»Halt die Schnauze«, hat ein Typ in der U-Bahn zu mir gesagt. Es war morgens, die S-Bahnen waren weder pünktlich oder auch nur so gefahren, wie sie immer fahren, sodass auf dem U-Bahnsteig am Alexanderplatz mehr Leute als üblich zusammengekommen waren. Über Tage schien die Sonne. Ziemlich viel mehr Leute. Wir standen eng an eng. Männer, Frauen, Kinder, Alte und Touristen, ich dachte an Tokio oder New York. Wenn ich unter all diesen morgendlichen Wartenden stehe, was ich nicht oft tun muss, sehe ich bei vielen eine Panik und eine Hetze im Gesicht, die mich entsetzt, und bin dann froh, dass ich morgens das Fahrrad zur Arbeit nehmen kann oder nun, wie in den vergangenen Monaten, seit ich nicht mehr in einem Büro arbeite, einfach zu Hause in aller Ruhe meinen Kaffee trinken kann. Ich weiß, das darf man so nicht sagen, weil diese Privilegien manchen zuteil werden und anderen nicht. Scheißungerechtigkeit. In einer vollen U-Bahn morgens zur Arbeit fahren, den Atem der anderen im Nacken spüren, diesen schläfrigen Geruch nach bitterem Kaffee oder kaltem Zigarettenrauch, diese menschliche Art von sozialer Tortur.
Halt die Schnauze, hat der Typ in der U-Bahn zu mir gesagt. Ich konnte sein Gesicht dabei nicht sehen. Ich hatte ihn gebeten, ruhig und freundlich, wie mir schien, ein bisschen zu rutschen, weil ich sah, dass neben ihm noch ein wenig Platz war, nicht viel, aber ausreichend, denn sonst stieß sein Rucksack immer wieder an meinen Arm, jenen Arm, mit dem ich versuchte, mich an einer der Stangen festzuhalten, um nicht bei jeder Anfahrt immer wieder aufs Neue gegen all die anderen Mitreisenden zu fallen. Halt die Schnauze. Blut schoss mir ins Gesicht, Schweiß brach aus. Jene Panik und Hetze, die ich in den Augen der anderen gesehen hatte, ergriff nun auch mich. Und Ohnmacht, Wut und Traurigkeit. Angst. Halt die Schnauze. Entsetzt schaute ich in die Gesichter der Umstehenden, nur eine Frau schaute entsetzt zurück, alle anderen taten, als wäre nichts gewesen. Diese sekundenlange Hoffnung, diese Frau würde mir helfen, würde irgendetwas sagen.
Eine Sekunde ist das 9 192 631 770-fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids Caesium-133 entsprechenden Strahlung, lese ich später bei Wikipedia und denke, genau so hat sie sich angefühlt, die Sekunde danach. Eine endlose Periodendauer in einem mir unverständlichen Satz. In einer Situation, in der man nicht weiß, was man vor lauter Hassstrahlung tun soll, oder besser gesagt, in einer Situation, in der ich nie weiß, was ich tun soll.
In dieser Sekunde steht nur eines glasklar fest: Dieses Haltdieschnauze wird den ganzen Tag in mir stecken bleiben. Es hat sich erst in den Haarwurzeln eingenistet und sich dort in mindestens 9 192 631 770 Atome geteilt, die auf der Suche nach einem Ort nun in den Knien, den Waden, den Fingern, eigentlich überall in meinem Körper herumziehen wie eine Horde nächtlicher Schläger. Ich würde heute keine Ruhe mehr vor ihnen finden. Ich würde mich wund und gehetzt und aufgerieben und ort- und ziellos fühlen. Ich würde nicht mehr wissen, wer ich bin, was ich gestern noch dachte, was mich da noch beschäftigte. Ich würde einen ganzen Tag in Panik verbringen, einer Panik, die erst dann nachlassen oder enden würde, wenn ich abends eingeschlafen war und hoffentlich von etwas anderem, Sex mit einem Mann vielleicht oder so, träumte. Ein Mensch in Deutschland wird durchschnittlich 80,89 Jahre alt und verbringt also 29 524,85 Tage auf der Welt. Wie viele davon ist er wohl in solch einer Panik? Steht das auch irgendwo bei Wikipedia?
