»Hast du vielleicht was Süßes? Ich kipp gleich um.« – Meine Cousine Manu hatte vor drei Monaten ihr Kind bekommen, inzwischen war sie auf Besuchstour und so stand sie neulich Nachmittag, als ich gerade meinen Nach-der-Nachtschicht-Schlaf beendet hatte, vor meiner Tür, mit ihrer Wickeltasche, dem friedlich schlummernden Kilian und einem Unterzucker, der sofortiges Handeln erforderte.
»Du hast die Wahl zwischen Merci Finest Selection 250g, Merci Helle Vielfalt und Merci Große Vielfalt 400g«, sagte ich auf dem Weg in die Küche. Ich hielt drei Packungen hoch, Manu zeigte auf die Größte. »Das ist ja krass, kriegt ihr echt so viel geschenkt?«, fragte sie mampfend beim Übergang von den lilanen zu den grünen Riegeln. »Tatsächlich oft Merci, meistens sind es doch eher Karten«. – »Oh weh. Wir haben für den Kilian immer noch keine verschickt. Hast du vielleicht ein paar da? Dann könnte ich mich etwas inspirieren lassen.«
Den Rest des Nachmittags verbrachten wir auf meinem Bett, vor uns die Schuhschachtel mit Dankeskarten, die mir Eltern nach der Geburt ihres Kindes geschickt hatten. Wir verglichen Textbausteine, Schriftarten, Art der Babyfotografie sowie abgefahrene Vornamen, die wegen der Ochsenknechtschen Reihung, über die ich hier schon mal geschrieben habe, in manchen Fällen so lang waren, dass der Zeilenumbruch und das Layout ruiniert waren. Sollte man sich auch überlegen, bevor man sein Kind Jeremy Pascal Klaus Ernst Schulte-Brandmüller nennt. Unbedarfte Leser könnten auch meinen, es wäre nicht ein Baby, sondern zwei geboren worden.
Dankeskarten sind ein bisschen wie die Ballons mit Grüßen für das Brautpaar, die man bei Hochzeiten steigen lässt: Eigentlich rechne ich nicht mehr mit ihrem Eintreffen. Meine Arbeit ging schließlich nicht weit über den Startschuss des Lebenslaufs dieser kleinen Menschen hinaus. Und bei durchschnittlich fünf Geburten pro Tag in unserem Krankenhaus erinnere ich mich nicht an jede genau.
Umso mehr freue ich mich dann, wenn uns zwei, drei Monate später eine Karte erreicht, und ich sehe, dass aus den zerknitterten roten Bohnen längst supersüße Michelin-Männchen und -Weibchen geworben sind. Auch wenn ich nie verstehen werde, warum Babyfotografen die Säuglinge unbedingt in künstliche Nester, mit Fellen ausgelegte Krippen und Körbe mit grobmaschigen Strickschals legen wollen. Den Kopf gestützt auf die eigenen Hände oder Unterarme, ein Stirnband mit XXL-Schmetterling um den Glanzkopf. Es muss ja keine volle Windel mit drauf, aber doch ein bisschen weniger Anne Geddes und etwas mehr Realismus wären mal eine gelungene Abwechslung.
Mir fiel die Karte von Frau S. in die Hände. »Das ist eine meiner Liebsten«, erklärte ich Manu. Frau S. hatte unter dem HELLP-Syndrom und einer schweren Präeklampsie gelitten, das sind seltene, aber sehr schwerwiegende Schwangerschaftserkrankungen. Die Symptome – hoher Blutdruck, extreme Wassereinlagerungen, Funktionsstörung wichtiger Organe sowie der Blutgerinnung – können lebensbedrohlich für die Mutter und dadurch auch für das Kind werden. Ist die Frau jenseits der 34. Schwangerschaftswoche wird oft die Geburt eingeleitet, so auch bei Frau S., die in der 36. Woche war.
Nie hatte ich mich bei einer Geburt so hilflos gefühlt: Wegen der Blutgerinnungsstörung durfte sie keine PDA und wegen der Frühgeburt auch kein anderes Schmerzmittel bekommen, also keines, das wirklich Erleichterung verschafft. Zudem sind eingeleitete Geburten per se oft schmerzhafter als natürliche. In die Wanne konnte Frau S. auch nicht, da sie durch die Erkrankung stark geschwächt war. Ich konnte also so gut wie nichts tun, um ihr die Geburt zu erleichtern.
Frau S. greinte und schrie, Stunde um Stunde, es war qualvoll. In einer Wehenpause wimmerte sie kraftlos »Ich will einfach nur sterben«. Ich werde das nie vergessen, Frauen sagen ja die krassesten Dinge unter Schmerzen, aber dieser Satz ließ mich schaudern – auch weil ich wusste: Er könne sich bewahrheiten. In diesen angespannten Stunden, in denen ich den Kreißsaal nicht verließ und ausschließlich sie betreute, redeten ihr Mann und ich ihr mantraartig zu: »Gib nicht auf. Du schaffst das. Wir wissen, dass du das schaffst.« Ich weiß nicht, wie oft wir dieses Sätze gesagt haben…
»Was steht denn nun auf der Karte?«, fragte Manu. »Liebe Frau Böhler, der Tag, an dem ich dachte, ich muss sterben, war der Tag, der mir die meiste Kraft gegeben hat. Und das ist auch Ihr Verdienst. Danke. Ihre Natalie S.« Weil Manu jetzt eh schon am Heulen war, zeigte ich ihr dann auch noch die Karte, die mir die Eltern des kleinen Felix, der Totgeburt, von der ich hier erzählt habe. »Wir haben immer noch einen schweren Weg vor uns, aber Sie haben uns eine erste Richtung gezeigt.«
Manchmal vergesse ich, was für ein Privileg es ist, jemandem in schweren Stunden wirklich helfen zu können. Und wie schön es ist, dafür mehr zu bekommen als Geld. Wie wertvoll und bleibend so ein Danke doch ist. (Das gibt natürlich Krankenhäusern und dem Gesundheitswesen trotzdem kein Recht, Pflegeberufe nicht fair zu bezahlen!)
»Hey, sollte man sich nicht öfter bei anderen bedanken?«, sagte ich nachdenklich zu Manu. Zum Beispiel meine Zahnärztin neulich: Die hat mich so gut beraten, und die Behandlung war top – dabei hatte ich solche Angst vor dem Termin.« – »Du kannst ihr ja mal eine Packung Merci vorbeibringen – da freut sie sich sicher!«