SZ-Magazin: Sie sind Polizeitaucherin. Wie fühlt es sich an, unter Wasser zu sein?
Grit Schröder: Die Sicht in den Gewässern in Deutschland ist oft eher schlecht. Ich sehe nur die Hand vor dem Gesicht, ansonsten bin ich blind und muss mir meine Umgebung ertasten. Fasse ich in den Boden, wirbelt das Schlamm auf und dann sehe ich gar nichts mehr. Wir haben einen Tauchcomputer am Handgelenk, der uns die Tiefe und Dauer des Tauchgangs anzeigt. Selbst wenn ich den direkt vor die Augen halte, ist das, als würde ich durch braunes, schlammiges Schneegestöber gucken. Unter Wasser höre ich nur meine Atmung und die aufsteigenden Blasen. Mittlerweile haben wir auch Vollgesichtsmasken mit integrierten Funkgeräten, mit denen wir mit unseren Kollegen an der Wasseroberfläche Kontakt halten können. Früher musste man an der Leine ziehen, um miteinander zu kommunizieren.
Wie sind Sie überhaupt Polizeitaucherin geworden?
Als ich 1996 mit meiner Ausbildung fertig war, wurden in Köln gerade die Technischen Einsatzeinheiten entwickelt, bei denen man auch als Polizeitaucher arbeiten konnte. Ich wollte schon immer Taucherin werden, habe mich im und am Wasser schon immer wohl gefühlt. Bei der ersten Bewerbung hat es noch nicht geklappt, 2002 dann aber doch. Neben dem Tauchen machen wir aber noch viele andere Dinge. Klettereinsätze, Räumungsarbeiten, Beweismittelsicherung.
Nach was sucht man als Polizeitaucherin?
Meistens suchen wir nach Tat- und Beweismitteln. Waffen, Munition oder Fluchtfahrzeuge, die nach der Tat versenkt wurden. Oder Tresore und Waffenschränke, Handys oder Portemonnaies, die wichtige Daten enthalten könnten. Und natürlich suchen wir nach vermissten Personen.
Ist das nicht unglaublich gruselig?
Wir wissen ja, worauf wir uns einlassen und nach was wir suchen. Durch die Erfahrung ist man für die Unterschiede, was man gerade ertastet, sensibilisiert. Man weiß, ob man gerade Holz in der Hand hält, oder Eisen, oder eben auch eine Leiche. Man tastet und tastet, erspürt einen Schuh, einen Rucksack oder eine Jacke und dann weiß man, dass es sich um einen Menschen handelt. Wenn es eine unbekleidete Person ist, fühlt es sich an wie Kerzenwachs. Aber es ist in dem Moment kein Schreck, eher eine Art Aha-Effekt. Wir wollen die vermisste Person ja auch finden, deswegen sind wir im Wasser.
Haben Sie Angst, wenn sie ins Wasser gehen?
Nein, ich gehe gerne ins Wasser. Und wir gehen nur rein, wenn die Situation sicher ist. Dazu machen wir uns zuvor ein genaues Bild von dem Einsatz. Wie ist das Gewässer? Wie tief ist es? Ist es vielleicht kontaminiert? Wie ist der Boden? Gab es dort schon mal einen Einsatz? Gibt es Hindernisse? In einem Baggersee kann das zum Beispiel ein altes Förderband sein. Wie ist die Strömung? Vor kurzem sollten wir eine vermisste Person suchen, die von einem Kreuzfahrtschiff gefallen war. Das konnten wir nicht, weil die Strömung des Rheins an dem Tag zu stark war.
Der Fall Ihres Lebens hat allerdings nichts mit vermissten Personen zu tun, sondern mit einem Unglück, das noch heute ganz Köln beschäftigt: Der Einsturz des Kölner Stadtarchivs.
Wie erwähnt haben wir nicht ausschließlich Taucheinsätze, sondern machen auch noch viele andere Dinge. 2009 sicherte ich mit meinem Team den Karnevalszug auf der Severinstraße ab, genau vorm Stadtarchiv. Wenige Tage später saß ich mit den gleichen Kollegen vorm Fernseher und wir sahen die Bilder des eingestürzten Archivs, vor dem wir kurz zuvor noch gestanden hatten. Es ist unglaublich, dass an Karneval nichts passiert ist, mit all den Menschen und den schweren Umzugswagen. Wir wären alle mit in der Grube gelandet.
Das Stadtarchiv samt zweier Nachbarhäuser stürzte am 3. März 2009 ein. Zwei Menschen starben, 30 Regalkilometer Archivbestand gingen verloren. Waren Sie Teil des unmittelbaren Bergungsteams?
Nein, das war zunächst der Job der Feuerwehr und des Technischen Hilfswerks. Wir haben erst die Unfallstelle gesichert. Aber 2012 wurden wir von der Staatsanwaltschaft angefordert. Bei der Suche nach den Gründen für den Einsturz geht es im Wesentlichen um eine Schlitzwand auf der damaligen Baustelle. Schlitzwände sind Wände, die zum Schutz in tiefen Baugruben eingezogen werden. Im Fall des Kölner Stadtarchivs geht es um die Frage, ob die Schlitzwand in irgendeiner Weise fehlerhaft war.
