Ich weiß nicht mehr, wann genau es mir klar war, dass sie allein war. Vielleicht als sie etwas zu lang die Vorderseiten unserer Broschüren betrachtet hat, die ich ihr in die Hand gedrückt hatte. Die eine zeigt ein glückliches Paar, SIE streichelt ihren Riesenbauch, ER grinst versonnen in Richtung des imaginären Kindes. Die andere Broschüre zeigt Frau und Mann mit nacktem Spreckröllchen-Baby auf einer Rolf-Benz-Couch im lichtdurchfluteten Altbau-Wahnsinn.
Frau N. hatte gewirkt, als würde sie jedes Detail dieser Abbildungen mit ihrer Situation abgleichen und zu dem Schluss kommen: fuck.
Sie war allein. Irgendwie spürte ich das. Ich dachte, wir müssen diese Broschüren ändern, die – ohne es zu wollen – von einem heteronormativen Wohlstand erzählen, der für viele nicht gilt. Allein, dass in vielen Broschüren automatisch vom »Mann« gesprochen wird, der mitkommt. Warum nicht Begleitperson?
Beim zweiten Vorab-Termin ging ich mit Frau N. unseren Aufnahme-Fragebogen durch. »Wir müssen immer auch die Lebenssituation der schwangeren Frauen statistisch erheben«, erklärte ich: »Sind Sie aktuell alleinstehend, in einer Lebenspartnerschaft oder verheiratet?« – »Alleinstehend«. Es klang wie ein Schuldeingeständnis.
Natürlich machte ich mir meine Gedanken, wer wohl der Vater war und warum er nicht dabei war und natürlich fragte mich, zurück am Empfangstresen, auch meine Kollegin Claudi: »Weißt du da Bescheid? Hat die keinen Mann?« Gar nicht bösartig, nur neugierig. Ist vielleicht menschlich. Aber was, wenn die Frauen das spüren, dieses Geraune und Getuschel? Ich wollte dazu nichts sagen und zuckte mit den Schultern.
So liberal unsere Gesellschaft manchmal erscheint – abseits der Mann-Frau-Wunschkind-Konstellation schwanger zu sein, ist noch immer erklärungsbedürftig, besonders für Singles und Homosexuelle. Als seien sie verplichtet, die genauen Umstände der Zeugung offenzulegen. Dabei dürfte doch hinlänglich bekannt sein, wie Kinder entstehen, oder?
Wir haben hier auf der Station auch mit Etlichen zu tun, die in Beziehungen stecken, für die das schöne Wort dysfunktional erfunden wurde, in denen einer barsch, abwesend, respektlos ist, da fragt auch keiner, uiuiui, wie die das wohl hingekriegt haben, schwanger zu werden. Aber wenn eine aufgeräumte Alleinstehende kommt, hat man das Gefühl, jeder habe ein Recht darauf, zu erfahren, ob das Kind »nur« von einer Affäre stammt.
Na gut, aufgeräumt, war Frau N. nicht. Ich spürte, wie die Schwangerschaft ihr Leben aus den Angeln gehoben hatte. Und auch wenn das nun schon 36 Wochen her war – es hing immer noch schief und schloss nicht mehr richtig und der kalte Wind der Ungewissheit blies hindurch.
Einige Wochen später, als wir die Geburt einleiteten – Frau N. war inzwischen über Termin –, vertraute sie sich mir plötzlich an. Vielleicht weil ich eben nicht gefragt hatte. Vielleicht aber auch, weil ein Kreißsaal jene Art geschützter Raum ist, in dem Frauen sich öffnen können. Also in jeder Hinsicht.
Sie habe sich immer eine feste Beziehung gewünscht, erzählte sie, es habe nur nie geklappt. Männer waren an ihr immer nur für kürzere, unverbindliche Geschichten interessiert. Oft sei sie »die Affäre« gewesen. So wie zuletzt, bei diesem On-Off mit ihrem Ex-Kollegen. »Ich wollte ihm kein Kind anhängen, ich bin doch nicht wahnsinnig, glauben Sie mir das?« – Ich nickte. Es sei halt passiert, für Verhütung habe er sich nie groß interessiert und sie sei an jenem Abend nicht mehr Herrin ihrer Sinne gewesen. »Am Anfang habe ich über Abtreibung nachgedacht. Aber ich konnte es einfach nicht. Verstehen Sie, Maja?« Sie hatte sich vorgebeugt, um mich anzusehen. Um das klarzustellen. Um der Hebamme, die mit ihr gleich ihr Kind auf die Welt holen würde, zu sagen, dass das doch verdammt nochmal richtig gewesen war. Oder nicht?
Während dieser Schicht lief ich einen Halbmarathon auf der Station, anscheinend hatte die ganze Stadt beschlossen, an diesem Tag zu entbinden. Trotzdem sah ich ständig nach Frau N. Es war für mich unvorstellbar, sie im Kreißsaal alleine zu lassen, ohne einen, der ihr mal den Rücken massiert oder ihr ein Glas Wasser bringt.
Irgendwann in der letzten Phase, Frau N. hatte inzwischen heftige Wehen, klopfte es an der Tür, es war meine Kollegin. Drei Frauen stünden vorne am Empfang. Die Mutter von Frau N. und zwei Freundinnen. Frau N.'s Gesicht hellte sich auf. »Ich habe ihnen gesagt, ich will es alleine schaffen!« Auch bei der Anmeldung hatte sie mir gegenüber das immer wieder betont, obwohl ich ihr versichert hatte, sie könne egal wen mitbringen. »Dürfen die drei mit rein?«, fragte sie. Meine Antwort war das Doping für ihren Endspurt.
Am Schluss war alles Teamarbeit, ich ließ die drei Frauen blaue Unterlege-Deckchen aus den Schubladen holen und warmes Wasser für die Kompressen nachfüllen. Sie feuerten Frau N. an wie Cheerleader – es fehlten nur noch die Pompons. Der Arzt, der am Schluss hinzukam, stutze: »Ist das hier eine Mädelsparty oder was?«. Als Frau N.'s Mutter wenig später die Nabelschnur durchtrennte, tropften die Tränen fünf verschiedener Frauen auf das Bett.
Frau N. war nicht allein. Nicht heute.