Als wir den dritten Geburtstag meines Sohnes feierten, sah das so aus: Luftballons, Berge von Feuerwehrmann-Sam-Spielzeug, Oma und Opa, Patenonkel, ein Schokokuchen mit drei brennenden Kerzen, haaaaaalt, noch nicht auspusten, erst alle Smartphones in Position bringen. Jetzt ausblasen, schöööön. »Wollen wir uns noch mal Fotos von seiner Geburt ansehen?«, fragte ich, und wir scrollten uns durch 31 291 Fotos auf dem Smartphone meines Mannes und 19 378 auf meinem. Wir sahen uns dabei zu, wie uns im Krankenhaus ein knautschiges Bündel in die Arme gelegt wurde, das sich, Monate später mit Haarflaum auf dem Kopf, allein drehen konnte. Ein paar Wische weiter: Badewannengeplansche. Taufe. Erster Geburtstag. Erste Schritte, Kita-Eingewöhnung, Weihnachtsglück, zweiter Geburtstag, Schiebefahrrad, Pizza backen, noch mehr Weihnachtsglück, Kinderfasching, Beule am Kopf, und dann waren wir kurz vor dem dritten Geburtstag, der dann weiter mit acht Smartphones dokumentiert wurde.
Denke ich an meine Kindheit in den Siebzigerjahren, tauchen nur Erinnerungsfetzen auf: OshKosh-Latzhosen, kratzige Rollkragenpullover, Haarspangen in Herzform, Strumpfhosen aus Polyester. CapriSonne, Buchstabensuppe, »Mirácoli«-Spaghetti, »Brauner Bär« und »Dolomiti« von Langnese. Wir spielten mit Monchhichis. Wir sahen Die Bären sind los im Fernsehen, Dick und Doof und das Testbild. Wir hörten Pumuckl auf Langspielplatte. Ich weiß nicht genau, ob das alles so stimmt oder ob ich meine Erinnerungen an mein Wunschbild meiner Kindheit angepasst habe. Ich erinnere mich zum Beispiel an kaum ein peinliches Outfit, Make-up oder Haarstyling als Pubertierende in den Achtzigerjahren. Das kann doch gar nicht stimmen.
Mein Sohn dagegen ist ein Smartphone-Kind. Bis er aus dem Haus ist, wird so ziemlich jedes Detail seiner Entwicklung digital gesichert sein. Seitdem jeder ein Smartphone hat und die Geräte so leicht zu bedienen sind, seit fünf, sechs Jahren, ist die Kindheit eine andere.
Sehen wir uns am 18. Geburtstag meines Sohnes alle 750 000 Fotos in einem Digital-Loop an, unterlegt mit elektronischer Musik?
All die Fotos und Filme sehen sich die Eltern auch mit ihren Kindern an: Schau, das bist du! »Diese Kleinkindgeneration ist die erste, die sich selbst beim Aufwachsen zusieht. Das ist eine Erfahrung, die keine andere Generation teilt«, sagt Jutta Wiesemann, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen. Sie untersucht seit drei Jahren das Aufwachsen in der Generation Smartphone: Mit der Kamera begleiten sie und ihre Mitarbeiter in Deutschland, der Schweiz, Marokko und Indien 17 Familien mit kleinen Kindern, es ist das einzige Forschungsprojekt dieser Art. »Dieses Sich-selbst-Betrachten ist etwas anderes, als sich im Spiegel zu sehen. Wenn man sich so sieht, hat man ein anderes Verhältnis zu sich und der Welt.«
Ich war etwa sieben, als ich mich erstmals von der Seite sah: Auf dem Dachboden meiner Oma, in einem Spiegel mit zwei beweglichen Klappen an der Seite. Ich fand meinen Hinterkopf platt und meine Nase komisch. Mein Sohn kennt sich längst in allen Lebenslagen als Foto und im Film. »Die Arbeit am Selbstbild und damit auch an der Identitätsbildung wird in Zukunft viel mehr über dieses digitale Material laufen als früher«, sagt Wiesemann. »Es bleiben Unmengen von Bildern und Filmen, auf die immer wieder Bezug genommen werden kann. Wir wissen noch nicht genau, wie sich diese ständige Vorzeigbarkeit auswirkt, aber wir wissen, dass sie Auswirkungen haben wird – auf unsere Vorstellung von Personen und deren Identität.«
