Zwei Jahre ist es jetzt her, dass Stefan Klapproth klatschnass unter dem undichten Zeltdach lag und versuchte, nicht so laut mit den Zähnen zu klappern. Die Herbstnacht war kalt, Regen drang durch die Baumwollplane, das Schaffell unter ihm war schon völlig durchweicht; sein handgenähtes Leinengewand, einer Tunika ähnlich, klebte am Körper und die Wirkung des Beerenweins ließ langsam nach. Doch Stefan Klapproth war so glücklich wie schon lang nicht mehr.
Er vermisste nicht mal seinen Fernseher. Sonst machte er ihn morgens immer gleich an, noch bevor er in seinen Anzug schlüpfte, und spätabends wieder, wenn er aus dem Büro nach Hause in den Münchner Vorort kam. Manchmal, wenn er im Fernsehen Filme wie Philadelphia sah, über Menschen, die nicht mehr lange zu leben hatten, fragte sich Stefan Klapproth, ob bei ihm denn alles so lief, wie er sich das wünschte: Er war selbst einmal dem Tode nah, vor fünf Jahren, als er in einem Gasthof bei München als Kellner gearbeitet hatte, so hart, dass er zum Schluss nur noch 57 Kilo wog, bei 1,86 Meter Größe. Der Arzt, der ihn krankschrieb, half ihm auch, zu kündigen. Allein hätte er das nie geschafft, zu groß war die Angst vor dem Abstieg in die Sozialhilfe. Kaum ging es Stefan Klapproth besser, stürzte er sich in neue Jobs, erst als Sachbearbeiter in einem internationalen Elektronikkonzern, dann als Kundenbetreuer bei einer Zeitarbeitsfirma. Er stieg auf, trug nun Schlips, eine akkurate Frisur, hatte einen festen Händedruck. Von außen betrachtet sah sein Leben wirklich sehr ordentlich aus.
Drei Wochen vor jener nassen Nacht im Zelt hatte seine Freundin Evi vorgeschlagen, doch mal mit ihrer Kollegin Biene und deren Freund Robert auf ein Mittelalterfest nach Bad Reichenhall zu fahren und dort zu übernachten. Stefan Klapproth hasste es zu zelten, war aber auch neugierig, deshalb sagte er zu. Robert, der schon länger im Mittelalter unterwegs war, schneiderte mit ihnen auf die Schnelle aus Ikea-Leinen eine Hose und eine Tunika für Stefan und ein Kleid mit Schürze für seine Freundin.
Und nun lag Stefan also da, in dem auf Mittelalter getrimmten Zelt, das nicht ganz dicht war, sein Anzugjob schien ihm so weit weg wie nie zuvor. Er war 28 Jahre alt und trotz der Tunika fühlte er sich zum ersten Mal nicht mehr verkleidet.
Eine abenteuerliche Mittelalterwelt erobert die Gegenwart: Filme wie Herr der Ringe, Fluch der Karibik und Harry Potter gehören zu den erfolgreichsten aller Zeiten. Ken Folletts Dombau-Epos Die Säulen der Erde geht in die 66. Auflage, allein in Deutschland wurden fast vier Millionen Exemplare verkauft, die Fortsetzung Die Tore der Welt schoss soeben an die Spitze der Bestsellerliste. Das derzeit beliebteste Computerspiel heißt Assassin’s Creed, der Held ist ein Attentäter, das Thema die Kreuzzüge.
Im Februar gewann die Mittelalter-Rockband Subway to Sally aus Brandenburg Stefan Raabs Bundesvision Song Contest – gegen 14 Bands, darunter so bekannte wie die Sportfreunde Stiller. Vor eineinhalb Millionen Zuschauern eroberte Dudelsack- und Geigenrock das Raab’sche Querschnittspublikum. Der Trend hat die Masse erwischt.
Und die will nun mit Haut und Haaren in diese Abenteuerwelt eintauchen: Die Zahl der deutschen Mittelalterfeste hat sich innerhalb der letzten fünf Jahre auf mehr als 5000 verdoppelt. Das Spektakel in Kaltenberg besuchen rund 30000 Besucher an jedem Juliwochenende; wer will, kann fast jeden Tag in Deutschland Burgfeste, Mittelalterspektakel, historische Märkte, Konzerte, Gaukeleien oder Workshops besuchen: vergangenes Wochenende »Crana Historica« auf der Festung Rosenberg in Oberfranken, nächstes Wochenende »Gaudium Equites Poingorum«. Und nach jedem Mittelalterwochenende steht montags in den Lokalzeitungen, Tausende Besucher seien dort und glücklich gewesen.
