Die beste Freundin
Sie fiel mir sofort auf, eine zarte Person mit feinen rötlichen Locken und einem messerscharfen Verstand. Ich recherchierte zum Thema Paragraf 218 und führte Interviews bei F.R.A.U., dem »Forum zur restlosen Abschaffung der Unterdrückung«. Sie gehörte zu den Gründerinnen. Das ist 32 Jahre her. Unsere Freundschaft begann mit Briefen. Als sich die Gruppe im Sommer nicht mehr traf, haben wir angefangen uns zu schreiben. Schöne, altmodisch lange Briefe. Natürlich ging es zunächst überwiegend um unser großes politisches Thema, die Frauenemanzipation. Aber es ging immer auch um uns.
Sie war sechs Jahre jünger, studierte Kunstgeschichte, hatte ein größeres Wissen und war viel radikaler als ich. Ich arbeitete schon seit zehn Jahren und besaß mehr Erfahrung. Ich lernte von ihr und sie von mir. Sie bestürmte mich mit Fragen. Einer ihrer häufigsten Sätze: »Wie denkst du darüber?« Ich fühlte mich herausgefordert, auserwählt und auf eine ganz besondere Weise geliebt.
Es war eine spannende Zeit. Wir heckten Aktionen aus und waren auch bei der großen Stinkbombenattacke dabei, als der Pornofilm Die Geschichte der O. ins Kino kam. Auf ein Zeichen hin verpesteten etwa ein Dutzend Frauen die Luft im Saal. Offenbar nicht genug. Die meisten Besucher blieben sitzen. Wir machten uns davon. Nur meine Freundin kam auf die Idee, sich an der Kinokasse das Geld zurückgeben zu lassen.
Nach dem Studium zog sie fort aus Hamburg, promovierte, habilitierte sich, schrieb Bücher. Ich war als Journalistin ähnlich eingespannt, immer unterwegs. Es gab Jahre, in denen wir uns nicht oft sahen, aber wir haben nie aufgehört, uns zu schreiben. Und manchmal, wenn ich mich zu lange nicht gemeldet hatte – sie war die Verlässlichere! –, stürzte ich ans Telefon, um mich zu vergewissern, dass die Freundschaft nicht gelitten hatte.
Natürlich war unsere Beziehung auch immer ein bisschen erotisch eingefärbt. Aber das war etwas, was zwischen den Zeilen schwebte, mehr wie ein Duft. Vielleicht, wenn wir uns in einem anderen Jahrhundert begegnet wären, unglücklich verheiratet mit adligen Grobianen, einsam und hungernd nach Zärtlichkeit – ja, das hätte ich mir vorstellen können.
Wir haben beide noch andere Frauenfreundschaften, die uns viel bedeuten. Aber unsere Freundschaft ist über all die Jahre so geblieben, wie sie war, ein bisschen anders und sehr kostbar. Diese intensive Zeit, die wir zusammen erlebt haben, hat uns geprägt. Seit wir wissen wollten, wer wir sind, wenn wir den männlichen Blick mal ausblenden, nehmen wir Frauen anders wahr. Das hat uns ganz allgemein empfindsamer und empfänglicher gemacht für Frauenfreundschaften. Daran werden wir uns noch wärmen, wenn wir steinalt geworden sind. Ingrid Kolb
Achtzehn Freunde braucht der Mensch
Er stellte mich seinen Freunden vor als – eine gute Freundin. An jenem Abend fiel mir auf, wie inflationär Freundeskreise wachsen. Wäre es nicht so altmodisch, ich hätte gern gesagt: Wir sind nur Bekannte. Weder kennen wir uns lang noch rufen wir uns nachts an, ersetzen Psychotherapeut oder Ehemann und wir könnten auch nicht nach langer Sendepause den anderen einfach mal bitten, den Boden in der neuen Wohnung abzuschleifen. Und ähnliche Absurditäten aus reiner Seelenverwandtschaft beziehungsweise Gewohnheit fordern, was bei einer von Zweck und Zeit abgelösten Freundschaft irgendwann fast auf das Gleiche hinausläuft. Oder was ist Freundschaft überhaupt?
Kürzlich las ich, der moderne Mensch braucht durchschnittlich achtzehn Freunde, um gut durchs Leben zu kommen (nach Ray Pahls soziologischer Studie von der Essex University). Das Thema Freunde und das weite Feld der Freundschaftsforschung haben Konjunktur, seit der Soziologe Ulrich Beck den »zur Wahlfreiheit verdammten Inszenator des eigenen Lebenslaufs« erkannte. Was heißt: Such dir besser ein paar Freunde, wenn Familie, Arbeit oder das Bankkonto keinen Halt mehr geben. Aber so einfach ist das nicht, dass man Freunde fürs Leben hat, ohne Hintergedanken und Verfallsdatum, wie noch bei Aristoteles ganz ethisch gedacht: »Freundschaft, das ist eine Seele in zwei Körpern.« Unaufkündbar.