Als Kind wollte ich mir besondere Augenblicke in mein Gehirn brennen, indem ich schnell die Augen schloss. »Perlenkettenaugenblicke« sagte ich dazu. Als die Hütte aus Ästen im Garten endlich fertig war, oder als ich zum ersten Mal auf dem Pony sitzen durfte, das ich so mochte. Was macht es mit meinem Sohn, wenn er sich alles wieder und wieder ansehen kann? Wird er sich noch Perlenkettenaugenblicke einprägen wollen? »Wahrscheinlich erzählen diese Kinder später ihre Lebensgeschichte eher nach Bildern und Filmen und stellen sie sich selbst auch so vor«, sagt Jutta Wiesemann. Im Nachhinein zu schönen oder zu verändern geht dann nicht, ist ja alles dokumentiert. »Sie werden einen anderen Umgang mit der eigenen Geschichte haben und auch mit den Dokumenten der eigenen Geschichte.« Was werden sie mit der Flut der Fotos und Filme machen? Sie sich andauernd ansehen oder nie wieder? Sie im Netz veröffentlichen oder löschen?
Wie findet es mein Sohn, wenn ich seine Pubertät mit weiteren 120 000 Fotos dokumentiert habe, schiefe Zähne, Pickel, Bartflaum?
Vor ein paar Tagen beim Abendessen hat mein Sohn gelernt, wie er Kartoffeln mit der Gabel in den Spinat drücken kann, »ditschen« heißt das bei uns. Er wollte das sofort per Facetime seiner Oma 600 Kilometer entfernt zeigen. »Oma in unterschiedlichen Darreichungsformen« nennt Wiesemann diese neue Art der Familienzugehörigkeit. In manchen Familien sitzt die Oma beim Essen per Smartphone jeden Tag mit am Tisch, da steht sogar ein Teller für sie. »Das ›doing family‹ hat sich verändert, also: wie Familie gelebt wird. Und das Empfinden von An- und Abwesenheit«, sagt Wiesemann. Überhaupt hat die Frage »Wo sind die anderen, und wo bin ich?« für Smartphone-Kinder eine neue Dimension: Wenn Kinder Filme von sich selbst betrachten, fragen sie nicht selten: »War ich da alleine?« Sie können sich nicht vorstellen, dass es eine Person gegeben haben muss, die den Film aufgenommen hat. Sie sehen nur sich.
Wie geht das weiter? Werde ich zur Einschulung meines Sohnes 100 000 Fotos mit einer App zu einem Lebensfilm arrangieren, einer Art Daumenkino? Wie findet es mein Sohn, wenn ich seine Pubertät mit weiteren 120 000 Fotos dokumentiert habe, schiefe Zähne, Pickel, Bartflaum? Dauern Familienfeste in Zukunft Tage, bis man alle Fotos durch hat? Sehen wir uns an seinem 18. Geburtstag alle 750 000 Fotos in einem Digital-Loop an, unterlegt mit elektronischer Musik?
Wahrscheinlich nicht, denn meine Dokumentationswut erhält immer öfter einen Dämpfer. Kaum will ich eine neue Fotoreihe von einem süßen Lebensmoment aufnehmen, hält mein Sohn seine Hand vor sein Gesicht, Mama, stopp! Dann rennt er zu seiner Instax-Mini-Sofortbildkamera, stellt sich so in Position, wie ich es immer mache, drückt viel zu schnell ab, zieht das Foto heraus und zeigt mir stolz die Tischkante, die er erwischt hat – und dann reden wir über dieses Foto, diese wunderschöne, gut getroffene Tischkante.
Später, wenn er schläft, fotografiere ich das Bild der Tischkante natürlich mit dem Smartphone ab, Chronistenpflicht.