Immer wenn ich mich selbst daran erinnern will, wie unwichtig Geld für mein Lebensglück ist, spiele ich Lotto. Das ist etwa einmal im Monat der Fall, ich gehe zum Kiosk, kreuze wahllos Zahlen an und verbringe den Rest des Tages damit, mir auszumalen, wie es wohl wäre, tatsächlich zu gewinnen. Wie ich am nächsten Tag im Videotext ganz arglos die Lottozahlen ansehe und mir im Schock der Kaffeebecher aus der Hand fällt. Unfassbar! Gewonnen! 36 Millionen! Mein Mann und ich sinken uns weinend in die Arme. Endlich reich! Wir machen blau, trinken eine Flasche Sekt, versprechen uns lachend, in Zukunft nie wieder diese billige Plörre zu trinken, sondern immer Champagner im Kühlschrank zu haben, und schmieden Pläne. Erst mal einfach so weiterleben wie bisher. Nichts überstürzen. Nicht ab-heben. Vielleicht endlich eine Wohnung kaufen. Dachgeschoss, Maisonette. Vielleicht mal einen langen Karibikurlaub machen. Ein neues Auto wäre schön. Und eine satte Spende an »Ärzte ohne Grenzen« muss natürlich auch sein, überhaupt wollen wir jetzt ganz viel Gutes tun.
Wir schwören uns, niemandem, wirklich niemandem von unserem Lottogewinn zu erzählen. Klappt nicht. Bald wissen es unsere Eltern und unsere besten Freunde. Die ihren Job hassen und schon lange den Traum haben, sich mit einem kleinen Café selbstständig zu machen. Wir schenken ihnen das Geld dafür. Haben ja genug. Ist doch toll, wenn man mal richtig großzügig sein kann. Wir sitzen in unserer neuen Dachgeschosswohnung und überlegen, wer noch dringend Geld bräuchte. Die Flüchtlingshilfe. Das Kinderhospiz. Aber auch Cousine F., deren Tochter so schwer krank ist. Die bekommt natürlich was. Und was ist mit Großonkel G., der immer pleite ist? Wenn Cousine F. was abbekommt, dann müssen wir ihm auch was geben, sonst gibt es wieder Mord und Totschlag beim nächsten Familientreffen. Mein Bruder bekommt einen Teil, damit er sich ganz auf sein Medizinstudium konzentrieren kann. Und sollten wir nicht auch an unsere Kinder denken? Endlich runter von der schlecht ausgestatteten Stadtteilschule, rein in die Privatschule. Hätten wir früher abgelehnt, wegen der sozialen Mischung, aber sollen unsere Kinder wirklich die verfehlte Bildungspolitik dieses Landes ausbaden müssen?
Die Kinder finden an der neuen Schule schnell neue Freunde, deren Eltern dann unsere Freunde werden. Wir haben viel gemeinsam, wir reden über Anlagemodelle, gute Skiresorts, Sternerestaurants. Unsere alten Freunde kommen seltener vorbei, wir gehen auch seltener mit ihnen aus. Es nervt, am Ende immer die Rechnung zu bezahlen, aber sich einladen zu lassen oder auf getrennten Rechnungen zu beharren, fühlt sich auch falsch an. Langsam entfremden wir uns. Wir verstehen das, dieser plötzliche Reichtum ist eine Zumutung für sie, wir hatten schließlich auch vorher schon alles, was wir brauchen. Niemand denkt: Das haben die jetzt aber wirklich mal verdient! Die Freunde mit dem kleinen Café haben sich inzwischen getrennt und reden auch nicht mehr mit uns, das Café gibt es nicht mehr.
