Als ich hörte, dass die Frau mit Wehen in der 3 schon ihr zehntes Kind bekam, wusste ich, ich würde es pünktlich zum Tatort nach Hause schaffen. Diese Geburt würde in Rekordzeit gehen. Überraschend war nur, dass der Mann, der die Frau begleitete, sich eher auf einen 18-Stunden-Marathon einzustellen schien. Warum? Er hatte doch schon neun Kinder Erfahrung? Während seine Frau in Riesenschritten auf die Presswehen zusteuerte, trug er in aller Ruhe einen geheimnisvollen Karton in den Kreißsaal und setzte sich auf den Wannenrand.
Er öffnete ihn andächtig, nahm ein kleines Päckchen heraus, das mit Butterbrotpapier umwickelt war, befreite es aus seiner knisternden Verpackung. Aus dem Augenwinkel – ich kniete gerade neben seiner Frau auf einer Matte und massierte ihr den Rücken – sah ich, wie eine Schlumpf-Figur zum Vorschein kam, er platzierte sie auf dem Beistelltisch neben dem Bett. Dann nahm er das nächste Päckchen, packte es seelenruhig aus, ein weiterer Schlumpf. Er stellte die Figuren in Reih und Glied auf, und als seine Frau schließlich zum großen Finale blies, standen da, ich übertreibe nicht, dreißig Schlümpfe.
Folgende Fragen beschäftigten mich: Konnte es sein, dass die Frau gleich einen Schlumpf gebar? Hat dieses Ritual bei allen neun Kindern davor auch stattgefunden? Würden die beiden mit dem Kinderkriegen weitermachen, bis die Größe der Schlumpfpopulation erreicht war? Und stand hier womöglich ein Vermögen? In meinem Kopf lief der Audio-Guide zur Schlumpfausstellung: »Sie sehen hier einen von nur fünf Schlümpfen weltweit mit drei Nasenlöchern. Dieses Exemplar verdankt seinen heutigen Sammlerwert von 2,8 Millionen Euro einem Fehler beim Programmieren der Kunststoff-Spritzmaschine.«
Der Mann riss mich aus meinen Gedanken, anscheinend war mein erstaunter Blick auf die blaue Garde nicht zu übersehen gewesen. »Das sind einfach Glücksbringer«, sagte er zufrieden. »Damit meine Maus auch diese Geburt gut schafft.« Die so Genannte lächelte gequält. Dann kam das Kind.
Glauben und Aberglauben sind ständige Begleiter in der Geburtshilfe. Außer Voodoo habe ich schon alles gesehen: Altar-artige Aufbauten von Engel-Karten, Räucherstäbchen im Kreißsaal (eine Frau kiffte heimlich sogar mal, aber das ist eine andere Geschichte), Marienbildchen unterm Kopfkissen, und mein Favorit: die Glücksunterhose: »Darf ich mich noch mal umziehen?«, hatte mich eine Frau mal gefragt, die mit heftigsten Wehen in den Kreißsaal kam und bei der, ähnlich wie bei der Schlumpf-Frau, klar war, dass das Kind innerhalb der nächsten Stunde kommen würde. »Ich habe extra den Slip mitgebracht, den ich in der Nacht anhatte, als wir.... Sie wissen schon.« Dabei sah sie verliebt ihren Freund an. Ich sagte nur: »Ein Glücks-BH wäre praktischer gewesen, aber wenn's hilft...«
Solange die Menschen Kraft für die Geburt aus ihrem Glauben und Aberglauben ziehen, ist mir alles Recht. Wobei ich das Fragezeichen im Gesicht des Arztes nie vergessen werde, der hereinkam und feststellte, dass die Schwangere, die unmittelbar vor den Presswehen stand, untenrum nicht nur nicht frei war, sondern einen ziemlich verruchten Spitzen-Tanga trug.
