Gerade haben Jonathan und Kassandra – die vollen Namen sind der Redaktion bekannt – ihre Gäste verabschiedet. Es war eine der großen Dinnerpartys, die sie gelegentlich für ihre Freunde und Bekannten geben. Jonathan, der Arzt, hat, wie immer bei solchen Veranstaltungen, kaum etwas Persönliches von sich preisgegeben und sich hinter seiner Wortgewandtheit verschanzt; er hat ironische Kommentare zu den Themen des Abends beigesteuert, Anekdoten aus dem Krankenhausbetrieb erzählt und die Runde bestens bei Laune gehalten. Seine Freundin Kassandra, die PR-Managerin, ist eine umsichtige Gastgeberin gewesen, hat stets ein Auge darauf gehabt, dass sich alle am Tisch gut unterhalten, hat denjenigen, die gerade nicht ins Gespräch eingebunden waren, die richtigen Fragen gestellt; sie war wieder einmal eine perfekte Organisatorin des Abends.
Jetzt stehen die beiden in ihren Schlaf-T-Shirts im Badezimmer, und mit einer hohen, leicht verzerrten, an die ZDF-Mainzelmännchen erinnernden Stimme sagt Jonathan zu Kassandra: »Kassi, meine Kleine, gib doch mal dem Joni seine Zahnbürste, liebe liebe Kassuela«, und sie reicht sie ihm mit
den Worten: »Da, mein Jonilein, und putz dir deine Zähnchen ganz doll, ja, damit der böse Kariesmann dir heut Nacht keine Löcher reinbohrt.« Später, als sie schon im Bett liegen, tönt es von Jonathans Seite herüber: »Du, Kassilein, der kleine Joni seiner hat jetzt doch noch ein Hüngerchen«, worauf seine Freundin sagt: »Och, kleiner Herr Joninger, soll dir deine Kassi noch ein Hühnerbeinchen holen? Warte mal, mein Urmelchen, ich geh gleich zum Kühlschrank.« Aus den Profi-Performern der Abendgesellschaft sind innerhalb von Minuten zwei Insassen des Ikea-Kinderparadieses geworden, die alle Würde, alles Sprachvermögen haben fahren lassen.
Was treibt so viele Liebespaare dazu, nach längerer oder auch bestürzend kurzer Zeit vorwiegend in Babysprache miteinander zu reden? Unabhängig von Alter, Bildung oder der Anwesenheit von Kindern im Haushalt scheint sich diese Manier durch alle sozialen Schichten zu ziehen; in der Welt der Lieben-den tummeln sich Heerscharen von Vorschülern, die von den komplexen Regeln der Grammatik und Syntax noch überfordert sind. Es ist ein Rätsel: In beruflichen Zusammenhängen oder bei Treffen mit Freunden ist Kommunikation für die Beteiligten eine hochdifferenzierte Angelegenheit, die Satz für Satz zahlreiche feine Denkoperationen erfordert; es gilt im Sprechen, Nähe und Distanz zum anderen gut auszutarieren,
weder verschlossen noch allzu offenherzig zu wirken, Floskeln und Jargons entweder zu vermeiden oder bewusst und ironisch in die Rede einzustreuen. Sobald sich dieselben Menschen jedoch in der Zweisamkeit ihrer Liebesbeziehung einnisten, fallen sie vom elaborierten Code in ein stammelndes Gemenge von Kiekslauten, Verniedlichungsformen und falschen Konjuga-tionen. Kassandra etwa hat sich neuerdings angewöhnt, das g und k aus den meisten Wörtern in ein d zu verwandeln; »bin andedommt«, ruft sie Jonathan abends zu, wenn sie zur Wohnungstür reinkommt, und aus der Küche quäkt sie: »Hab uns Kaffee dedocht, mein dicker dleiner Brummbär, willst du auch einen?« Jonathans Spezialität wiederum ist es, nicht mehr »Ich« zu sagen in seinen Sätzen, sondern auf eine Subjektkonstruktion zurückzugreifen, die unter zirka Dreijährigen beliebt ist: »Der kleine Joni seiner will ganz ganz gern ein Tässchen Kaffee trinken, Katutsi«, sagt er, »der Joni seiner würde am liebsten auch ein großes Stück Apfelkuchen dazu haben. Und ein Schmatzi von seinem Katutsilein.«
Das alles ist schwer zu ertragen. Glücklicherweise begnügen sich die meisten Paare damit, ihren Babytalk nur dann aufzufahren, wenn kein Dritter in der Nähe ist. Nur manch-mal im Büro, wenn sich eine Kollegin am Telefon von den anderen abwendet und leise eine Reihe von Kosenamen in den Hörer wispert, oder bei besonders hartgesottenen Paaren, die ihre lallende Selbstvergessenheit auch in der Öffentlichkeit nicht disziplinieren können, bekommt die Außenwelt etwas mit. (Und diesen Momenten ist es ja zu verdanken, dass man von dem Phänomen, abseits der eigenen Erfahrungen, überhaupt weiß.)
