Heiligabend 1971: Die 17-jährige Juliane Koepcke und ihre Mutter fliegen von Lima in die peruanische Provinz, zur Forschungsstation, die die Eltern, beide promovierte Biologen, im Regenwald errichtet haben. Kurz vor dem Zielort Pucallpa steuern die Piloten der Fluggesellschaft LANSA das Flugzeug in eine Gewitterfront, wo es vom Blitz getroffen wird und in der Luft auseinanderbricht. Juliane Koepcke ist noch eine Zeit lang bei Bewusstsein, als sie zusammen mit ihrer Sitzbank der Erde entgegengestürzt, und wacht schließlich mit einer schweren Gehirnerschütterung und mehreren leichten Wunden auf dem Urwaldboden auf. Aufgrund des Lebens in der Forschungsstation der Eltern ist sie mit dem Urwald vertraut und verlässt die Unglücksstelle, um Hilfe zu suchen. Zehn Tage lang folgt sie mehreren Wasserläufen in Richtung Zivilisation, bevor sie von Waldarbeitern gefunden wird. Die Nachricht von ihrer Rettung macht sofort weltweit Schlagzeilen. Juliane Koepcke macht nach dem Unglück in Deutschland Abitur, studiert Biologie und ist inzwischen stellvertretende Leiterin der Zoologischen Staatssammlung München; auch die Forschungsstation der Eltern führt sie weiter. 1998 dreht der Regisseur Werner Herzog über ihren Absturz den Film »Schwingen der Hoffnung«, vor zwei Jahren veröffentlicht sie das Buch »Als ich vom Himmel fiel«. Sie hat geheiratet und heißt jetzt Juliane Diller.
Erst vor Kurzem ist mir klar geworden, wie ich die vergangenen 40 Jahre gelebt habe: umgeben von einem Panzer, der erst jetzt langsam bröckelt. Das begann direkt nach dem Absturz. Als ich auf dem Urwaldboden aufwachte, hatte sich eine Art Schutzschild um mich gebildet. Das Schreckliche, was ich gerade erlebt hatte, der Absturz aus 3000 Metern Höhe, kam gar nicht richtig an mich heran. Ich empfand keine großen Gefühle, keine Schmerzen, keine Angst. Das einzige Gefühl, das zu mir durchdrang, war Verzweiflung darüber, dass ich nun vollkommen allein war - und die Verzweiflung wuchs und wuchs, je länger ich im Regenwald unterwegs war. Anfangs war dieser Schutzschild ganz sicher überlebensnotwendig für mich, weil er mir ermöglichte, meine schwindenden Kräfte voll und ganz für mein Überleben einzusetzen. Aber dann war ich gerettet - und der Schutzschild blieb einfach da. Als mir mein Vater erzählte, dass er die Leiche meiner Mutter identifiziert habe, war definitiv klar, dass sie tot ist. Ich habe diese Nachricht einfach so hingenommen, ohne Gefühlsregung, und mich dabei über mich selbst gewundert. Intuitiv habe ich mich gegen alles Schreckliche abgeschottet und versucht, normal weiterzuleben. Vordergründig hat das auch geklappt. Mein Vater schickte mich bald nach dem Unglück nach Deutschland, ich wohnte bei meiner Tante in Kiel und ging dort aufs Gymnasium, wo mich alle tatsächlich ganz normal behandelt haben. Das fand ich sehr angenehm. Aber tief in mir drin spürte ich, dass etwas nicht in Ordnung war - weil ich nicht in der Lage war zu trauern.