So hart es klingt, Freunde müssen heute einfach nur funktionieren und akut entstehende Lücken füllen. Deshalb hat man am besten möglichst viele. Ich habe nachgerechnet, wie die meisten Deutschen kam ich nur auf drei gute Freunde. Aber vermutlich ist das völlig überholt, zwischen Geliebten, Freunden, Bekannten, Verwandten und Kollegen zu unterscheiden. Es scheint sich jedenfalls eine radikaldemokratische Kultur der Freundschaft etabliert zu haben, in der jeder mit jedem gut Freund sein will. Der Freundschaftsbegriff ist sehr elastisch geworden.
Ich habe nun kürzlich meinem Nachbarn die Freundschaft angeboten, als er mir wieder mal mit einem bei mir fehlenden Lebensmittel aushalf. Jetzt bin ich, mal grob durchkalkuliert, auch bei achtzehn Freunden, das müsste doch reichen bei der nächsten Sintflut, zumindest im Fall kleinerer Katastrophen, oder? Sabine Magerl
Es ist vorbei
Es war beim Karatetraining, als ich Florian zum ersten Mal sah: Überlegen lächelnd tänzelte er um einen wesentlich größeren Gegner. Wir kamen beide vom Lande, aber dennoch aus zwei verschiedenen Welten: Florian war klein, flink und drahtig, ich groß, verträumt und schlaksig. Er ging in die Lehre, ich aufs Gymnasium. Sein Vater arbeitete als Tischler, meiner als Physiklehrer. Trotzdem wurden wir Freunde.
Ich bewunderte Florians Kampfkunst, seine Zuverlässigkeit, seine geradlinige Art. Ihn reizte mein Zugang zu Literatur, Musik, Partys. Und obwohl er erwachsener war als ich, passte er sich nach und nach meiner Welt an: Er begann Hermann Hesse zu lesen, ging mit mir auf Rockkonzerte und plante sogar, die Dachgeschosswohnung im Haus seiner Eltern zu verlassen, um im Ausland zu arbeiten. Seine Mutter führte diese »Flausen im Kopf« auf meinen schlechten Einfluss zurück. Sie konnte mich nicht sonderlich gut leiden, argwöhnte sogar, ihr Sohn sei in mich verliebt.
Während des Zivildienstes hörte ich mit dem Karate auf. Es gab nun Wichtigeres: Ich zog nach Berlin, in die große Stadt. Florian wollte auch weg, doch er kam nicht weit: Sechzig Kilometer von daheim entfernt nahm er sich ein WG-Zimmer, schrieb sich an der Uni ein, gab sich studentisch und strich seine Wände orange.
Dann kam das Pech über ihn: Er fuhr sein Auto zu Schrott, machte Schulden und musste zurück aufs Dorf gehen. Während ich Berlin erkundete, reparierte Florian beim Dorfelektriker alte Fernseher. Ich riet ihm, von zu Hause auszuziehen und doch endlich ins Ausland zu gehen. Aber er versuchte es nicht einmal. Stattdessen verfiel er in die dörfliche Jammermentalität. Statt Hesse zu lesen, klagte er nun über den Euro, die Arbeitslosen und die Herren Politiker. Auf die Frage »Wie geht’s?« antwortete er immer häufiger mit: »Muss ja.« Mit dem Karate hatte er längst aufgehört.
Irgendwann konnte ich sein Gejammer nicht mehr ertragen. Wir telefonierten nur noch alle drei, vier Monate. Schließlich gratulierten wir einander nicht mal mehr zum Geburtstag. Als er mich an jenem Silvesterabend noch einmal besuchte, hatten wir uns nicht mehr viel zu sagen. Der Dorfelektriker hatte ihnentlassen, die Arbeitslosigkeit ihn gebrochen. Genügt Mitleid als Basis für eine Freundschaft? Nein. Wir haben beide aufgehört zu kämpfen: er um ein anderes Leben und ich um unsere Freundschaft. Stephan Droske
Wir schreiben uns
Ich habe einen Schwung guter Freunde, aber Georg ragt aus ihnen in zweierlei Hinsicht heraus: Er ist der Einzige, von dem ich seit mehr als zehn Jahren fast jeden Tag höre. Und er ist der Einzige, den ich in dieser Zeit so gut wie nie gesehen habe.
