Ich muss mich ein bisschen betrinken, während ich das schreibe, sonst kann ich diese Geschichte kaum ertragen: Ich wusste nicht, dass man mit jemandem, der dreißig Jahre lang der beste Freund war, Schluss machen kann. Aber man kann. Ich denke an ihn wie an eine große, vergangene Liebe. Wir sehen uns ab und zu wieder, wir sind ja keine Kinder mehr. Er erzählt, ich erzähle, dann gehen wir auseinander. Es ist nett. Es ist entsetzlich. Aber wenigstens erschüttert es mich nicht mehr. Ich will seinen Namen nicht sagen und nicht seinen Beruf. Er wird sich erkennen, aber wenigstens sollen das andere nicht tun.
Wir hatten eine eigene Sprache, sie ist schwer zu beschreiben. Wir sagten zum Beispiel nicht: großartig, sondern grousardig, mit englischem R. Wir gaben einander Kosenamen, wir gingen auf dieselbe Schule, da stritten wir uns schon – und vertrugen uns tränenreich. Er wechselte mir zuliebe die Klasse. Als ein Lehrer uns wegen anhaltenden Schwätzens auseinandersetzte, hielt er ein Schild in meine Richtung: »I reached for you but you were gone«, hatte er geschrieben. Eine Zeile von Leonard Cohen, den liebten wir beide. Die Malerei brachte er mir nahe, Klavierkonzerte von Schostakowitsch, das Theater, die Poesie. Er schenkte mir Gedichte von Karl Krolow, den kannte schon damals kaum einer. Er war klüger als ich. Er konnte so komisch sein, dass ich bei einer Bergwanderung kurz vor dem Gipfel umkehren musste, weil ich mir in die Hose gemacht hatte vor Lachen, da hatte auch das Beinekreuzen nichts mehr genutzt: Er hatte auf einer imaginären Gitarre gespielt und dazu aus dem Stegreif Zweizeiler gesungen über Leute, die wir beide kannten.
Dann studierten wir sogar zusammen, stritten uns auch da, vertrugen uns wieder, das war immer die Gewissheit. Wir zogen in verschiedene Städte, telefonierten viel, besuchten einander, rauchten und tranken bis drei Uhr nachts. Alka-Seltzer lagen immer griffbereit auf dem Tisch. Wir machten Quatsch, kauften an der Tankstelle zwei Piccolos und fuhren, da wohnte er in der Nähe von Heidelberg, zum Haus, in dem Steffi Graf aufgewachsen war, und prosteten uns davor zu. Bis heute kenne ich niemand anderen, der so spannend eine Stunde darüber erzählen kann, wie er nach einem Umzug neue Bodenleisten angebracht hat. Wir waren nie ein Paar. Er ist nicht der Vater meiner Tochter, aber er bezeichnet sich als ihren »geistigen Vater« – ich habe nie ganz begriffen, warum. Aber es war mir egal, ich fand das gut. Meine Tochter auch. Immer noch, trotz allem.
Irgendwann ging mir sein Pathos auf die Nerven, ihm mein Pragmatismus, dann verstanden wir nicht mehr, wie der andere auf die Welt sah. Aber wir gestanden uns das viele Jahre nicht ein. Heute weiß ich, wir haben Freundschaft da nur noch gespielt. Unsere Leben waren auseinandergedriftet. Das Ende ging so: Er erzählte, dass er einem Freund, der nur noch wenige Monate zu leben und um ein letztes Wiedersehen gebeten hatte, das Wiedersehen verweigert hatte, mit einer Begründung, so lächerlich in meinen Augen, dass ich sie in meiner Wut vergessen habe. Da schrie ich ihn an: »Ich verachte dich!« Das wars. Ich bin sicher, er würde unsere Geschichte ganz anders erzählen.