Mein Vater war versteinert in seiner Trauer. Er behandelte mich nun anders als vorher und hielt Abstand zu mir. Vor dem Unglück hatten wir vieles gemeinsam gemacht, wir hatten Schach gespielt oder zusammen Musik gehört, aber nun ging ihm all das zu nahe, weil ich ihn immer an den Verlustseiner Frau, meiner Mutter, erinnerte. Dass da auf einmal diese Distanz zwischen uns war, habe ich als sehr schmerzlich empfunden. Später haben wir wieder zusammengefunden und über vieles geredet, auch über meine Mutter, aber nie über den Absturz, seinen Schmerz und meine eigenen Probleme. Inzwischen bedauere ich das sehr. Aber damals hatte ich selbst auch nicht das Bedürfnis, diese Dinge anzusprechen. So wie mein Vater hatte ich alles, was geschehen war, in mir verschlossen. Tagsüber ging es mir oft ganz gut, nachts sind dann die Erinnerungen gekommen. In den ersten Jahren nach dem Unglück hatte ich sehr oft zwei Albträume. Beim ersten hörte ich ein ungeheures Brausen, das Dröhnen der abstürzenden Maschine mischt sich mit den verzweifelten Schreien der Leute, die Dunkelheit in der Kabine wird von Blitzen durchzuckt, dann ist da das Gefühl des freien Falls, das ich im Traum als ein waagerechtes Dahinrasen an einer Wand empfunden habe, die ich aber nicht sehen konnte. Im zweiten Traum sehe ich meine Mutter auf der anderen Straßenseite oder irgendwo in der Ferne, ich bin überglücklich und möchte zu ihr rennen und rufen: Du lebst, alles ist wieder in Ordnung! In diesem Moment bin ich immer aufgewacht, und nichts war in Ordnung.
Etliche Jahre nach dem Unfall war ich bei den amerikanischen Missionaren zu Besuch, die mich nach meiner Rettung gepflegt hatten. Beim Abschied hat eine Frau mir einen Brief mitgegeben, mit der Aufforderung, ihn erst im Hotel zu lesen. Darin stand, dass ihr 16-jähriger Sohn ebenfalls beim Absturz der LANSA-Maschine gestorben war - ich erinnere mich sogar an ihn, weil ich am Schalter hinter ihm in der Schlange stand. Die Frau schrieb sehr ehrlich darüber, dass sie jahrelang mit ihrem Gott gehadert habe: Warum hast du mir meinen Sohn genommen, warum hat dieses Mädchen überlebt und nicht er? Dieser Brief hat mich unheimlich getroffen. Aber gleichzeitig habe ich die Frau vollkommen verstanden und begriffen, dass es vielen der Angehörigen so gegangen sein muss. Ich denke viel an die anderen Passagiere und habe ihnen und ihren Angehörigen gegenüber Schuldgefühle. Die Leute aus meinem Umfeld sagen dann, du spinnst doch, der Absturz war doch nicht deine Schuld. Aber das kann nur jemand verstehen, der selbst so etwas erlebt hat. Ich wurde auserwählt, den Absturz zu überleben, und das ist einerseits ein wahnsinniges Glück, etwas ganz Wundervolles, und gleichzeitig ist es manchmal fast ein Fluch, der einen belastet und der auch mit den Jahren nur ganz langsam vergeht.
So dauerte es fast zwanzig Jahre, bis ich zum ersten Mal wirklich um meine Mutter trauern konnte. In der Vorweihnachtszeit kam die Trauer aus heiterem Himmel über mich. Ich weinte einen ganzen Tag lang. Aber danach fühlte ich mich befreit. Es hätte mir sicher geholfen, wenn ich den Schmerz schon früher hätte rauslassen können. Aber es kam mir lange nicht in den Sinn, nach Wegen zu suchen, wie das gehen könnte.
Eines Abends im Jahr 1998 klingelte das Telefon, und Werner Herzog war dran. »Grüß Gott«, sagte er, »ich bin Filmregisseur und möchte einen Film über Ihr Schicksal drehen.« Seine Idee war, mit mir an die Absturzstelle im Dschungel zurückzukehren. Anfangs war ich zögerlich, weil ich nicht wusste, wie ich innerlich darauf reagieren würde. Aber mein Mann hat mir zugeraten. Er meinte, dass mir diese Konfrontation mit meiner Vergangenheit bei der Aufarbeitung der Ereignisse helfen könne - obwohl alles schon mehr als 25 Jahre zurücklag, war ich damit noch nicht besonders weit gekommen.
