Warum man auch zu Freunden »Ich liebe dich« sagen sollte

Als Kind und Teenager hat man seine Freunde abgöttisch verehrt und es ihnen auch gezeigt. Doch irgendwann ging man dazu über, tiefe Gefühle nur noch in Beziehungen zu äußern. Ein Fehler.

Illustration: Lorraine Sorlet

Meine Cousine liebt und wird geliebt. Und das in aller Öffentlichkeit. Jeden Tag schreiben sie und ihre Freundinnen auf Instagram, wie sehr sie einander zugetan sind:
I love u!!!
Ich liebe Dich.
Lieb Dich!
Luv Ya …

Sätze wie diese posten sie unter ihren Fotos und teilen sie in ihren Stories, einer Abfolge von Fotos und Videos, die nach 24 Stunden wieder verschwindet. Jeden Tag aufs Neue pflegen ein paar Schulmädchen aus der Mitte Deutschlands ihren digitalen Liebeskreislauf. Und das für alle sichtbar. Man könnte das für oberflächlich halten. Aber als ich so alt war wie sie, nämlich zwölf, und es noch kein Instagram gab, probierten meine Freundinnen und ich das Ich-liebe-dich- Sagen genauso an uns aus. Vielleicht habe ich nie wieder so viele Menschen gleichzeitig so freigiebig geliebt wie meine Freundinnen zu Schulzeiten.

Natürlich waren auch diese Beziehungen - wie jede spätere Liebesbeziehung - nicht frei von Eifersucht, Betrug und nicht gehaltenen Versprechen. Ich glaube, die vielen Liebdichs und HDGDLs, mit denen wir damals die Zettelchen unterschrieben, die von Hand zu Hand und von Tisch zu Tisch gereicht wurden, waren für uns ein Testlauf für das »Ich liebe dich«, das wir eines Tages zu dem Jungen in der gelben Helly-Hansen-Jacke sagen wollten oder zu dem Mädchen mit den vielen Sommersprossen auf den Schultern.

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Mit der Zeit verschwand die freundschaftliche Liebeserklärung aus meinem Leben. So wie die Zahnspangen und durchtelefonierten Nächte. Statt breit zu streuen konzentrierten wir unsere Zuneigung nun auf die Menschen für die ersten Male, für das erste Mal Sex und das erste romantische »Ich liebe dich«, das ich nur mit zusammengekniffenem Herzen über die Lippen brachte, in der Hoffnung, dass der andere es zurücksagte. Weil ich mir von ihm eben viel mehr wünschte als Freundschaft - die für mich inzwischen eine Beziehung zweiter Klasse geworden war. Dabei sind Freundschaften vielleicht nicht die großen, aber die großartigeren Liebesbeziehungen: Manchmal halten sie eine Ewigkeit, sie leben von Großzügigkeit, weil kein gemeinsamer Alltag an ihnen nagt, sie müssen nicht dem Druck einer schwindenden körperlichen Anziehungskraft standhalten, und in Zeiten, in denen der häufigste Haushaltstyp in Deutschland die Singlewohnung ist, kommt ihnen eine neue Bedeutung zu - als Familienersatz. Freund und Freundin, im Deutschen unterscheiden wir nicht mal sprachlich.

Dass ein Leben ohne Liebe kaum auszuhalten, aber ein Leben ohne Freundschaft schier unmöglich ist, beschreiben auch zwei der besten Erzählungen der vergangenen Jahre: die vierbändige neapolitanische Saga von Elena Ferrante und Ein wenig Leben von Hanya Yanagihara. Sie handeln davon, wie die Liebe unter Freunden alle Partner, Drogen, Partys, Tode, Erfolge und Traumata überdauert - solange man nicht aufhört, sich einzumischen.

Denn im Grunde ist das Ich-liebe-dich-Sagen ja eine Zumutung. Wer »Ich liebe dich« sagt, hat Erwartungen. Wer »Ich liebe dich« sagt, darf sich nicht davor fürchten, dass der andere mit »Ich brauche dich« antwortet. Und vielleicht haben meine Freundinnen und ich deshalb irgendwann aufgehört, uns dieses Geständnis zu machen: weil wir auf einmal etwas anderes zu tun hatten, als füreinander da zu sein - erwachsen zu werden.

Das wäre geschafft. Zeit, die Zwölfjährige in uns wiederzuentdecken und uns einander neu zu vergewissern. So wie meine Freundin Anna, die mir gerade an dem Samstag, an dem dieser Text entsteht, zuvorkommt und schreibt: »Wir machen 'nen Salsa-Kurs, und ich tanz dann auch mit dir. Love u!« Wir werden uns erst in ein paar Wochen wiedersehen, deshalb auf diesem Wege: Ich dich auch!