Es war 3 Uhr, mitten in einer verrückten Nachtschicht: In der 1 war eine Frau mit Zwillingen weit unter der Geburt, in der 2 sang eine türkische Patientin ein auf mehreren Stockwerken hörbares Wehen-Lied mit dramatischen Höhepunkten, in der 4 war eine 16-Jährige, samt Großfamilie und kichernder Freundin. Dazu noch eine Frau mit Blasenentzündung, die das vom Frauenarzt verschriebene Antibiotikum nicht eingenommen hatte und sich nun wunderte, dass die Schmerzen nicht aufgehört hatten. Sie hätte gerne nun unsere Meinung dazu.
Und im Kreißsaal 3: Frau W., die gerade mit dem Taxi, Wehen und einem weit geöffneten Muttermund, gekommen war. Ohne Begleitperson – ihr Partner musste zuhause auf das 3-jährige Geschwisterchen aufpassen. »Wir haben keine Betreuung«, schimpfte Frau W. schmerzverzerrt, während sie gekrümmt und den Bauch stützend den Kreißsaal bezog. »Können Sie mir jetzt endlich was zu trinken bringen?«, raunzte sie mich an.
Mir fiel auf, ich hatte selbst seit fünf Stunden keinen Schluck getrunken. Obwohl erst die Hälfte der Schicht rum war, fühlte ich mich schon ziemlich am Ende. »Die Großeltern oder Freunde sind nicht vor Ort, die einspringen können?«, fragte ich vorsichtig, als ich Frau W. half, sich ihrer Schuhe zu entledigen. Sie sah mich mit funkelnden Augen an. »Sonst wäre ich wohl kaum allein hier.«
Hui, da war jemand on fire! Dass Frauen von dem, was unter der Geburt mit ihnen und ihrem Körper geschieht, so überwältigt sind, dass sie aggro werden, kommt selten, aber immer wieder vor. Ich atmete tief durch. Jeder geht anders mit Schmerz um. So erkläre ich es den Partnern und oft muss ich es mir selbst sagen. Erst neulich war eine ganz adrette junge Dame bei uns – Longchamp-Weekender, Perlenohrring, edles Nachthemd –, die mit jeder Presswehe lauthals »Mo-ther-fu-cker« röhrte. Die Kollegen am Schwesterndesk kriegten sich nicht mehr ein vor Lachen.
Unvergessen auch eine Kiez-Schönheit, die unter Geburt ihren Freund anherrschte: »Alter, mir platzt gleich die Schnecke, mir platzt gleich die Schnecke!« Ich überlegte, ob sie die »Hutschnur« meinte und wegen irgendetwas wütend war, verstand dann aber, dass sie sagen wollte: »Hoffentlich bekomme ich keine Geburtsverletzung.« Daraufhin konnte ich sie beruhigen, ihre »Schnecke« platzte an diesem Tag nicht.
»Das Gutzureden der Partner und Begleitpersonen ist zur echten Währung geworden in Zeiten des Hebammenmangels«
Ich wollte mir gerade die Aschepartikel, die Frau W. in ihrem Ausbruch auf mich hernieder geregnet hatte, von der Schulter fegen, da wechselte ihr Gemütszustand wie bei einer LED-Lampe der Farbton. Sie begann zu weinen. »Meine Mutter ist informiert, aber sie muss erst aus einer anderen Stadt anreisen und es ist ja mitten in der Nacht,« sagte sie unter Tränen. Ihre erste Geburt sei ziemlich dramatisch gewesen, Saugglocke und heftige Geburtsverletzung, erzählte sie. Und ich verstand, dass ihr scharfer Ton der Unsicherheit entsprungen war, es könne auch beim zweiten Kind so laufen. Ohne jemanden an der Seite, dessen Hand sie platt drücken konnte.
Ich setzte mich auf die Bettkante – im Wissen, dass sich in diesem Moment draußen die andere Hebamme und die einzige Ärztin auf die singende Türkin, die 16-Jährige, die Zwillingsgeburt und die in der Ambulanz wartenden Frauen aufteilen mussten, aber es ging nicht anders: Ich musste dieser Frau jetzt ihre Angst nehmen, ihr glaubhaft machen, dass ich voll und ganz für sie da war (auch wenn es leider eine Lüge war). Denn wenn ich Frau W. nicht beruhigte, wenn ich sie nicht gut hier ankommen ließ, dann würde alles noch viel schlimmer werden. Für uns beide.