Die Wrackteile waren erstaunlich gut erhalten. Alles sah so aus, als wäre das Flugzeug erst vor wenigen Monaten abgestürzt. Unglaublich! Das hat mich erstaunt, aber es hat mich zuerst nicht berührt, denn ich trug wieder meinen Schutzpanzer und habe die Dinge nicht an mich herangelassen. Bis wir gegen Ende der Dreharbeiten das letzte und größte Wrackteil besuchten. Da lag ein großes Stück vom Bauch des Flugzeugs im Dschungel, und das Räderwerk ragte nach oben. Es sah aus wie ein gestorbenes Tier. Dieser Anblick hat mich sehr berührt: Er hat mir noch einmal die Endgültigkeit der Geschehnisse vor Augen geführt - dass alle Passagiere tot waren und ich als Einzige überlebt hatte. Als ich meine Geschichte beim Verfassen meines Buches weiter aufgearbeitet habe, ist mir klar geworden, dass der Besuch bei diesem Wrackteil ein Schlüsselerlebnis für mich war, weil er mir gezeigt hat, dass alles wirklich vorbei ist.
Ich habe lange dagegen gekämpft, dass mein Leben vom Absturz und den Erinnerungen daran geprägt sein würde. Inzwischen habe ich gelernt, dass ich diese Erinnerungen als Teil meines Lebens akzeptieren muss, so wie die Narben auf meinem Körper. Ich denke weiter jeden Tag an das Unglück. Es sind Gedankenblitze, die durch meinen Kopf schwirren, ausgelöst durch Gerüche, Geräusche, Farben, Stimmungen oder ein Wort, das einer sagt. Plötzlich ist die Erinnerung an die Vögel wieder da, deren Rufe ich bei meiner Wanderung durch den Dschungel gehört habe. Oder an das Geräusch der am Himmel kreisenden Suchflugzeuge. Oder an die letzten Momente, in denen ich meine Mutter gesehen habe, auf dem Platz neben mir in der Maschine. Diese Geschichte ist immer bei mir. Jetzt aber ohne den Schrecken, den sie lange hatte.
So habe ich nun die Kraft, auch noch ein weiteres Mal die Absturzstelle zu besuchen, das ist ein Wunsch, den ich in den nächsten Jahren verwirklichen will. Inzwischen kommt man etwas leichter hin, in der Nähe gibt es nämlich eine neue Siedlung, die ich unbedingt kennenlernen möchte. Die Menschen haben ihrem Ort den Namen »Santa Juliana« gegeben - »Heilige Juliane«.
Der 17-jährige George Lamson Jr. sitzt neben seinem Vater, als der Flug Galaxy 203 am 21. Januar 1985 nachts um eins in Reno abhebt, auf dem Weg nach Minneapolis. Kurz nach dem Start beginnt die Maschine zu vibrieren, und die Piloten beschließen, zum Flughafen Reno zurückzukehren. Bei diesem Manöver stürzt das mit 71 Personen besetzte Flugzeug aus geringer Höhe ab. George Lamson wird aus dem Wrack geschleudert und landet auf einer Straße, nur leicht verletzt und noch in seinem Sitz festgeschnallt. Neben Lamson überleben zunächst auch sein Vater und ein weiterer Passagier den Absturz, beide sterben jedoch nach wenigen Tagen. Lamson zog vor einigen Jahren nach Reno und wohnt inzwischen in der Nähe der Absturzstelle. Er arbeitet als Poker-Dealer in einem Spielcasino.
Hast du ein Glück gehabt«, haben viele Leute nach dem Absturz zu mir gesagt. »Du musst der größte Glückspilz der Welt sein!« Es war nett gemeint und irgendwie stimmte es auch, ich hatte ja wirklich diese schreckliche Tragödie überlebt. Aber diese Leute haben nicht gewusst, was ich wirklich fühle. In mir war kein Glück, in mir waren nur ein großer Schmerz, weil mein Vater und all die anderen Menschen gestorben waren, und große Schuldgefühle. So viele Leute an Bord dieser Maschine standen mitten im Leben und hatten Familien, die sie versorgen mussten – und ausgerechnet ich, ein 17-jähriger Junge, werde herausgeschleudert und überlebe. Warum ich?, habe ich mich gefragt. Ich bin es doch gar nicht wert.