Es begann damit, dass Georg in den Frühzeiten des Internets ein Online-Projekt aufzog und Anfängern Hilfe anbot. Damals waren wir in Mails noch per Sie. Irgendwie müssen wir uns sympathisch gewesen sein, denn wir schrieben einfach weiter, tauschten uns aus über Hobbys, Börsentipps und Computerfragen. Unser Kontakt wurde zunehmend persönlicher. In einer abendlichen Mail aus dem Urlaub nannte er mich auf einmal »Frank«: Er hatte mehrere Gläser Rotwein getrunken.
Seitdem müssen wir weit mehr als zehntausend E-Mails ausgetauscht haben, oft mehrmals am Tag, über Belanglosigkeiten, große Themen, Neuigkeiten aller Art. Und auch die Umwälzungen des Lebens bekamen wir voneinander mit. Die späte Heirat, der Hauskauf, der Alltagsstress mit der Erziehung – unser Wissen voneinander ist einerseits umfassend und andererseits sehr diskret. Vielleicht ähneln wir zwei älteren Herren in einem britischen Club, die sich enorm schätzen, aber dem anderen nie zu nahe treten würden.
Natürlich hätten wir uns auch mal treffen können in diesen zehn Jahren. Immerhin wohnten wir nur ein paar Kilometer auseinander. Es musste nur einfach nicht sein, wir kannten uns ja auch so. Und dann trafen wir uns doch: bei einem Auftritt von Harald Schmidt in Nürnberg. Georg hatte eine Karte übrig und fragte, ob ich Lust habe. Da Schmidt in unserem Gedankenaustausch stets gern gesehenes Objekt war, erschien der Anlass passend. Wir verbrachten einen netten, unaufgeregten Abend, was uns schon zuvor klar war. Seitdem wird wieder gemailt. Ob wir uns mal wieder treffen? Keine Ahnung. Kann sein. Muss aber nicht. Frank Müller
Der »Harry und Sally«-Komplex
Es gibt Leute, die behaupten: Zwischen Mann und Frau kann es keine Freundschaft geben. Mann und Frau langweilen einander oder sie haben doch irgendwann Sex, wie in dem Film Harry und Sally. Ich halte T. dagegen. Ein schöner Mann, das gleich vorweg, ein bisschen Alain Delon, ein bisschen Rex Gildo, je nach Geschmack. T. ist mein Freund. Mit ihm will ich keinen Sex. Ich will ihn auch nicht heiraten. Schließlich ist seine Frau meine Freundin. Deshalb weiß ich, dass er sich niemals für gebügelte Hemden bedankt und ausflippt, wenn sie die Straßenkarte falsch liest.
Vielleicht ist T. ein durchschnittlicher Ehemann. Aber sicher ist er: ein aufmerksamer Freund. Er sieht von weitem, dass ich frische Strähnen im Haar habe, und ruft: »Hey, deine Haare sehen schön aus!« Seiner Frau macht er nicht so leicht ein Kompliment, weil er findet, er hätte mal wieder eins verdient. T. und ich können miteinander jedenfalls gut großzügig sein.
Letzten Sommer hat T. mich nach Paris begleitet. Wir kennen uns seit zwanzig Jahren, haben zusammen Transparente gegen Krieg gemalt, in seinem Wohnzimmer Fußball-WMs verfolgt, weiß Gott wie oft in unserer Kneipe gestanden, Bier getrunken und intime Sachen besprochen. Wir waren noch nicht an der französischen Grenze, da brachte er ein bisschen nervös vor, wir würden bei seinen Freunden in einem Zimmer schlafen, wir sollten uns am besten jetzt schon darauf verständigen: kein Sex. Ich starrte ihn von der Seite an. Bezweckte er, dass ich ihm widerspreche? »Ich will nur, dass du dich nachts im Bett nicht vor mir fürchtest«, murmelte er in meine Verwunderung hinein. »Ach so!«, rief ich. Das war unser einziges Grundsatzgespräch über Sex.
Wir hatten eine gute Zeit in Paris. T. war es egal, dass er sich dauernd verfuhr, weil ich die Karte nicht richtig lesen konnte. Kein böses Wort, dass er vier Stunden im Regen auf mich warten musste. Unsere Betten rückten wir in der Nacht auseinander – da lagen wir im Dunkeln und er plauderte über Kommunalpolitik. Wie oft hat er sich bei mir beklagt, dass seine Frau einschläft, wenn er sie für seine Themen begeistern will! Ich begeisterte mich ein bisschen, dann sagte ich freundschaftlich: »Es wird langweilig.« Das ist der wesentliche Unterschied zwischen einer Liebesbeziehung und einer Freundschaft: Man sagt etwas Beleidigendes, aber ein Freund kommt gar nicht auf die Idee, deshalb beleidigt zu sein.