Der Münchner Kulturhistoriker Jan-Dirk Müller sagt: »Es gab Mitte des 19. Jahrhunderts schon einmal eine Sehnsucht nach dem Mittelalter, doch damals ging es um den Wunsch nach einer gemeinsamen nationalen Identität. Heute steht die Flucht in eine Parallelwelt im Vordergrund, eine Tendenz zum sporadischen Eintauchen in eine mittelalterliche Lebensform.«
Die meisten Besucher eines Mittelalterfestes kommen wegen der Ritterkämpfe und Reitershows, in denen vorwiegend osteuropäische Stuntleute in Rüstung aufeinander losgehen. Doch das echte Abenteuer beginnt hinter den Kulissen in den Lagern der Laiengruppen, die Mittelalter spielen.
Hier gibt es Gut und Böse, aber keine Handys; man muss nicht zwischen 200 Fernsehkanälen und sechzig Marmeladensorten wählen. Statt im nicht abbezahlten Reihenmittelhaus auf Latexkernmatratzen schlafen die Menschen in Zelten auf Fellen; statt allein vor dem Fernseher essen sie gemeinsam an einer großen Tafel, am besten mit Fingern. Und abends, wenn die Touristen endlich heimgegangen sind, bleiben die als Ritter, Wikinger, Mongolen oder Normannen verkleideten Zivilisationsflücht-linge an ihren Feuern sitzen, trinken aus Hörnern und Kelchen, genießen es, sich mit »holde Maid« und »edler Ritter« anzureden oder einfach mal aus vollem Hals »Odin!« in die Dunkelheit zu brüllen.
Mit dem echten Mittelalter hat diese Welt natürlich nichts zu tun, mehr mit dem »gefühlten Mittelalter«: einfach, rau, kernig, ehrlich; eine zusammengeschusterte Abenteuerfantasie, in der Rockfestival, Zeltlager und Karneval Platz haben. Die Männer tragen Bärte, Muskeln und Schwerter – und sind doch oft nicht hart genug für das 21. Jahrhundert. Jan-Dirk Müller sagt: »Die Sehnsucht nach der idealisierten Form des Mittelalters kann eine Zivilisationsflucht sein, denn viele Menschen möchten unsere technologisierte Lebensart hinter sich lassen. Die Hoffnung auf ein friedliches und fortschrittliches Miteinander ist seit den Neunzigerjahren durch Kriege und Krisen erschüttert worden.«
Mittelaltermarkt in Poing, im Mai vor einem Jahr: Stefan Klapproth sitzt wieder in Leinenhosen da – diesmal auch noch mit nacktem Oberkörper. Er nennt sich hier Nordger, seine braunen Augen strahlen aus dem unrasierten Gesicht. »Mein Leben lang habe ich gemacht, was andere von mir erwarteten«, erzählt er. »Der Kellner, der Geschäftsmann, das bin nicht ich.« Unter der Woche arbeitet er zwar noch immer in der Zeitarbeitsfirma, aber nicht mehr bis spät in die Nacht. Stattdessen hat er sich mit seiner Freundin Evi der Normannengruppe Ferox Caterva um seine Freunde Robert und Biene angeschlossen, gemeinsam fahren sie am Wochenende auf Mittelalterfeste. »In dieser Wochenendsituation ist es für mich ideal«, sagt er, im echten Mittelalter würde er nicht leben wollen.
Jetzt, drei Jahre nach seiner ersten Nacht auf einem Mittelaltermarkt, hat er nicht nur seine Hose mit der Hand genäht, er besitzt auch einen Schild, einen Speer und ein eigenes Zelt. Einmal sei jemand in ihr Lager gekommen, erzählt er, und habe sich nach Roberts Schild erkundigt. Zwei Stunden später habe der Typ bei ihnen gesessen und mit einem Hammer den Messingbeschlag an einer Tasche repariert. »Und so wie ich Sachbearbeiter bin oder Robert ein Bauhofarbeiter, so ist dieser Typ ein Zahnarzt aus Erding«, sagt Stefan Klapproth. »Hier geht es nicht darum, wer du bist oder wie viel Geld du hast. Hier sind alle Menschen gleich.« Den Begriff Unterschicht kennt das moderne Mittelalter nicht, Hartz IV, Verwahrlosung oder Einsamkeit auch nicht.