In meiner näheren Umgebung gab es einige Personen, die das Ganze als Wunder betrachtet haben. Gott hat dich verschont, hieß es, nun erwartet er große Dinge von dir. Auf einmal trug ich eine unglaubliche Last auf meinen Schultern. Ich fühlte mich Gott und den verstorbenen Passagieren verpflichtet, mein Leben so gut wie möglich zu leben und damit zu beweisen, dass ich es verdient hatte, den Absturz zu überleben. Aber das gelang mir nicht. Nichts von dem, was ich beruflich oder privat tat, war gut genug, um diesen Beweis zu erbringen, sodass meine Schuldgefühle und Selbstvorwürfe immer stärker wurden.
Einige Monate nach dem Absturz kam ich in psychologische Behandlung, die ich aber nach kurzer Zeit wieder abgebrochen habe. Ich schaffe das schon alleine, habe ich mir gesagt und versucht, den Schmerz ganz hinten in meinem Gehirn zu verstecken. Um mich abzulenken, bin ich eine Zeit lang wie wild mit meinem Auto herumgerast, bis ich einen schweren Unfall gebaut habe. Es klingt verrückt, aber wenn man schon einen Flugzeugabsturz durchgestanden hat, fühlt man sich auf gewisse Weise unverwundbar. Letztlich konnte ich den Schmerz aber nicht verdrängen. Er kam immer wieder zurück.
Ich habe dann sieben Jahre lang als Taxifahrer gearbeitet. Da trifft man oft Menschen, denen es gerade nicht so gut geht. Während ich sie gefahren habe, haben wir über ihre Probleme geredet. Irgendwann wurde mir klar, dass das auch für mich eine Art Therapie ist, weil ich so erfahren habe, wie andere Leute mit ihren Schwierigkeiten fertigwerden, und einiges davon auf mein eigenes Leben anwenden konnte. Auch die Geburt meiner Tochter Hannah im Jahr 1995 war sehr wichtig für mich. Wenn man ein Kind großzieht, lernt man viel über sich selbst, und mir wurde klar, dass ich endlich etwas gegen diese Last tun musste, die ich mit mir herumschleppte.
Ich habe versucht, mit anderen Personen Kontakt aufzunehmen, die dasselbe erlebt haben wie ich. 2007 habe ich eine Weile mit Cecelia Cichan korrespondiert, die als Vierjährige einen Crash überlebt hatte. Durch meine Beteiligung an dem Film Sole Survivor habe ich auch Bahia Bakari kennengelernt, ein französisches Mädchen, das als Zwölfjährige einen Flugzeugabsturz im Indischen Ozean überlebt und dabei seine Mutter verloren hatte. Neun Stunden hat sie sich an Wrackteilen festgeklammert, bis man sie aus dem Wasser gezogen hat. Meine Tochter und ich haben sie fünf Tage lang in Frankreich besucht. Sie und ihren Vater zu treffen war eine sehr schöne, bewegende Erfahrung. Trotz des Altersunterschieds von fast dreißig Jahren gab es gleich eine Verbindung zwischen uns. Bahia hat gemerkt, dass ich genau weiß, wie sie sich fühlt, und sich daraufhin ziemlich geöffnet. Sie ist ein tolles Mädchen. Ich hoffe für sie, dass sie nicht mit ähnlichen Erwartungen überfrachtet wird wie ich damals.
Als Sole Survivor fertig war, gab es eine Vorpremiere in Minneapolis, zu der die Angehörigen der Opfer von Flug 203 eingeladen wurden. Mehr als 700 Menschen waren im Kino, die meisten davon hatten bei dem Unglück Freunde oder Verwandte verloren. Ich hatte Angst, diesen Leuten gegenüberzutreten, denn ich war seit Jahrzehnten in der Vorstellung verhaftet, dass mich die Angehörigen ablehnen, weil sie der Meinung sind, statt mir hätte jemand anderes das Unglück überleben sollen. Aber als ich nach Ende des Films nach vorne ging, sprang das ganze Kino auf und applaudierte. Ein Mann rief über den ganzen Lärm hinweg: »George, niemand hat es dir je übel genommen, dass du überlebt hast!« Als ich das hörte, bin ich fast umgekippt. Ich habe danach mit vielen Angehörigen gesprochen, wir haben zusammen geweint und unseren Schmerz geteilt. Und alle haben gesagt, dass es für sie inmitten dieser furchtbaren Tragödie nur einen einzigen positiven Aspekt gegeben habe: die Tatsache, dass wenigstens einer das Unglück überlebt hat. Als ich das hörte, ist die Last, die ich all die Jahre mit mir herumgetragen habe, endlich von mir gefallen.
