie dann mit ebenfalls rosafarbener Trennwatte. Ein kleiner Roboter füllt goldene Zweier-Döschen, die am Ende in der Apotheke weniger als einen Euro kosten. Die Produktion ruht, wenn einer der Wattestränge von Hand neu eingefädelt werden muss. Die Begleitumstände wie Temperierung und Luftreinigung sind komplex, die Zusammensetzung des Wachses auch. Aber der Herstellungsvorgang würde sich auch einem Kind sofort erschließen, er ist so einfach wie die Anwendung.

Tatsächlich hat der Ohrenstöpsel-Gebrauch etwas Kindliches: Die Geräuschwelt der Stöpsel ist geradezu pränatal. Mütter stillen Säuglinge, wir stillen den Rest der Welt. Vielleicht macht seine Einfachheit den Ohrenstöpsel zum idealen Mittel gegen die ständig zunehmende Komplexität von allem. »Jedes Geräusch vermittelt auch eine Information«, sagt der Lärmforscher Maschke (der Ohrenstöpsel nur zum kurzfristigen Gebrauch empfiehlt). Und das Leben liefert uns mehr Informationen, als wir haben wollen. Der Vergleich der Ohrenstöpsel-Anwendung mit einer Art Weltuntergang ist näherliegend, als er scheint. Schon vor etwa 5000 Jahren stand im babylonischen Gilgameschepos, dass die Götter die alles vernichtende Sintflut über die Welt schickten, weil ihnen der »Tumult der Menschheit« den Schlaf raubte.

Je mehr wir leisten müssen, desto mehr verändert sich die Bedeutung von Schlaf. Schlaf als Erholung, das war früher, heute ist Schlaf: Akku aufladen. Wer schlecht schläft, bekommt Angst, dem nächsten Tag nicht gewachsen zu sein, die Anforderungen seines Arbeitgebers, seines Partners, seiner Familie, seines Lebens nicht erfüllen zu können.

Wäre es nicht die wahre Rebellion, sich gegen diese Anforderungen aufzulehnen? Muss man das Leben nicht mit all seinen Geräuschen an sich heranlassen, um herauszufinden, was man daran ändern möchte?
Nach vier, fünf Wochen mit abgedichteten Nächten ist es fast undenkbar, wieder ohne Ohrenstöpsel zu schlafen. Frei, nackt. Der Hörsinn ist geschärft. Die Bettdecke gleitet mit sanftem Baumwollrascheln übers Laken. Zweierlei Atem füllt den Raum. Im Nachbarhaus weint ein Kind und wird getröstet. Jemand hat Glück und findet einen Parkplatz. Schritte auf dem Pflaster. Wind in den Blättern. Regen.

Schläfst du schon?
Nein.
Und morgens zwitschern die Vögel.

Till Raether hatte kleines Gepäck, als er morgens um 5:51 Uhr in den ICE nach Frankfurt stieg, um zu Ohropax in den Taunus zu fahren. Einen Notizblock, eine Semmel – und Ohrenstöpsel für den Großraumwagen. Er benutzt Schaumstoffstöpsel von Ohropax.

Geritt Hahn (Fotos)