Die Frage lautet aber, ob Babytalk wirklich nur ein reines Sich-gehen-Lassen ist, Teil jener kontinuierlichen Verwahrlosung der Kommunikation, wie man sie von den Beteiligten langjähriger Liebesbeziehungen ohnehin gewöhnt ist. Oder geht es weniger um eine Schrumpfstufe des Sprechens als vielmehr um einen schöpferischen Prozess, der bestimmte Funktionen innerhalb einer Beziehung hat?
Der Babytalk von Liebespaaren ist in den dafür zuständigen Wissenschaftsbereichen, der Psychologie und der Linguistik, so gut wie unerforscht. Direkt zum Thema gibt es offenbar nur einen einzigen Aufsatz, von der englischen Psychologin Wendy Langford, die 1997 die vor infantilen Wendungen strotzenden Valentinstags-Botschaften in Londoner Tageszeitungen untersucht hat. Vereinzelte Publikationen, auch im deutschsprachigen Raum, finden sich dagegen über die generelle Sprache von Liebespaaren. Die einschlägige Studie wurde 1978 von dem Schweizer Anglisten Ernst Leisi veröffentlicht, das noch heute aufgelegte Buch Paar und Sprache, in dessen Einleitung es heißt, »dass Paare unter sich meist eine besondere ›Sprache‹, eine Art Privatcode gebrauchen, der sich im Lauf der Beziehung entwickeln und fortbilden kann«.
Zumindest auf der Ebene der Namensgebung ist dieser Privatcode (und seine Neigung zum Kindlichen) in vermutlich jeder Beziehung wirksam. Der geliebte Mensch wird mit einer Fülle von Koseworten umgeben, abgeleitet vom Vornamen, einem Tier, einer Blume oder auch einem Fantasielaut. Viele greifen natürlich auch auf die allgemein bekannten Kosenamen wie »Schatz« oder »Liebling« zurück (bei denen man sich immer fragt, warum die nach eigenem Bekunden so unvergleichliche Liebesbeziehung in der Anrede auf millionenfach benutzte Standards vertraut).
Eigentümlich ist, dass sich diese Kosenamen ständig in Bewegung befinden, dass rund um den Wortstamm immer wieder neue Endungen, neue Varianten ersonnen werden. Jonathan hat für den Namen Kassandra mittlerweile bestimmt dreißig oder vierzig Abwandlungen gefunden, die er ihr in einem Brief auch einmal alle auflistete. Eine Arbeitskollegin von Kassandra hat für ihren durchtrainierten Freund am Anfang den Kosenamen »Mucki« benutzt; daraus wurde im Lauf der Jahre erst »Muckiducki«, dann, nach einem Frankreich-Urlaub, »Le Muc«; jetzt ist sie bei »Herr Mucken-thaler« angelangt. Ein Bekannter von Jonathan wiederum hat ihm mal gestanden, dass er und seine Freundin sich gegenseitig mit »Babyfuchs«, »Fuchsenbaby« und tatsächlich sogar »Babyzwergenfuchs« anreden; Mails und SMS-Nachrichten unterschreiben sie mit »Bfx«.
Der Grund, warum diese Fülle existiert, warum die vielen Kosenamen ihrerseits noch einmal unablässig variiert werden, hat vielleicht damit zu tun, dass man den wirklichen Namen des Geliebten zunehmend wie etwas Heiliges bewahrt, dass es eine Scheu vor dem Aussprechen des Namens gibt, so als würde man die Liebesbeziehung durch dessen Erwähnung entweihen. Die wenigen Gelegenheiten, in denen der wirkliche Name noch fällt, sind dagegen feierlichen Ritualen vorbehalten: dem Einritzen einer Liebesbotschaft in einen Baumstamm, dem Eingravieren des Namens auf dem Verlobungsring, dem Jawort in der Kirche.
