»Vielleicht sehnen sich die Deutschen gerade ein bisschen mehr nach Theater«

Der Hysterie-Experte Stavros Mentzos über den Umgang mit Ängsten, psychische Ausnahmezustände und Mädchen auf Tokio-Hotel-Konzerten.

    SZ-Magazin: Herr Mentzos, zwei Wochen vor der Fußball-WM bitte Ihre Meinung zum Seelenzustand der Nation.

    Stavros Mentzos: Es wird jetzt ja viel von der Fußball-Hysterie gesprochen. Das heißt aber erst mal nur, dass alles, was mit der WM zu tun hat, als Dramatisierung empfunden wird.
    Auch als erzwungene Begeisterung? Um dieses begeisterte Verhalten abzuwerten, nennt man es hysterisch. Dabei ist »hysterisch« eigentlich ein Schimpfwort. Jeman-dem zu sagen »sei nicht so hysterisch« heißt eigentlich »sei nicht so emotional« und »sei nicht so unvernünftig«. Wissenschaftlich ist es aber falsch, bei Fußball von Hysterie zu sprechen. Hysterie kann man gar nicht künstlich erzeugen – höchstens eine Begeisterung, und die ist ja nicht schlecht. Auch wenn dahinter ein klares finanzielles Interesse der Veranstalter steht.
    Es scheint aber, als würde sich das Land in einem ständigen Zustand der Aufregung befinden: Feinstaub, Vogelgrippe, Terroranschläge. Sind die Deutschen eine hysterische Nation? Früher sagte man, dass die Italiener und Franzosen viel mehr Talent zur Hysterie hätten als die Deutschen, weil sie so gut dramatisieren konnten. Die Deutschen galten eher als zwanghaft und rigide. Ich halte aber Pauschalurteile über Nationen nicht für sinnvoll. Bei der Vogelgrippe muss man aufpassen. Ich würde die Reaktion als ganz normal bezeichnen, nicht als hysterisch. Es gibt hier eine klare Bedrohung, die Menschen sehen ihre Gesundheit in Gefahr. Das Gefühl der Angst sagt den Menschen: Achtung, hier ist etwas nicht in Ordnung. Also werden alle Kräfte mobilisiert, um mit dieser Angst fertig zu werden. Das ist erst mal etwas Natürliches und Positives.

    Den Eindruck hat man bei dem ständigen Alarmismus nicht. Medien nutzen Sensationelles, um hohe Einschaltquoten zu bekommen. Ein hysterischer Mechanismus, der irgendwann nicht mehr bewusst gesteuert werden kann. Deshalb aber die Reaktionen als hysterisch zu bezeichnen ist falsch. Es ist doch vielmehr so: Politiker nutzen den Begriff Hysterie, um Angst zu schüren.
    Das heißt, Hysterie lässt sich instrumentalisieren? Wenn man durch Fehlinformation eine Angst erzeugt, kann sie sich ausbreiten und einer Hysterie ähnliche Formen annehmen. Bestes Beispiel sind die Terrorwarnungen in Amerika. Indem die Bevölkerung in künstlicher Angst gehalten wird, ist sie manipulierbar. Politiker können so ihre Interessen durchsetzen. Denn Angst führt zu irrationalen Reaktionen, nicht weil viele Menschen plötzlich hysterisch sind, sondern weil viele Menschen die Angst loswerden wollen. Sie machen dann das, was die Politiker sagen. Die fatalen Folgen von Massenpsychosen sind seit dem Dritten Reich bekannt. Aber man darf Angst nicht mit Hysterie verwechseln. Hysterie ist viel zu gutartig.
    Wo kann man echte Hysterie erleben? Bei 13-Jährigen, die auf Tokio-Hotel-Konzerten umkippen.
    Ist das nicht einfach nur infantil, zu emotional und irrational? Der wichtige Punkt ist: Die Mädchen reagieren tatsächlich körperlich. Zu meiner Definition von Hysterie gehört immer ein innerer Konflikt, der unbewusst durch psychische oder körperliche Symptome gelöst wird. Die 13-Jährigen glauben, in den Menschen auf der Bühne verliebt zu sein, ohne dass diese Liebe erwidert wird.