Ich überdenke meinen Beruf. Ist der wirklich Berufung? Jetzt, da ich nicht mehr arbeiten müsste, fällt es mir schwer, mir für wenig Geld gute Texte abzuringen. Ich will nur noch machen, was mich erfüllt. Aber was könnte das sein? Ich mache erst mal gar nichts. Mein Mann kündigt, haut sich ein paar Wochen auf die Couch und liest ein Buch nach dem anderen, davon hat er schon immer geträumt. Dann will er einen Roman schreiben. Ich sollte vielleicht etwas Ehrenamtliches tun. Mit Kindern aus armen Familien. Aber in Wahrheit mag ich Kinder gar nicht so gern, außer meine eigenen. Und Spaß sollte es ja auch machen. Also fange ich an, Kunst zu sammeln, da hilft man ebenfalls Menschen, die wenig Geld haben, und hat gleichzeitig etwas, womit man die große neue Wohnung dekorieren kann.
Bei der Hochzeit von Cousin L. kommt es zum Eklat, weil unser Geldgeschenk in den Augen der Braut nicht großzügig genug ausfällt. Meine Mutter lässt mich wissen, dass es dem Familien-frieden zuträglich wäre, wenn wir den Brautleuten bei der Finanzierung ihres Eigenheims unter die Arme greifen könnten. Mein Bruder erzählt, dass er sein Medizinstudium geschmissen hat und mit unserem Geld jetzt groß beim Onlinepoker einsteigt.
Die Kinder schreiben schlechtere Noten in der Schule, sie scheinen antriebslos. Hängen nur noch vor ihren Smartphones. Wenn wir sie ermahnen, sich mehr anzustrengen, zucken sie mit den Schultern und blaffen uns an, wir Erwachsenen würden auch den ganzen Tag nur rumhängen. Ich fühle mich schuldig und überweise schnell eine Spende an »Save the Children«.
Mein Mann und ich streiten uns jetzt viel. Er kommt mit seinem Roman nicht voran und findet die Kunst unsäglich, die ich anschleppe. Ich finde, er ist viel zu großzügig mit seinem bescheuerten besten Kumpel, dem er ständig Geld schenkt. Er fragt mich, was mich das angehe, und ich erinnere ihn daran, dass es ja MEIN Lottoschein war, der uns diesen Gewinn beschert hat. Mein Mann schreit, er könne nicht länger ertragen, dass wir hier nur noch über Geld reden. Ich knalle die Wohnungstür zu und gehe zur Vernissage eines jungen, gut aussehenden Künstlers, von dem ich schon einige Arbeiten gekauft habe, ganz ohne Hintergedanken natürlich. Später sitze ich mit ihm und seinen Künstlerfreunden in einer Kneipe und klage ihnen mein Leid: wie anstrengend es ist, plötzlich sehr viel Geld zu haben. Sie schauen mich mit großen leeren Augen an, und ich gehe doch früh nach Hause.
Die Kinder eröffnen uns, dass sie unsere Streiterei nicht mehr aushalten und ins Internat wollen. Mein Mann findet, es sei vielleicht besser, wenn er sich eine eigene Wohnung ein paar Straßen weiter zulegt, dann hätte ich in meiner auch mehr Platz für Kunst, und er hätte mehr Ruhe für seinen Roman. Nein, seine Personal Trainerin, dank der er in den vergangenen Wochen den Sport wieder für sich entdeckt hat, habe damit rein gar nichts zu tun. Ich rufe eine von meinen neuen Freundinnen an, doch die ist gerade beim Heli-Skiing in den Rocky Mountains und hat keine Zeit, empfiehlt mir aber ihren Scheidungsanwalt. Ich rufe eine von meinen alten Freundinnen an, aber die hat keine Zeit, weil sie arbeiten muss, was jemand wie ich ja vermutlich kaum nachvollziehen könne, wie sie mir noch mit auf den Weg gibt. Jetzt sitze ich allein in meiner großen Dachgeschossmaisonette auf meiner Designercouch, trinke allein eine Flasche Champagner aus unserem acht Kubikmeter großen Weinkühlschrank und heule in die Seidensofakissen.
Ende des Tagtraums. Und wenn jetzt wieder die Lottozahlen gezogen werden, schaue ich zufrieden auf meinen Lottoschein und bin dem Schicksal dankbar, dass mir all das einmal mehr erspart bleibt. Wobei, ein neues Auto …
Illustration: Leonhard Rothmoser