An den Crash zu denken ist immer noch sehr schmerzhaft für mich. Ich trauere um meinen Vater und all die anderen Menschen, die gestorben sind. Mein Mitgefühl gilt auch den Leuten, die Zeugen des Absturzes wurden, und jenen, die das Wrack und die Leichen bergen mussten. Aber die Angst und die Schuldgefühle, die mich lange geplagt hatten, sind verschwunden. Es ist vielleicht ein bisschen traurig, dass ich dafür 28 Jahre gebraucht habe. Aber letztlich bin ich froh, dass ich überhaupt so weit gekommen bin.
»America’s Miracle Child« wird Cecelia Cichan genannt, seit sie am 16. August 1987 im Alter von vier Jahren den Absturz des Northwest-Airlines-Fluges 255 nahe Detroit überlebt hat. 154 Personen kommen bei der Katastrophe ums Leben, darunter ihre Eltern und ihr sechsjähriger Bruder. Nach dem Unglück werden Tausende von Teddybären und andere Spielsachen in das Krankenhaus geschickt, in dem Cecelia liegt. Sie wächst bei ihrer Tante und ihrem Onkel auf, die sie vor dem Interesse der Medien in Schutz nehmen und sämtliche Anfragen von ihr fernhalten. Cecelia Cichan studierte Kunsttherapie, ist verheiratet und lebt heute in New York.
Ich denke jeden Tag an den Unfall. Das geht auch gar nicht anders. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich auf meiner Stirn eine Narbe, die vom Absturz stammt. An den Armen und Beinen habe ich weitere Narben, und meine Hand sieht anders aus als bei den meisten Leuten. Der Absturz ist also ein Teil von mir, da komm ich nicht drumrum. Aber inzwischen stört mich das nicht mehr so sehr.
Vor ein paar Jahren habe ich mir die Umrisse eines Flugzeugs aufs Handgelenk tätowieren lassen. Ich wollte ein Tattoo, das nicht zu abstrakt ist, aber auch nicht zu deutlich, so wie es ein Schriftzug »In liebevollem Gedenken an …« wäre. Neben den ganzen Narben ist das eine weitere Erinnerung daran, woher ich komme. Die Narben habe ich gegen meinen Willen bekommen, für dieses Tattoo habe ich mich selbst entschieden.
An den eigentlichen Absturz habe ich keine Erinnerung. Ich weiß nur noch, wie ich in meinem Sessel sitze und wo im Flugzeug er war. Ich erinnere mich auch noch daran, wie die Maschine zur Startbahn gerollt ist. Alles danach hat mein Gehirn ausgeblendet. Meine Erinnerung setzt erst wieder ein, als ich im Krankenhaus aufwache.
John Thiede ist ein Feuerwehrmann, der in der Nacht des Absturzes an der Unglücksstelle im Einsatz war. Vor etlichen Jahren hat er mich angemailt und gesagt, er habe mich gerettet. Das haben andere auch schon gesagt, da waren so viele Leute im Einsatz, es schien einen kleinen Wettbewerb zu geben. John bemüht sich jedenfalls sehr, in meinem Leben präsent zu sein. Er war bei meiner Hochzeit, und wir kommunizieren sehr viel online. Ich möchte auch deshalb mit ihm im Kontakt bleiben, weil er für mich ein Bindeglied zwischen der Zeit vor und nach dem Absturz ist. Ich habe diese Erinnerungslücke – John weiß viele Dinge, die ich nicht weiß. Ich habe ihn einmal gefragt, wie eigentlich die Leiche meiner Mutter aussah, als sie gefunden wurde. Er wollte es mir nicht sagen: Das wäre wahrscheinlich zu traumatisch für mich.