Wie waren denn die Bedingungen unter Wasser? Sind Sie in den Trümmern getaucht?
Nein, es wurde extra für die Untersuchungen eine Tauchbaugrube an der Wand gebaut. Sie ist mit Stahlträgern und Beton befestigt, links und rechts neben der Schlitzwand sind Stickstofftürme aufgebaut, mit denen die Wand stickstoffvereist wurde. So wurde sichergestellt, dass sie fest und stabil ist und keine Steine oder andere Teile weggeschwemmt werden. Für uns war es also sicher, aber anfangs war der Grund nicht fest, weswegen wir durch die aufgewirbelten Teilchen extrem schlechte Sicht hatten. Wenn sie zu schlecht wurde, musste die Feuerwehr Frischwasser in die Grube füllen. Dann machten wir Pause und warteten darauf, dass das Wasser aufklart.
Was war Ihre Aufgabe unter Wasser?
Es ging um Beweissicherung. Wir sollten den Zustand und die Beschaffenheit der Wand dokumentieren. Wie sieht sie aus? Gibt es ein Leck? Wie sind die Abstände der Schlitze und wie tief gehen sie in die Wand? Wir mussten auch Steinproben aus der Wand nehmen. Weil es sich dabei um potentielle Beweisstücke handelte, taten wir das nach strengen Regeln und mussten uns dabei filmen: An der Oberfläche saß unser Gutachter, der uns über Funk Instruktionen gab, was wir filmen sollten, in welchem Winkel wir die Kamera halten mussten und wo wir die Steine entnehmen sollten. Ein Taucher filmte, ein anderer Taucher entnahm der Wand die Proben und brachte sie an die Oberfläche. Wir haben auch Bodenproben aus dem Rhein genommen, um zu sehen, ob es Ausspülungen gab, die in den Rhein getragen wurden.
Klingt nach Millimeterarbeit.
Die größte Herausforderung war, sich möglichst ruhig im Wasser zu halten, um verwertbare Aufnahmen zu bekommen. Weil es zu Beginn noch keine Taucherplattform gab, auf der wir unter Wasser hätten stehen können, haben wir kurzerhand einen alten Basketballkorb umfunktioniert. Den haben wir an einem Kran ins Wasser gelassen, um uns draufzustellen. Durch den festen Stand konnten wir die Kamera ruhig halten. Erst später wurde ein Rundlauf aus Blech in die Grube gelassen, auf dem man stehen konnte.
Wie oft mussten Sie in die Grube?
Oft waren wir viele Tage am Stück im Wasser, zweimal sogar 14 Tage am Stück mit jeweils zwei Tauchgängen pro Tag und Taucher. Wir sind über eine senkrechte Leiter in die Baugrube geklettert, mit der Tauchausrüstung, die bis zu 35 kg wiegen kann. Das ist alles unglaublich anstrengend. Wenn man abends nach Hause kommt, legt man sich sofort hin und schläft.
Der Fall hat auch eine politische Dimension. Es geht um die Frage der Schuld und um viel Geld. Haben Sie das gemerkt?
Nein. Ich mache einfach meinen Job. Tauchen ist das, was ich gut kann und was ich gerne mache. Aber dass es verschiedene Parteien in dem Fall gab, hat man auch daran gemerkt, dass es gar nicht so einfach war, die Tauchzeiten zu bekommen. Es gab nämlich viele verschiedene Gutachter, deren Tauchergruppen ebenfalls alle in die Grube wollten, um die Wand zu inspizieren. Weswegen wir die Termine zugewiesen bekamen.
Wenn es um Beweissicherung ging, was haben Sie gefunden?
Das darf ich nicht sagen, der Prozess läuft noch.
Wie sehr hat Sie dieser Fall geprägt?
Der Fall begleitet mich seit Jahren, ich war von Anfang an dabei. Eigentlich ja sogar ein paar Tage, bevor er begonnen hat. Zuletzt war ich 2015 in der Grube. Der Prozess läuft nach wie vor, auch an der Baugrube gibt es immer wieder Arbeiten. Und jedes Mal, wenn es Neuigkeiten gibt, hänge ich sofort vorm Internet und lese jeden Artikel, den ich dazu finden kann. Jede neue Wendung kann schließlich auch bedeuten, dass ich noch einmal in die Tauchgrube muss. Und nicht zuletzt ist es auch ein emotionaler Fall, der zur Stadtgeschichte gehört. Der Einsturz hat die Menschen hier sehr beschäftigt. Auch deswegen bin ich mit Leidenschaft dabei und will etwas bewirken. Aber ich bin auch froh, wenn der Fall irgendwann abgeschlossen ist und auch ich endlich weiß, woran es gelegen hat. Als es losging, schrieb hier eine Zeitung über mich: »Kann sie das Geheimnis lüften?« Bislang ist mir das nicht gelungen.