Trübe Tassen

Je hässlicher ein Becher, desto hartnäckiger hält er sich in der Büroküche. Unsere Autorin vermutet dahinter ein soziologisches Prinzip.

Vor einiger Zeit half ich für ein paar Wochen in der Redaktion des SZ-Magazins aus. Immer schön, in ein altes Büro zurückzukommen, die alten Kollegen wiederzusehen – bis ich leichtfertig den Wandschrank in der Teeküche öffnete.

Herrgott. Da standen sie ja immer noch, die beiden grauenvollen Kaffeebecher, die ich hier vor drei Jahren klammheimlich verklappt hatte: Designklumpen im Fred-Feuerstein-Look, wie aus schmutzigem Fels gehauen. Die Tassen waren ein Geschenk, zu hässlich, um mit ihnen umzuziehen, zu schade zum Wegwerfen (dachte ich damals jedenfalls), also ab damit in die Büroküche. Kann bestimmt noch einer brauchen. Kann natürlich keiner brauchen.

Es standen ja schon genug andere hässliche Pötte da, Achtzigerjahre-Scheußlichkeiten mit grafischen Mustern, Werbetassen von lokalen Radiosendern, Fan-Merchandise, Blümchenbecher – das ganze grottige, schrottige Zeug, das man zu Hause nicht ertragen könnte, das im Büro aber täglich acht bis zehn Stunden vor einem auf dem Schreibtisch steht. Wieso man dort klaglos mit diesem Geschmacksmüll lebt, ihn oft sogar zärtlich (oder wenigstens ironisch) liebt, wäre Stoff für zwei bis drei psychologische Studien. »Paradoxes Porzellan – eine neue Sicht auf das Stockholm-Syndrom« oder so.

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Alle Bürotassenschränke sehen so aus, alle. Sie haben mal unschuldig begonnen, mit einer Ersteinrichtung aus reinweißen Tassen und Kuchentellern, und enden als Sondermüllhalden aus ungeliebten Geschenken, Fehlkäufen, peinlichen Souvenirs. Wie fast überall im menschlichen Zusammenleben gilt das Broken-Window-Prinzip: Wenn erst mal ein Snoopy-Becher da steht, folgt wenig später eine »I ❤️ NY«-Tasse, und danach brechen alle Dämme: Pötte mit der URL eines IT-Dienstleisters, dem Hochzeitsbild von William und Kate oder mit Henkeln in Form eines Schlagrings fluten die Schränke und verdrängen alles weiße Porzellan. Nach einem mysteriösen evolutionären Gesetz sind die schlimmsten Becher die größten Überlebenskünstler. Die fallen nicht runter, und wenn, bleiben sie heil. Die werden einfach immer nur hässlicher, die Sprüche darauf täglich quälender. »Der frühe Vogel kann mich mal.« – »Lass mich kurz überlegen … NEIN.« – »Lächle. Du kannst sie nicht alle töten.«

Der Kampf gegen hässliche Bürotassen wird gelegentlich zur Chefsache (die Deutschland-Zentrale von Nissan verbannte vor Jahren sämtliche Fremdtassen und führte 300 knallrote Becher mit Firmenlogo ein – innen am oberen Becherrand, sodass man es bei jedem Schluck unentrinnbar vor Augen hat), ansonsten entwickelt jeder seine eigenen Strategien. Ich zum Beispiel habe mir angewöhnt, morgens im Büro die Spülmaschine auszuräumen – kein Altruismus, sondern die einzige Chance, einen frisch gewaschenen, noch trockengebläsewarmen und vor allen Dingen ästhetisch unbedenklichen Becher zu ergattern. Gern auch zwei bis drei, die dann für die nächsten Tage in der Schreibtischschublade gebunkert werden.

Dort ruhen ohnehin, traut man einer inzwischen gut zwanzig Jahre alten Untersuchung des Volkskundlers Matthias Henkel, die meisten Tassen in deutschen Büros: Siebzig Prozent von 2500 Befragten gaben seinerzeit an, einen persönlichen Becher zu nutzen, bei über sechzigjährigen Frauen waren es sogar 83 Prozent. Die Tassen im Schrank sind also nur die Ungeliebten, die Abgehängten. Täglich werden es mehr, und eines Tages werden sie sich mit all den nie weggebrachten Pfandflaschen zusammenrotten, und dann ist es wohl besser, wir kommen ihnen nicht in die Quere.

Illustration: Sheina Szlamka