Ich habe ein paar Erinnerungen an meine Eltern. Ich weiß zum Beispiel noch, wie ich mit meiner Mutter im Auto saß, als der Song Broken Wings im Radio kam. Ich habe sie gefragt, worum es in dem Lied geht. Sie sagte: »Da geht’s um einen Vogel, der sich die Flügel gebrochen hat.« Tatsächlich geht es in dem Song natürlich um Liebe, aber das hätte ich noch nicht verstanden, ich war ja erst drei. »Ging es dem Vogel dann wieder besser?«, habe ich gefragt. »Ja, es ging ihm besser«, hat sie geantwortet. Dass ich diese Erinnerung habe, wie meine Mutter von einem Vogel spricht, der wieder zu fliegen lernt, ist unheimlich wichtig für mich – das ist für mich ja das Thema des Absturzes.
Ich weiß nicht mehr, wann genau mir klar wurde, dass ich die einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes bin – irgendwann in den ersten Jahren der High School. Es war auf jeden Fall zu einer Zeit, in der die meisten Jugendlichen sowieso ein bisschen verwirrt sind. Und diese Sache hat mich noch zusätzlich gestresst. Ich erinnere mich an Wut und Schuldgefühle. Warum ich? Warum hat mein Bruder nicht überlebt? Und die anderen? Meine Teenagerzeit war hart. Ich habe eine rebellische Phase durchgemacht, in der mir alles egal war. Sie dauerte fast die ganze High-School-Zeit. Fast schon seltsam, wie sehr ich mich seitdem weiterentwickelt habe.
Per Mail und Facebook habe ich mit einigen Menschen Kontakt, die beim Absturz von Flug 255 Angehörige verloren haben, aber dieser Kontakt ist nicht intensiv. Ich war auch noch nie bei der Gedenkveranstaltung am Tag des Absturzes, die jedes Jahr von Angehörigen organisiert wird. Ich spüre, dass ich dazugehöre, aber ich habe Angst, zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, wenn ich dort hingehe. Meine Familie hat sehr viel Aufwand betrieben, um mir meine Privatsphäre zu erhalten, die Angehörigen verstehen das. Von Anfang an war meine Familie sehr vorsichtig, was Kontakt zu den Medien angeht. Ihnen war bewusst, dass vieles schiefgehen kann, wenn jemand zu viel Aufmerksamkeit bekommt, dass man sich dann manchmal für den Allergrößten hält. Stattdessen bin ich ganz normal aufgewachsen, ohne im Rampenlicht zu stehen. Der Schutz meiner Privatsphäre war und ist meiner Meinung nach die Voraussetzung dafür, dass ich meine geistige Gesundheit bewahrt habe.
Ich habe von anderen Menschen gelesen, die als Einzige einen Flugzeugabsturz überlebten. Zum Beispiel von einer Frau, deren Flugzeug über dem Urwald abstürzte und die sich dann noch tagelang durch den Wald gekämpft hat. Wenn ich so etwas lese, fühle ich mich fast minderwertig – ich habe schließlich gar nichts getan und bin einfach im Krankenhaus aufgewacht. Wobei es natürlich eine gute Sache ist, dass mein Gehirn den Absturz ausgeblendet hat, weil ich dadurch weniger traumatisiert bin. Manchmal träume ich von Flugzeugabstürzen, aber ich bin immer nur Zuschauerin, niemals an Bord. Ich habe bis heute keine Angst vor dem Fliegen. Wenn mir schon einmal etwas Schlimmes an Bord eines Flugzeugs passiert ist, wird so etwas nicht noch mal geschehen, denke ich mir.
Ich bin bei einer Organisation namens ACCESS engagiert, das heißt »Air Craft Casualty Emotional Support Services«. Da wird man als Trauerbegleiter ausgebildet, um Menschen zu helfen, die in ein Flugzeugunglück verwickelt waren; die Idee ist, dass Menschen zusammengebracht werden, die genau das Gleiche durchgemacht haben, aber es passiert einfach extrem selten, dass nur ein Mensch einen Absturz überlebt, deswegen bin ich noch nie eingesetzt worden, obwohl ich schon einige Jahre dabei bin. Ich würde gerne helfen, aber irgendwie ist es auch eine gute Sache, dass niemand meine Hilfe braucht.