Was nicht ganz so lustig und manchmal regelrecht gefährlich ist, sind dagegen Schwangerschaftsmythen und Ammenmärchen: Es gibt so viele – selbst ich höre immer wieder neue. Die meisten sind nur eine perfide und antiquierte Art, Frauen zu verunsichern. Im Urlaub hat mich eine Yoga-machende Frau am Strand gefragt, ob man in der Frühschwangerschaft wirklich keinen Kopfstand machen dürfte. Angeblich führe das zu Fehlgeburten. So ein Quatsch.
Manche Ammenmärchen sind Überbleibsel einer Zeit, in der Frauen zum Nachwuchs-Bereitstellen da waren und dafür haftbar gemacht wurden, wenn etwas schief ging. Dieses Exemplar zum Beispiel: Wenn man in der Schwangerschaft Ketten trägt oder Walzer tanzt, dreht sich das Kind in Beckenendlage oder noch schlimmer: bekommt eine Nabelschnurumschlingung. Ja klar. Nach dem Motto: Du hast in der Schwangerschaft deine Reize mit lüsternem Geschmeide und Tänzen betont, jetzt ist dein Kind tot. Diese Art von Mythen kursieren noch immer, es ist unglaublich.
Auch schön: Schwangere sollen keine Zeitung lesen. Es herrschte früher der Gedanke vor, dass Stress und Belastendes in der Schwangerschaft zu meiden seien. Was ja auch stimmt. Aber Zeitungslektüre ist nun wirklich nicht das Problem, in einer Zeit, in der Frauen bis kurz vor Niederkunft arbeiten und oft parallel dazu eine größere Wohnung und eine Großstadt-Kita suchen müssen. 2018 müsste dieses Ammenmärchen eh anders lauten: Schwangere dürfen keine Beschwerden googlen. Das wäre wahr und sinnvoll.
Und da gibt's noch den Klassiker: Wer viel Sodbrennen in Schwangerschaft hat, bekommt ein sehr haariges Kind. Wenn das wirklich stimmen würde – was machen dann all die süßen Glatzköpfe auf unserer Station? Schließlich hat fast jede Frau Sodbrennen in der Schwangerschaft. Der Bauch drückt von unten gegen den Magen, der schließt nicht mehr richtig, zack, rülps, bäh.
Gerne wird auch im Nachhinein auf die Richtigkeit des Ammenmärchens hingewiesen: Kommt also ein kleines Monchichi zwischen den Beinen seiner Mutter hervor, sagt bestimmt eine werdende Oma: Schatz, du hattest doch öfter mal Sodbrennen.
Neulich war Herr und Frau F. bei uns, die sich beim vierten Kind überraschen lassen wollten und nicht wussten, ob es Junge oder Mädchen wird, das kommt höchstens bei einem von hundert Elternpaaren vor. Es folgte eine Sternstunde der Geburtshilfe-Astrologie: In kürzester Zeit fanden sich einige ältere Hebammenkolleginnen, die werdenden Omas, zwei Krankenschwestern sowie unsere ghanaische Putzhilfe ein und veranstalteten ein heiteres Rätselraten. Der Schwesterndesk wurde zur Ermittlungsleitstelle. Um die Frage abschließend und mit Gewissheit zu klären, wurden den Omas investigative Fragen gestellt wie »Hatte Frau F. in der Schwangerschaft mehr Lust auf Süßes (Mädchen) oder Saures (Junge)?« Oder »Wurde ihr Gesicht eher voller (Junge) oder schmaler (Mädchen)?« Und das Beste: War Frau F.s Bauch eher rund (Mädchen) oder spitz (Junge)? Ich dokumentierte nebenan gerade eine andere Geburt, jetzt sah ich von meiner Akte auf und schaltete mich ein: »Leute, was bitte ist ein spitzer Bauch? Welcher Körperteil des Babys soll denn da spitz rausragen?«
Ein Dutzend weiblicher Augenpaare sah mich mit einem »Na, denk mal nach«-Gesichtsausdruck an. Bei mir klingelte es und ich sagte nur: »Ernsthaft?« Dann prusteten wir los.