Kornelius ist tot. Gut, man hat es kommen sehen, schließlich war er schon 18 und hatte ein Magengeschwür. So ist das eben bei 18-jährigen Katern. Aber fassungslos bin ich natürlich trotzdem. Bin ja kein Unmensch. Obwohl ich Kornelius nur von Fotos kannte. Die hat sie mir gezeigt, obwohl wir uns wiederum erst vor zehn Minuten auf dieser Party kennengelernt haben. Ihr Name ist mir wieder entfallen, aber Kornelius, den habe ich mir gemerkt. Sieben dieser zehn Minuten hat sie nämlich von ihm gesprochen. Ich weiß, dass Kornelius aus einem Berliner Tierheim adoptiert ist, da war er schon 15. Ich weiß, dass es dort Katzen gab, die verkuschelter, jünger, gesünder waren, aber Nein! Sie wollte unbedingt einen alten und »demolierten« Kater haben, den sie pflegen kann. Sein Lieblingsspielzeug war eine Angel mit einer Feder dran, mit der sie Kornelius wochenlang unter dem Bett hervorzulocken versuchte, als dieser frisch einzog. Woher ich das weiß? Ich habe gefragt.
Fragen ist meine Überlebenstaktik, wenn ich auf Partys bin. Wenn die Musik laut ist und alle tanzen, ist es ja ein dankbarer Zustand, um einer Konversation zu entgehen. Da wird man angeschrien, und weil man nichts versteht, grinst man irritiert und schreit zurück, worauf das Gegenüber auch irritiert grinst, und so einigen sich fragende und antwortende Personen auf eine verständnisvolle Nichtverständigung.
Nennen Sie mich einen verklemmten Affen, aber solche Zusammenkünfte sind nicht mein Jumbo-Pläsir. Schon bei der Begrüßungssituation krampft mein Hirn. Hier steckt man ab, wie nah man sich ist und kommen darf. Kennt man sich flüchtig (Händeschütteln) oder gut genug (Umarmung)? Schön, dass du hier bist! Danke für die Einladung! Und dann geht’s ja los. Die Gastgeberin ist schon wieder weg und lässt einen zurück in der Fremde mit einer Gruppe Fremder, die den Neuankömmling anglotzen wie Ferdinand Magellan wohl schon das Guanako angeglotzt hat, als er das lamaähnliche Getier um 1520 in Patagonien entdeckte. Vermutlich haben beide, Magellan sowie die anderen Partygäste, auch das Gleiche gefragt, nämlich: Und, na, was machst du so?
Neben Alkohol, Musik und Snacks, sind die Fragenden auf Partys die vierte Gewalt
Ich finde es mühsam, aus meinem Leben zu erzählen. Und wenn ich es doch tue, ist es mir unangenehm, weil immer die Sorge mitschwingt, dass die andere Person meine Existenz stinklangweilig findet. Deshalb frage ich lieber, als befragt zu werden. Wer fragt, zeigt doch Interesse und Mitgefühl! Je mehr, desto besser. Immerhin bin ich beruflich prädestiniert dafür. Neben Alkohol, Musik und Snacks, sind die Fragenden auf Partys die vierte Gewalt, das ist nicht nur im Journalismus so.
Meine Lieblingsfrage ist: Hast du dich schon mal geprügelt? Ich stehe dabei am liebsten auf dem Balkon und befrage die Raucher. Hier draußen ist es still und angenehm. Drinnen besteht immer die Gefahr, dass die Besoffenen einen auf die Tanzfläche ziehen, loooohoooos, kommmmm! Aber hier draußen werde ich Zeuge, wie beispielsweise dieser eine Typ, eine Inkarnation von »Männer hören nicht Taylor Swift«, beim Überlegen bedeutungsschwanger an seiner Kippe zieht und den Lungeninhalt genüsslich in die Nacht pustet, als wären wir nicht mehr bei Jonas in der WG, sondern plötzlich im »Café de Flore« in Paris, wo schon Sartre und de Beauvoir gequarzt haben. Dann raunt er, wie er in der Grundschule mal Diddelsticker getauscht und dann dem Patrick auf die Nase gehauen hat, weil dieser der Ansicht war, Diddel-Sammeln sei »voll schwul«.
Ich halte es da mit der Mäeutik des Sokrates. Hatte ein Schüler eine Annahme, so antwortete der alte Fuchs nicht einfach, sondern stellte eine Frage. Auf jede Frage kam dann eine Gegenfrage. Was meinst du damit? Wie kommst du darauf? Den Kniff hatte er von seiner Mutter, die Hebamme war, und bei einer Geburt eben nicht selbst eingriff, sondern nur unterstützend wirkte. Der Schüler sollte seine These selbst hinterfragen. So effektiv das wohl war, so unfassbar nervig klingt es. Stünde ich mit Sokrates in der Raucherecke, hätte ich ihn wohl vom Balkon geschubst. Die alten Griechen dachten wohl ähnlich und haben sich seiner wegen der ganzen Fragerei irgendwann entledigt.