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    Hysterie ist also immer das Ergebnis eines unbewussten Konflikts? Ja, wenn körperliche oder psychische Symptome zu erkennen sind. Zurück zum WM-Beispiel: Weder bei den Zuschauern noch beim Veranstalter oder bei den Sportlern kann ich unbewusste Konflikte erkennen. Durch den Sport lernen Menschen vielmehr mit Konflikten umzugehen und sie zu lösen. Es gibt drei Arten von Hysterie: die körperliche, die psychologische und dann noch eine hysterische Persönlichkeitsstruktur. Die Erste zeigt sich in körperlichen Symptomen. Menschen können plötzlich nicht mehr gehen, nichts mehr sehen oder nur noch flüstern.
    Sind hysterische Menschen nicht eher laut? Durch Hysterie erscheint das eigene Ego ein bisschen anders, als es eigentlich ist, nicht unbedingt lauter. Ein Beispiel: Ein türkisches Mädchen, das zwangsverheiratet werden soll, kommt mit einer Lähmungserscheinung ins Krankenhaus, aber medizinisch ist keine Ursache für die Erkrankung festzustellen. Sie steckt in einem Dilemma: Eigentlich möchte sie so leben wie ihre deutschen Klassenkameradinnen. Gleichzeitig möchte sie nicht ihre türkische Herkunft leugnen oder ihre Eltern verraten, indem sie sich weigert zu heiraten. Dieser innere Konflikt drückt sich indirekt in einer Lähmung aus: Das Mädchen reagiert hysterisch.
    Das heißt aber nicht, dass das Mädchen eigentlich noch laufen könnte, wenn sie nur wollte? Sie kann tatsächlich nicht mehr laufen. Hysterie ist eine unbewusste Inszenierung. Genau wie bei der zweiten Art von Hysterie, der psychologischen. Als die Großtante meiner Mutter erfuhr, dass einer ihrer Söhne ins Ausland gehen wollte, fiel sie in Ohnmacht. Das war keine echte Bewusstlosigkeit, aber auch keine Imitation eines Ohnmachtsanfalls, sondern ein psychischer Ausnahmezustand. Die dritte Art von Hysterie hat keine Symptome, sie zeigt sich nur im Charakter. Menschen mit hysterischen Persönlichkeitszügen sind oft exaltiert, labil und launisch.
    Klingt unsympathisch. Nein, das ist frei von einer Wertung zu verstehen. Durch übertriebenes, lautes Auftreten verhindert eine Person, dass andere erkennen, unter welchen Problemen sie leidet.
    Sie sprechen immer über Frauen. Neigen Frauen eher zu Hysterie als Männer? Auf keinen Fall. Es gibt genauso viel hysterische Männer wie hysterische Frauen. Trotzdem wird Hysterie viel häufiger bei Frauen diagnostiziert, vor allem von männlichen Ärzten und Psychologen, das ist statistisch nachgewiesen. Infantiles, labiles Verhalten entspricht dem stereotypen Bild, das Männer von Frauen haben. Außerdem reagieren Frauen auf äußere Reize empfindsamer als Männer. Das hatte einen evolutionären Vorteil und half auch beim Großziehen der Kinder. Inzwischen kann diese emotionale Begabung sogar von der Hirnforschung nachgewiesen werden. Hysterie wurde das erste Mal Ende des 19. Jahrhunderts von Freud an Frauen genauer untersucht. Diese Frauen waren unterdrückt von Männern, vor allem in ihrer Sexualität, und zeigten körperliche Symptome wie Lähmungen oder Sehstörungen. Das heißt nicht, dass Hysterie immer etwas mit Sexualität zu tun hat, Sexualität war damals eben der Herd für viele innere Konflikte. Freud war der Erste, der das erkannt hat.
    Ist Hysterie ansteckend? Ja, aber hysterische Epidemien setzen voraus, dass die Betreffenden das gleiche Problem oder unerfüllte Bedürfnis haben und dann mit hysterischen Symptomen reagieren. Vor ein paar Jahren gab es einen Fall in einem Dorf in der Nähe von Washington, da fielen während einer Theateraufführung zum Thema »Trennung und Abschied« in der Schule 35 Kinder um. Die Kinder kamen ins Krankenhaus, doch sie waren körperlich gesund. In einer Untersuchung wurden die 35 Kinder mit Mitschülern verglichen, die nicht zusammenge-brochen waren, und man stellte fest: Die 35 Kinder waren überdurchschnittlich oft in ihrem Leben mit Trennungen konfrontiert. Sie hatten einen inneren Konflikt. Als ein Kind aus Versehen stürzte, stürzten die andern auch. Die innere Spannung konnte durch die unbewusste Inszenierung des Umfallens gelöst werden.
    Wenn unser Umgang mit der Angst vor Terroranschlägen, der Vogelgrippe, aber auch das WM-Fieber nicht hysterisch sind – wie kommt es zu einem solch inflationären Gebrauch des Wortes? Vielleicht sehnen sich die Deutschen gerade ein bisschen mehr nach Theater. Aber der Eindruck, dass die Deutschen gerade besonders hysterisch sind, täuscht.

    Interview: Julia Decker

    Stavros Mentzos, 76, ist Neurologe, Psychiater und Psychoanalytiker. Als Professor war er über 20 Jahre Leiter der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik an der Universitätsklinik in Frankfurt am Main. Er ist Autor des Grundlagenwerks zum Thema Hysterie.