Ich habe die Wehrmacht am D-Day besiegt, das Siegtor im Finale der Champions League erzielt und während der Französischen Revolution Napoleon getroffen. Doch rückblickend hätte ich lieber ein gutes Buch gelesen. So legte ich den Controller beiseite, ging müde ins Bett und fragte mich, was zwischen mir und der Konsole falsch gelaufen war.
Meine Konsole ist eine Xbox One, gekauft im Winter 2017 mit gleichermaßen Scham (»Du bist zu alt für so was«) und Vorfreude (»Geil, wieder zocken«). Als Kind hatte ich erst einen C64, dann einen Amiga 500, später Gameboy und Super NES – bis ich die Nächte lieber in Bars oder auf Tanzflächen verbrachte. Heute, mit Anfang 40, bin ich als Vater samstagabends eher zu Hause. Da kamen die Erinnerungen hoch – an diese Anziehungskraft, die Videospiele einst auf mich hatten. An das Glück, als ich beim tausendsten Versuch endlich mit Super Mario die Prinzessin befreite. Oder mit der Karatekämpferin Chun-Li die weltbesten Street Fighter verkloppte. Und als der Pirat Guybrush Threepwood in der Karibik auf dreiköpfige Affen traf.
Programmierer hätten alle Voraussetzungen, heute bessere Spiele denn je zu schaffen: Die Pixelfiguren eines Atari-Spiels der Achtzigerjahre wirken unfassbar grobschlächtig im Vergleich zum fotorealistischen Wilden Westen eines aktuellen Spielehits wie Red Dead Redemption 2, in dem jeder Grashalm der Prärie im Wind wankt; oder den kriegsmüden Gesichtern der US-Soldaten in Call of Duty: WWII; dem so lebensecht schlaksig übers Feld laufenden Thomas Müller in Fifa 18 und dem mit enormem Aufwand rekonstruierten Paris des Jahres 1789, in dem man sich in Assassin’s Creed Unity frei bewegen kann.
Ich staune, welche beeindruckenden Bilder Spieledesigner heute programmieren. Aber warum verliere ich so schnell die Lust, diese Welten zu erkunden? Und wo findet man in den Spielehits der vergangenen Jahre den Spielwitz, den Humor oder die liebevollen Dialoge von Day of the Tentacle, meinem Lieblingsspiel früher, in dem man mit drei schrulligen Teenagern und einer Zeitreisemaschine zwischen Zukunft und der Ära von George Washington hin und her reist? Warum sind so viele aktuelle Spiele nur die x-te Fortsetzung eines Uralt-Klassikers wie Super Mario oder Zelda?
Mit der Liebe zu alten Spielen bin ich nicht allein. Nintendo hat die Konsolen NES und Super NES neu aufgelegt – und mehr als acht Millionen Stück verkauft. Kürzlich erschien mit World of Warcraft Classic ein 15 Jahre alter Hit mit aktueller Grafik, aber altem Gameplay. Die Fans der Reihe hatten es sich so gewünscht. Im Deutschen Computerspielemuseum in Berlin stehen 14-Jährige begeistert an alten Konsolen und spielen Donkey Kong oder Tetris wie einst ihre Väter, erzählt Mascha Tobe, die Kuratorin des Museums. »Junge Videospieler haben ein erstaunliches Kanonbewusstsein«, sagt sie. Zum besten deutschen Computerspiel wurde 2019 Trüberbrook gewählt – eine Hommage an textlastige Adventurespiele der Neunziger.
Es gibt sogar ein eigenes Magazin für alte Spiele. Es heißt Retro Gamer, Jörg Langer ist der Chefredakteur der deutschen Ausgabe. Als ich ihn anrufe, ist er gerade in Japan, wo es eigene Geschäfte für alte Video-spielkonsolen gibt. Auf der Spielemesse Gamescom in Köln im August gab es wieder einen Retro-Games-Bereich zwischen all den hauswandgroßen Leinwänden, die neue Block-Buster-Spiele bewarben – deren Handlung wäre als Film mittelmäßig, als Roman schwach. Der berühmte japanische Spieleentwickler Hideo Kojima erzählte auf der Gamescom, dass in modernen Open-World-Spielen – also Spielen, in denen man sich praktisch unbegrenzt bewegen kann – eine gute Handlung kaum möglich sei. Spielefirmen wollen zeigen, was sie können, schaffen riesige Welten – stellen sich aber selbst ein Bein, weil der Spieler sich darin verliert. Alte Spiele dagegen mussten mit so wenig Speicherplatz auskommen, dass jedes Wort, jede Handlung, jeder Pixel wohlüberlegt war. Jörg Langer sieht die Faszination alter Spiele vor allem in dieser Einfachheit: Wo Prozessor und Grafikkarte wenig hergaben, musste eigene Vorstellungskraft mitspielen.
Als ich mich gerade so richtig schön bestätigt fühle, sagt Langer aber einen entlarvenden Satz. »Das schmutzige Geheimnis der Retro-Gaming-Szene ist doch: Man spielt die alten Klassiker höchstens mal kurz an, schwärmt vom Spielwitz – und macht sie bald wieder aus.« Auch Mascha Tobe vom Computerspielemuseum meint, man solle es mit der Nostalgie nicht übertreiben. Stimmt: Ich hatte vergessen, wie viel Schrott es auch früher gab.
Ich probiere bei einem Freund eine der erfolgreichen Retro-Konsolen aus, mit Spielen der Achtzigerjahre. Die Bedienung kommt mir holprig vor, der monotone Ton nervt, wir hören bald auf. Dass mir Videospiele keine Tür in eine Fantasiewelt mehr öffnen, liegt vielleicht gar nicht am heutigen Programmierer, sondern an mir. Jörg Langer sagt: »Der Satz, dass Videospiele früher besser waren, bedeutet eigentlich: Mein Leben war früher einfacher.«