Am 11. Februar 2014 startet eine Passagiermaschine der algerischen Luftwaffe in der Oasenstadt Tamanrasset im Süden des Landes auf dem Weg in die algerische Metropole Constantine, an Bord sind Soldaten und ihre Angehörigen. Kurz vor der Landung gerät das Flugzeug in eine Schlechtwetterfront und prallt gegen den Berg Djebel Fertas. Als die Rettungsmannschaften die entlegene Absturzstelle erreichen, finden sie die Leichen von 77 Passagieren und Besatzungsmitgliedern – und einen Überlebenden, den 21-jährigen Unteroffizier Djeloul Nemir, der bewusstlos in der Nähe des Wracks liegt. Der algerische Präsident Abd al-Aziz Bouteflika ordnet nach dem Absturz eine dreitägige Staatstrauer an, Nemir wird ins Militärkrankenhaus in Constantine gebracht. Zwei Monate liegt er mit schweren Kopfverletzungen im Koma. Ende Juli darf er das Krankenhaus verlassen, er lebt nun wieder bei seiner Familie in der Provinz Chlef im Nordwesten Algeriens. Von Nemirs Angehörigen war niemand mitgeflogen.
Es war der erste Flug meines Lebens. Ich saß auf einem Gangplatz ungefähr auf Höhe der Tragflächen. Als wir in Tamanrasset starteten, war das Wetter schön. Im Norden Algeriens gerieten wir aber plötzlich in heftige Turbulenzen, und dann ging alles sehr schnell. Mit einem lauten Knall schlug das Flugzeug auf dem Boden auf. Plötzlich war da ein Loch in der Kabinenwand. Ich kletterte hinaus und rannte weg. Ich war aber noch nicht weit gekommen, vielleicht zwanzig Meter, als hinter mir die Maschine explodierte. Ich kann mich an nichts erinnern, was danach passierte.
Inzwischen habe ich rekonstruiert, wie es mit mir weiterging: Durch die Explosion wurde ich mit dem Kopf gegen einen Felsen geschleudert und verlor das Bewusstsein. Retter fanden mich und brachten mich ins Krankenhaus. Ich weiß, dass vierzig Millionen Algerier für mich gebetet haben. Meine Eltern reisten aus unserem Heimatdorf an, sogar General Gaid Salah, der Oberbefehlshaber der algerischen Armee, stand an meinem Krankenbett. Zwei Monate lang lag ich im Koma, dann gelang es den Ärzten, mich zurückzuholen. Einen weiteren Monat dauerte es, bis ich wieder sprechen konnte. Im Krankenhaus erfuhr ich auch, dass keiner außer mir den Absturz überlebt hatte.
Was mir geschah, ist ein Wunder. Ich glaube daran, dass das Schicksal jedes Menschen vorbestimmt ist. Mein Schicksal war es, das Unglück zu überleben – das Schicksal der anderen im Flugzeug war es zu sterben. Warum Gott so entschieden hat, kann ich nicht erklären, aber ich danke Gott dafür, dass ich überlebt habe, und ich danke allen, die für mich gebetet haben. Ich denke viel an meine verstorbenen Kameraden – für mich sind sie Märtyrer, auch wenn ich nicht sagen kann, welchen Sinn ihr Tod gehabt hat.
Anfangs träumte ich vom Absturz, aber diese Albträume sind schon seit einiger Zeit nicht mehr wiedergekommen. Ich habe keine Schmerzen und brauche auch keine Medizin mehr. An meinem linken Schienbein ist momentan allerdings noch eine Metallschiene verschraubt. Ich kann nur mit Krücken laufen und muss sicher, wenn die Schiene entfernt worden ist, auch noch Muskelaufbau machen, um wieder auf die Beine zu kommen. Ich werde mich jetzt einen Monat bei meinen Eltern ausruhen und dann mal weitersehen. Unsere Familie ist arm, meine drei Brüder sind alle arbeitslos, mein Vater arbeitet auch nicht mehr. Ich hoffe, dass ich bald meine Kräfte zurückerlange, denn ich möchte gern wieder Soldat werden und weiter meine Pflicht erfüllen. Aber wenn mich die Armee wegen meiner Verletzungen nicht mehr brauchen kann, werde ich niemandem einen Vorwurf machen.
(Fotos: dpa, Julia Rotter; Ky Dickens; Said Chitour)