Die Tafel bildet den Mittelpunkt jedes Lagers. Gleich, in welches man kommt, die gemeinsame Zeit an den langen Holztischen, an denen Großfamilien Platz hätten, ist für alle der Höhepunkt. »Das Mahl, angefangen mit dem Abendmahl, ist eine Urform menschlicher Gemeinschaft«, erklärt der Kulturhistoriker Jan-Dirk Müller. »Wer es zelebriert, schafft etwas, was es in der Gegenwart nicht mehr so häufig gibt: das Zusammensein der Familie. Dass viele Menschen beieinandersitzen und miteinander essen und trinken, ist etwas Besonderes. Das Interesse an dieser Form der Gesellschaft ist groß.«
Gemeinsam ist man weniger allein. Bis in die Achtzigerjahre trafen sich die Deutschen gern in Schützen-, Karnevals- oder Feuerwehrvereinen, in Gemeinschaften mit Vorsitzenden, Schriftführern und Kassenwart. Eine Welt, die aus der Mode gekommen ist. Aber wäre Stefan Klapproth auch dort glücklich geworden? Oder in einer anderen Fantasiewelt wie Western oder Star Trek? Stefan Klapproth: »Ich habe Star Trek geliebt. Vielleicht hätte ich auch dort mein Heil gefunden. Aber das Mittelalter passt wohl am besten zu mir. Vielleicht weil ich nie ohne Technologie ausgekommen bin.«
Sein Vater hat früher oft zu ihm gesagt: »Junge, du bist zu blöd, um einen Nagel in die Wand zu schlagen.« Sein Freund Robert, der ihm schon bei seinem ersten Ausflug ins Mittelalter half, ist gelernter Schlosser. Er zeigte dem Neuling, wie man Gürtelbeschläge hämmert, Taschen und Kleidung mit der Hand näht oder Borten webt. »Vor Kurzem habe ich die Lederverarbeitung für mich entdeckt«, schwärmt Klapproth.
Ferox Caterva orientieren sich an den Germanen des 8. Jahrhunderts. In der Mittelalterszene nennt man Leute wie sie Re-Enactors (Wiederaufführer), im Gegensatz zu Rollenspielern oder Hobbyrittern wollen sie »ihre Zeit« möglichst authentisch nachstellen. Ein Seil trennt ihr Lager von den Schaulustigen. Es hängt so niedrig, dass man es leicht überschreiten könnte. Aber die meisten Besucher bleiben davor stehen. Stefan Klapproth erinnert sich noch, dass sie einmal eine »super Gemüsesuppe mit Kartoffeln und Karotten« über dem Feuer gekocht haben. Vor dem Lager stand ein etwa 13-jähriges Mädchen neben seiner Mutter und sagte: »Schau mal, Mama, was die armen Leute essen müssen.«
Kein Problem. Das moderne Mittelalter ist tolerant gegenüber anderen Meinungen. Das muss es auch sein, denn die Szene ist auch ein Auffangbecken für Menschen, die nicht recht wissen, wo ihr Platz in der modernen Gesellschaft ist: Heilpraktikerinnen bieten »Rückführungen in ein früheres Leben« an, ein paar Kiffer in bunten Gewändern experimentieren mit Kräutern, Arbeitslose in Jeans mit Dolch und Multifunktionswerkzeug am Gürtel verdienen beim Aufbau der Arena etwas Geld. Der einfache Tischler wird für sein Handwerk bewundert, der mittelmäßige Sänger findet eine Bühne und der Hobbyhistoriker ein Publikum, das seinen Ausführungen über die mittelalterliche Verfassung lauscht. Und immer haben diese Feste etwas von Karneval.
»Als Wikinger hast du wenig Vorschriften«, sagt Michael Knaller, Veranstalter des Mittelaltermarktes Gaudium Equites Poingorum (Ritterspiele von Poing). »Da kannst du ruhig mal zu viel trinken, und niemand macht dir Vorwürfe. Ein Wikinger muss wild sein.« Das Klischee wird mit Lust zelebriert: Der Barde singt tatsächlich im Refrain »Hopsassa, fallera, lalalala« und fordert vom Publikum »Handgeklapper«. Der Kreuzritter spielt sich auf, der Barbar pöbelt und die Frau kann wahlweise Prinzessin oder Amazone sein. Die Rollen sind klar definiert und überschaubar, jeder darf sich seine aussuchen.
Benjamin Franke ist ein düsterer junger Mann mit unruhigen Augen, Vollbart und einer Vorliebe für schwarze Kleidung. Im echten Leben ist er arbeitslos. Auf den Mittelalterfesten aber wird er zum Heerführer Jean de Poullié, mit Helm, Rüstung und Schwert. Zu seiner Lagergruppe gehören Ritter und Bogenschützen. Wenn sie gemeinsam zwischen den Marktständen entlanggehen, machen Besucher respektvoll Platz, Kinder verstecken sich hinter ihren Eltern. Fragt man Benjamin Franke, als welche seiner beiden Persönlichkeiten er sich wohler fühle, antwortet er sofort: »Jean de Poullié«.