Ich kannte das schon, diese Tage danach: Einmal hat ein Mann »Du Fotze« zu mir gesagt, der Mann saß im Auto und ich auf dem Fahrrad. Ich weiß nicht mehr, was zuvor genau vorgefallen war. Einmal hat eine Frau im Fitnessstudio zu mir gesagt: »Was glotzt du mich so an?« Man ist mit diesen Menschen offenbar ja stets augenblicklich per Du. Es gibt in meinem Fitnessstudio auf dem Weg zu den Umkleidekabinen im oberen Stockwerk eine so enge, gusseiserne Wendeltreppe, dass die Auf- und Absteigenden jeweils nicht aneinander vorbeikommen, ohne einander einmal kurz in die Augen sehen und wortlos verabreden zu müssen, wer zuerst auf- und wer danach absteigt oder umgekehrt. Diese Frau kam von oben und ich von unten, ich schaute sie an, und sie blaffte zurück: »Was glotzt du mich so an!« Das ist schon ein paar Jahre her, ich denke beinahe jedes Mal, wenn ich auf dieser Wendeltreppe bin, daran und erinnere mich dann manchmal auch an meine Tränen danach.
Am 4. März 2014 hat mich ein älterer und offensichtlich verwirrter Mann beschimpft. Ich stand an der Ampel vor der Humboldt-Universität und wollte, wohl wegen einer Verabredung zum Mittagessen, hinüber zum Gendarmenmarkt. Der Mann lief eine Weile hinter mir her und schrie, wie hässlich ich sei, dass ich bestimmt keinen Mann abkriegen würde, dass meine Titten ganz schlaff und meine, ja, das sagte er auch, Fotze ausgeleiert sei. Eine wie ich, das wiederholte er mehrere Male, gehöre eigentlich auf den Friedhof. Sie wollen jetzt wahrscheinlich wissen, was ich daraufhin tat? Nun, das, was ich in solchen Momenten immer mache: nichts. Ich lief einfach weiter, weder begann ich zu rennen, noch war ich imstande, diesem Mann etwas zu entgegnen. Ich lief weiter und hoffte, dass es gleich vorbei sein würde, ich drehte mich nicht einmal nach ihm um. Ich hörte ihn ja auch so. Nur meine Verabredung zum Mittagessen habe ich abgesagt. Als der Mann endlich von mir abgelassen hatte, flüchtete ich mich in den nächsten Hauseingang und schrieb eine SMS, die wahrscheinlich niemand verstand. Dann schaltete ich mein Handy aus, Rückfragen hätte ich eh nicht beantworten können, und lief noch ein wenig herum. Zum Glück gibt es im März noch nicht so viele Touristen, und weiter hinten, rund um die Stadtschloss-Baustelle, ist es eigentlich immer ganz ruhig. Mein Ziel war es, nach der Mittagspause wieder so an den Schreibtisch zurückzukehren, dass niemand mir etwas ansehen konnte. Das hier war schließlich meine eigene, kleine soziale Tortur.
Aber ich weiß das Datum noch deshalb so genau, weil ich am selben Abend kurz nach 21 Uhr mein Schweigegelübde brach und auf Facebook von dem Vorfall berichtete. Ich wollte einfach sehen, was passiert, und schrieb: »Denke schon den ganzen Tag darüber nach: Bin heute Mittag auf der Straße von einem älteren, verwirrten Mann wild beschimpft worden. Der lief dann so hinter mir her, kommentierte mein Aussehen, meine körperlichen Vor- und Nachteile. Eigentlich müsste ich aufschreiben, was er gesagt hat. Aber das geht nicht. Auch darüber denke ich nach, warum man das nicht einfach aufschreiben kann. Noch Stunden später habe ich jedenfalls das Gefühl, heute wäre etwas wirklich Schlimmes passiert.«
Heute bin ich offenbar einen Schritt weiter, heute schreibe ich das einfach mal auf, auch wenn es sich sehr komisch anfühlt, Worte wie Fotze und schlaffe Titten zu schreiben. Einige gaben mir damals den Rat, das würde mir helfen, aber ich bin mir da nicht so sicher. Auch bin ich heute ehrlicher, denn von körperlichen Vorteilen, wie ich es damals auf Facebook formuliert habe, hatte der Mann ja gar nicht gesprochen. Hilft es wirklich, Worte wie Fotze und schlaffe Titten aufzuschreiben? Eher kommt mir das wie eine weitere mögliche Strategie vor, mit einer Sache seinen Frieden zu machen, mit der man seinen Frieden nicht machen kann. Die allein die Zeit heilt. 9 192 631 770 Atome aus Hass und Verachtung an einem von nur 29 524,85 möglichen Tagen auf Erden. Multiplizieren sich diese Atome eigentlich, je öfter man so etwas erlebt, oder versuchen sie lediglich, ihre Zahl möglichst konstant zu halten? Und wie oft habe ich bereits Menschen in so eine Situation gebracht?