Nur einmal lag die Freundschaft brach. Ich war in einen Mann verliebt, der T. misstraute. Er sagte: Wenn ein Mann mit einer Frau regelmäßig ein Bier trinken will, dann will er mit ihr ins Bett. T. und ich trafen uns kaum noch, er wollte mir meine neue Liebe nicht vermasseln. Er schickte mir von einer Radtour eine Postkarte, darauf ein Paar dampfende Weißwürste, ein Bier und eine Prophezeiung von Wilhelm Busch: »Es blüht die Wurst nur kurze Zeit, die Freundschaft blüht in Ewigkeit! Dein Freund T.« Teil eins ging bald darauf in Erfüllung. Nina Poelchau
Ein schlechter Freund
Es war am Ende einer langen Nacht, als ich dachte, dass ich kein guter Freund bin. Ich war müde, das lag nicht daran, dass es morgens um sechs war. Mir gegenüber saß der, den ich damals als besten Freund bezeichnet hätte. Es ging ihm nicht gut. Er hatte Ärger mit seiner Freundin und erzählte mir von seinen Träumen, seinen Zweifeln und davon, dass beides nicht zusammengehe. Dann machte er eine Pause, in der ich, der Freund, das große Missverständnis zwischen ihm und der Welt ausräumen sollte. Und ich? Wurde unendlich schläfrig. »Na ja, wird schon«, sagte ich dann.
Mit mir als Freund erlebt man nur Enttäuschungen. Ich rufe so gut wie nie zurück, erfinde schlechte Ausreden, warum ich mich nicht treffen kann. Gespräche über Liebeskummer ersticke ich in Schweigen, bei Problemen mit dem Chef zucke ich die Schultern und über Eltern möchte ich erst recht nichts hören. Möglich, dass solche Gespräche unter Freunden wichtig sind, aber ich habe keine Ahnung, was andere tun sollen, wenn sie nicht weiterwissen. Also sage ich nichts.
Vielleicht aber wollte der Freund morgens um sechs gar nicht die Welt erklärt bekommen. Vielleicht reichte es ihm einfach auch schon, dass ich zugehört habe, dass ich da war. Vielleicht bin ich gar kein schlechter Freund. Alexander Runte
Weißt du noch, damals ..?
Ich habe sicher ein Dutzend guter Freunde, aber keiner von ihnen kennt mich ganz, alle kennen nur einen Teil von mir. Woran das liegt? Weil ich sie in verschiedenen Städten, in verschiedenen Lebenslagen, in verschiedenen Altersstufen kennen gelernt habe. Es ist ein bisschen wie bei einer Jukebox. Genau wie die für jede Stimmung die richtige Single im Repertoire haben muss, halte ich für jeden meiner Freunde die passende Facette meiner Persönlichkeit bereit: mal Heavy Metal, mal Schmusepop, mal Violinkonzert.
Zum Beispiel Christoph: Christoph ist mein ältester Freund, ein Evergreen. Mit ihm habe ich die schönsten Jahre verbracht: auf dem Land, an Baggerseen, in Discos, die Moonlight oder Vanity hießen. Das war früher. Heute ist alles anders. Ich habe vor kurzem meine zehnte Wohnung in der fünften Stadt bezogen, Christoph hat geheiratet, Kinder bekommen und wohnt im Haus neben dem seiner Eltern. Jedes Jahr, wenn ich an Weihnachten zu Hause bin, treffen wir uns, trinken eine Menge Bier, lachen viel und sprechen von früher. »Weißt du noch, damals ..?«, so beginnen unsere Sätze.
Wahrscheinlich wäre unsere Freundschaft zu Ende, wenn er auf einmal vor meiner Tür stünde, ein paar Tage mit mir in der Stadt verbrächte, um nachzusehen, wie ich lebe. Wahrscheinlich fände er mich seltsam oder oberflächlich und meine Freunde komisch. Das Gute: Christoph wird nie vor meiner Tür stehen. Denn zum Glück wissen wir beide: Was uns zusammenhält, ist nur die Vergangenheit. Wenn wir Freunde bleiben wollen, muss das auch so bleiben.
Meine Freundeskreise haben keine Schnittmengen oder Berührungspunkte, sie existieren wie unabhängige Planeten. Mit meinem Münchner Kollegen Julian gehe ich in Fußballstadien und schreie mir die Seele aus dem Leib, mit Sarah aus Hamburg stehe ich auf Vernissagen herum und nippe an Weißweingläsern, mit meiner ehemaligen Kommilitonin Katharina aus Würzburg gehe ich in die Oper, mit Goldi aus Berlin in den Techno-Club und tue verbotene Dinge, von denen ich Katharina nie erzählen dürfte. Es gibt übrigens eine Person, mit der mache ich all diese Dinge zusammen, sie weiß alles von mir. Es ist die Frau, die ich liebe. Tobias Haberl