Nach den Festen fällt es dem 22-Jährigen schwer, zurück in die Gegenwart zu finden. Einmal hat ihn die Polizei verhaftet, weil er mit einer Streitaxt durch die Stadt gelaufen ist. Er sagt, er habe sie zum Schleifen bringen wollen. Hinter dem Visier eines Kreuzritters erkennt niemand den Postboten, kaum jemand weiß, dass der Barbarenfürst von Montag bis Freitag als Hausmeister an einer Schule arbeitet. Die Flucht in eine andere Identität ist zum Trend des 21. Jahrhunderts geworden. Überall. Am einfachsten geht das im Internet: Bei Myspace bastelt man sich ein neues Leben mit 300 Freunden, in Singlebörsen stellt man das Foto seines hübscheren jüngeren Bruders.
Jan-Dirk Müller sagt: »Der Wunsch nach einer zweiten Persönlichkeit grassiert. Doch im Gegensatz zu der virtuellen Welt ist das Mittelalter viel direkter.« Beim Freikampf in der Arena treten Hobbykämpfer mit stumpfen Schwertern gegeneinander an. Dabei werden sie manchmal auch noch von Pfeilen mit Gummispitzen beschossen. Wer getroffen wird, lässt sich fallen und gilt als tot. Der direkte Kampf mit dem Gegner, auch darin liegt ein Reiz. Einen Computer kann man jederzeit ausschalten, eine Horde stürmender Raubritter nicht.
Auch die Mittelalterszene hat ihre Probleme: Sie ist sich nicht grün. Die norddeutsche Wikingergruppe mag die bayrischen Kreuzritter nicht, die Re-Enactors lästern über die Stuntleute, weil die ihre Kleidung nicht mit der Hand genäht haben. Die Stuntleute machen sich über die Re-Enactors lustig, weil die ja keine Unterhosen tragen dürfen. Und ein sehr korrekter Barbar erwischt Stefan Klapproth dabei, wie er hinter seinem Zelt heimlich eine raucht, obwohl die Normannen doch eigentlich Nichtraucher waren.
Der Kulturhistoriker Jan-Dirk Müller meint, es gehe nicht darum, das Mittelalter als Lebensform zu entdecken. »Es hat doch viel mehr etwas mit unserer Eventkultur, mit Tourismus zu tun.« Ein rauchender Normanne sei ja ein deutliches Symbol der postmodernen Wahlfreiheit und damit ein Symbol unserer Zeit. Das große Streitthema der Szene heißt Authentizität, von den meisten Darstellern wegen der schwierigen Aussprache kurz »A-Wort« genannt. Wie mittelalterlich kann oder muss ein Mittelaltermarkt sein?
Michael Knaller, der die Gaudium Equites Poingorum veranstaltet, hat kein Verständnis dafür, wenn es jemand mit dem A-Wort zu eng sieht: »Man kann es damit auch übertreiben. Ich trage gern Gummisohlen an den Füßen und normale Unterhosen. Sonst müsste ich ja Schafe scheren und Wolle spinnen.«
Der Historiker Erwin Hoffmann hat seine Doktorarbeit über Mittelalterfeste in der Gegenwart geschrieben. Er glaubt, dass eine gemeinsame Zukunft der verschiedenen Mittelalterfans kaum möglich ist. »Die Re-Enactors möchten ungestört ihr Hobby ausleben, viele Besucher dagegen wollen Spektakel und Action sehen. Das sind zwei verschiedene Trends. Ich denke, dass sich die Szene spalten wird, in diejenigen, die Entertainment anbieten, und diejenigen, die versuchen, authentisches Mittelalter darzustellen.«
Stefan Klapproth sagt, es sei immer noch viel von dem alten Stefan da. »Natürlich sorge ich mich noch immer darum, wie ich mein Leben finanzieren kann. Aber wenn man merkt, dass es möglich ist, bei Minusgraden in Wolldecken draußen zu schlafen, hat man nicht mehr ganz so viele Ängste.«
Er hat aufgehört, zwei Schachteln Zigaretten am Tag zu rauchen, und deshalb ein wenig zugenommen. Kein Gedanke mehr an die 57 Kilo von einst. Nicht nur sein Lächeln ist breiter, auch die Haare und der Bart sind länger geworden. Im Januar hat er deshalb Ärger mit seinem Chef bekommen. Der wollte, dass er sich eine ordentliche Frisur zulegt, »wegen dem Kundenkontakt«. Da hat Stefan Klapproth den Anzugjob gekündigt.
»Ich versuche jetzt, mehr mit meiner Zeit zu machen«, sagt er. »Wenn ich so darüber nachdenke, dann ist es das erste Mal seit meiner Schulzeit, dass ich mich so entwickle, wie ich mir das wünsche.« Er ist in die Firma von Michael Knaller, dem Gaudium-Equites-Veranstalter, eingestiegen. Ins Mittelaltergeschäft. Kommenden Freitag beginnt das Fest in Poing. Und Stefan Klapproth wird dort sein, wo er hingehört.