Ich fragte aber trotzdem weiter. Wieso hast du Patrick gehauen? Wer war wohl mehr beleidigt, er oder du? Wie hat das dein Verhältnis zu Diddel verändert? Es kamen die erstaunlichsten Antworten, das muss man dem guten Sokrates lassen. Ja, Prügeln sei ja so ein strunzmännliches Ding, aber hier war es doch ein Befreiungsschlag gegen die Fesseln der toxischen Männlichkeit! Für die Toleranz! Für mehr Offenheit! Für Diddelmäuse!
Man merkt schnell, dass die Unterhaltung an Tiefe und Amüsement gewinnt. Leider nur auf meiner Seite. Die einen sehen in mir bald einen dieser »Ich stelle hier die Fragen!«-FBI-Verhörprofis. Die anderen kommen beim Erzählen in einen derartigen Rausch, dass sie gar nicht mehr aufhören wollen. Es ist erstaunlich, wie lange vor allem weiße Männer von sich reden können, bis sie selbst mal was fragen. Probieren Sie das mal aus.
Fragt man Deutsche, wie es ihnen geht, hört man eine Kaskade der Wehwehchen
Kein Wunder. Wer fragt, rollt förmlich den roten Teppich aus. Gut, es gibt sicher auch simplere Eisbrecher. Leider fallen die mir nie ein, wenn ich sie brauche. Die Amerikaner begrüßen einen ja immer mit einem derben »How are ya!«. Sie checken aber auch das Spiel und antworten »Fine, thanks!«, auch wenn ein Armbrustbolzen im Knie steckt. Fragt man Deutsche, wie es ihnen geht, hört man eine Kaskade der Wehwehchen. Der Rücken, die Hüfte. Die Wartezimmer sind voll, die Helferinnen unfreundlich, und dann ist der Arzt auch noch Ausländer!
Also, was um Himmels willen soll man sonst fragen auf so einer Party, ohne wie der größte Dussel dazustehen? Der große Meister oben weiß es vermutlich, aber da der nur sporadisch antwortet, frage ich seine irdische Vertretung, die ebenfalls ständig die großen Fragen des Lebens beantworten soll: Hey, Siri! – »Guten Tag.« Was sind gute Partyfragen? – »Das hier habe ich gefunden.«
Sie schickt mir einen Link zu einem Artikel aus der Bravo. »Würdest du eher..?: 220+ neue, lustige und harte Fragen«. Mit denen könne man jede Freundschaft testen. Manche sind harmlos (Würdest du eher ein übergroßes Ohr oder einen übergroßen Zeh haben?), die anderen hätten Sokrates gefallen (Würdest du eher vergessen, wer du bist oder wer alle anderen sind?) Aber so ganz hilft mir das nicht weiter. Gut, dass die New York Times mal eifrige Partygänger und -geber nach »Hot Topics« fragte, über die man gut plaudern kann. Aber auch hier scheiden sich die Geister: Die einen raten, nicht über Politik, Religion oder Pornografie zu sprechen, denn das sei ja alles das Gleiche. Die anderen: Alles ist erlaubt! Vor allem in diesen aufgeladenen Zeiten sei es doch komisch, NICHT über solche Themen zu sprechen.
Ich frage mich, was wohl die allererste Partyfrage war. Vielleicht in einer illustren Runde aus der Altsteinzeit, als ein Neandertaler auf die roten Beeren des anderen zeigte und ihn angrunzte, frei übersetzt etwa: »Kann ich das essen, ohne zu sterben?« Eine Frage, die uns mit unseren Vorfahren verbindet, wenn wir heute vor undefinierbaren Horsd’œuvres stehen. Ist es nicht lustig, dass die Menschheit die Tiefsee und das Universum erobert, Schafe klont und sprechende Klos erfindet, Epochen voller Errungenschaften, aber wenn man auf einer Party vor fremden Menschen steht, ist der Kopf ganz leer, und das Einzige, was aufploppt, ist ein bescheuertes: »Und ihr so?«
Vielleicht ist das auch gar nicht schlimm. Dieses verbale Rumgeeiere gehört doch dazu. Britische Forscher untersuchten mal die Wirkung des Smalltalks. Probanden sollten eine Aufgabe lösen. Die eine Hälfte chattete vorher miteinander, die andere nicht. Die Smalltalkgruppe war produktiver. Egal, ob man über das Wetter sprach (oder 18-jährige Kater mit Magenproblemen), man lernte sich kennen, baute eine Verbindung auf. Vor allem heute, wo so viele über eine angeblich gespaltene Gesellschaft reden, ist das doch ein Wink: Eigentlich egal, worüber wir miteinander reden. Hauptsache, wir tun es.