Ich erklärte ihr, dass sie nichts zu befürchten habe, dass das Baby gut liege, ich ihr die gewünschten Schmerzmittel herrichten und im Anschluss daran gleich wieder nach ihr sehen würde. »Gut«, sagte sie und schloss seufzend die Augen. Ich legte ihr ein Wärmekissen an den Rücken. Für eine kurze Zeit hatten wir eine Verbindung.
In solchen Momenten wird mir einmal mehr klar, was für einen Wert die Begleitpersonen, meistens ja die Partner der Frauen haben. Es hält sich ja immer noch das alte Klischee vom nichtsnutzigen Mann, der überfordert, peinlich-berührt und qua falschem Geschlecht ausgeschlossen ist vom eigentlichen Geschehen – dem muss ich in jeder Hinsicht widersprechen. Das Gutzureden der Partner oder anderer Begleitpersonen, ihre körperliche Nähe, ihre Aufmerksamkeit, ihr »Ich hol jetzt wen, egal was du sagst« sind zur echten Währung geworden in Zeiten, wo durch den Hebammenmangel und den Sparkurs der Krankenhäuser Geburtsstationen fast überall zu dünn besetzt sind.
Nach dem kurzen Einvernehmen hechtete ich rüber zur Zwillingsgeburt, um kurz mit anzupacken, und kehrte dann zu Frau W. zurück, bei der es auch nicht mehr lange dauern würde. Sie hockte jetzt vor dem Kreißsaalbett, ihre Wehen waren inzwischen heftig. Und sie war wieder von Ms. Jeckyll zu Ms Hyde mutiert. Ihr Ton: furchteinflößend und kommandohaft.
Als sie nicht mehr hocken wollte, schlug ich vor, die Position zu wechseln sie, da schnauzte sie verächtlich. »Tolle Idee!« –»Ich will mehr Wasser!«, motzte sie weiter. Ihre Hand hatte sie haltsuchend in meinen Kasack gekrallt und so saß ich am Schlafittchen gepackt neben ihr fest. Ich hangelte mich Richtung Wasserflasche auf dem Tisch neben uns. Da wurde ich auch schon zum Stillhalten beordert. Der Höhepunkt war erreicht, als ich abermals vorsichtig versuchte, mich aus meiner »Gefangenschaft« zu befreien, um mir ein paar Handschuhe zu nehmen, denn das Köpfchen war bereits sichtbar. »Ich hab doch gesagt, nicht bewegen, verdammt nochmal«, herrschte sie mich an.
Ich trat aus meinem Körper heraus, sah mich neben dieser Furie kauern, mir tat alles weh, servus Bandscheiben, war schön mit euch, ich packte den Ton der Frau einfach nicht mehr und hätte so gern zurückgefaucht, aber ich schluckte meinen Ärger hinunter. Das Kind kam.
Daraufhin schaltete Frau W.s LED-Lampe wieder ein Gefühl weiter, von »Werwolf« zu »Mutter Theresa«: Jetzt zeigte sie Ergriffenheit, bedankte sich gerührt und überschwänglich für meine Hilfe und Unterstützung und lobte mich, wie schön die Geburt gewesen sei. Ich war: irritiert.
Viele Frauen haben nach der Geburt eine Art Amnesie: Die Wehen und Schmerzen tauchen sie in eine Art Nebel, der sich durch den Rausch an Endorphinen nach der Geburt jäh lichtet und die Frauen Dinge anders nacherzählen lässt, als es Beteiligte wohl beschreiben würden. Bei so manchem »Gell Schatz, ich war gar nicht laut« haben die Väter und ich uns schon verschwörerisch angegrinst. »Nein, gaaaar nicht!«
Doch nun stand ich da. Wollte mich eigentlich freuen über ihr Kompliment, es war ja toll, dass wenigstens sie die Geburt als positiv empfunden hatte. Doch dann brach es aus mir heraus: »Sie wissen ja gar nicht wie es ist, wir würden gerne mehr für jede Schwangere da sein, stattdessen müssen wir hin- und her springen, uns zwischen zig Sachen aufteilen. Auf unseren Schultern lasten die Angst vor Fehlern und eine große Verantwortung und manchmal kann man einfach nicht mehr.« Tränen liefen mein Gesicht hinunter, während ich all das sagte, ich konnte gar nicht mehr aufhören.
Frau W. guckte erschrocken. »Entschuldigung, das war jetzt unpassend«, sagte ich schluchzend. Und da war es plötzlich Frau W., die mir über den Arm streichelte. »Wollen Sie vielleicht mal einen Schluck Wasser?« Verkehrte Welt, dachte ich. Und wischte mir lächelnd über die Backe.