Es gibt sehr viel schlimmeres Leid auf der Welt, ich weiß. Meine kleinen Unfälle sind nichts anderes als banale Episoden in einer endlosen Geschichte von Hass, Verachtung und Gewalt. Geteiltes Leid aber ist niemals halbes Leid. Wer sich solchen Blödsinn wohl einmal ausgedacht hat? Es klingt schön, aber mehr auch nicht. Eher ist das Gegenteil wahr, das haben Psychologen der Universität Yale im vergangenen Jahr bestätigt: Erfahrungen und Erlebnisse, positive wie negative, werden intensiver wahrgenommen, wenn man sie mit anderen Menschen teilt oder gemeinsam erlebt. Die Anwesenheit von Leidensgenossen oder sogar Zuschauern erhöhe die Pein. Die Psychologen kommen daher zu dem für unsere verquatschte Gegenwart überraschenden Schluss, dass man solche bitteren Erlebnisse eher allein durchstehen soll.
Unter meinem Facebook-Eintrag damals bemühten sich viele, mir Tipps zu geben, wie ich reagieren sollte. Und eine Frau erzählte, dass ihr ein Mann einmal mitten auf der Straße eine runtergehauen hätte, vorher sei sie noch nie geschlagen worden. Ein Mann schrieb, dass eine Frau, also er schrieb genauer: eine Pennerin, ihn einmal an einer Straßenbahnhaltestelle mit einem Regenschirm geschlagen hätte, und es stimmt, all das hat mich nicht getröstet. Das Leid der anderen hat meines eher verstärkt, schien mir, hat ihm einen größeren Resonanzraum gegeben, hat es real werden lassen. Plötzlich stellte ich mir Fragen, wie: Warum fanden solche Zusammenstöße eigentlich so oft zwischen Mann und Frau statt? Oder was schlimmer war: eine Ohrfeige oder schlaffe Titten? Je länger ich über diese Fragen nachdachte, desto mehr hatte ich das Gefühl, all das auch erlebt zu haben. Als ein anderer Mann aber anmerkte, dass diese Beschimpfungen mein Innerstes erreicht und verletzt hatten, weil ich da vor der Humboldt-Uni in meiner Mittagspause ohne Schutz und Abwehrstrategien gewesen sei, half mir das. Erklärungen schienen im Gegensatz zu Beispielen anderer Verletzungen in mir eine gewisse Linderung herbeizuführen.
Hass ist das Gegenteil von Liebe, Liebe sollte eigentlich das Gegenteil von Hass sein. Vielleicht wurden deshalb genau jene Teile meines Körpers, mit denen ich am meisten liebte, in diesen anonymen Zusammenstößen derart diffamiert. Aus meinem Mund, mit dem ich morgens mein Kind auf die Stirn küsste, wenn es zur Schule ging, wurde eine Schnauze. Meine Augen, mit denen ich Freunde anschaute, wenn sie mir von sich erzählten, diese Augen glotzten plötzlich. Und aus meinen Brüsten, die ich nur jenen Männern gezeigt hatte, die ich liebte, wurden schlaffe Titten. Von meiner Fotze, die ich natürlich nie so nennen würde, ganz zu schweigen. Ich kann von Glück reden, dass niemand mein Herz sehen kann. Nicht der Mann in der U-Bahn, nicht der Autofahrer, nicht die Frau im Fitnessstudio und auch nicht der verwirrte Mann vor der Humboldt-Universität. Aus wie vielen Atomen besteht eigentlich so ein Herz?
Illustration: Marion Fayolle