Der Privatcode jedes Liebespaars ist sehr stark ausgeprägt – man muss nur einmal eine SMS oder eine Mail an die eigene Freundin oder den eigenen Freund lesen und sich vorstellen, was für einen Dritten noch verständlich wäre in dieser Aneinanderreihung von Kosenamen und Geheimzeichen. Der Sinn der Worte erschließt sich nur für Adressat und Empfänger; ihr Gebrauch verdankt sich einem gemeinsamen Erlebnis, einem Versprecher oder auch nur einer Laune des T9-Programms im Handy. (Jonathan wollte in einer der ersten SMS-Nachrichten an Kassandra »Küsse« schreiben, und das Programm zeigte »Kurse« an; seitdem ist »Viele Kurse« ihre Grußformel unter fast jeder SMS).
Ernst Leisi hat die Aufgaben dieser Privatsprache in seinem Buch untersucht. Sein Hauptargument ist, dass der Code, in den kein Dritter eingeweiht werden darf, die Vertrautheit eines Paares stärkt, seine Verschworenheit gegenüber dem Rest der Welt. Die einzigartige Verbindung, in der man zu dem Menschen steht, äußert sich in einem Vokabu-lar, das allen anderen unzugänglich bleibt.
Worüber aber auch Leisi nichts sagt, ist der Umstand, dass dieser Privatcode so häufig ins Infantile kippt. Kassandra, die in ihrem Arbeitsumfeld als besonders hart und kompromisslos gilt, die ihre Vorträge in geschliffener Diktion hält und auch in den anschließenden Diskussionen mittlerweile eine souveräne Rhetorik entwickelt hat – mit Jonathan spricht sie unverzüglich eine halbe Tonlage höher und hört sich wie ein hilfsbedürftiges Tierchen an, das aus dem Nest gefallen ist.
Was würde ihr ausgestochener Konkurrent in der letzten Präsentation denken, wenn er wüsste, dass die so toughe Kassandra sich zu Hause gerade mit den letzten Vorbereitungen zu ihrem »Kassilein-und-Urmelchen-Tag« befindet, wie sie und Jonathan den Jahrestag ihres Zusammenkommens von jeher getauft haben? Was würde ihre oft grußlos empfangene Assistentin dazu sagen, dass eines der wichtigsten Liebesrituale mit Jonathan darin besteht, sich bei jeder Gelegenheit – wenn sie am Frühstückstisch Zeitung lesen, wenn sie die Wohnung aufräumen, wenn sie abends vor dem Fernseher sitzen – »Grüß Gott« zuzukieksen, auch wenn keiner von beiden in den vergangenen 24 Stunden das Haus verlassen hat? Es verwundert nicht, dass Wendy Langford diese Kehrseite auch der weltläufigsten Liebes-beziehungen in ihrem Aufsatz »an underground relationship« nennt.
Wenn man sich aber fragt, warum diese Untergrundkultur von so vielen Paaren praktiziert wird, dann muss man bedenken, dass es eben nicht nur um eine Nachlässigkeit der gemeinsamen Sprache geht; Babytalk ist eine der beliebtesten Ausprägungen jenes Privatcodes, von dem Ernst Leisi ja sagt, dass seine Herausbildung sogar als Bedingung einer glücklichen Liebesbeziehung aufzufassen sei. Der Grund für das Umschlagen ins Infantile liegt vielleicht am ehesten darin, dass Sprache auf diesem Weg ihre Funktion verändert: vom Mitteilungscharakter, von der Abbildung der Welt hin zur bloßen Artikulation von Wohlgefühl.
Babytalk steht häufig näher am Laut als am Sinn und ähnelt damit jenen Äußerungen zwischen Liebenden, die gar nichts mehr mit Sprache zu tun haben: all dem Säuseln, Murmeln, Wispern, das Wohlbefinden bekunden soll. Mittels Babytalk wird dieser Zustand der Glückseligkeit gewissermaßen in den Bereich der Buchstabensprache hinübergerettet; für die Selbstgenügsamkeit von Liebespaaren, ihren latenten Autismus, ist diese Entäußerung von Sprache die passende Ausdrucksform.
Letztendlich verwischt Babytalk die Grenzen zwischen den beiden Menschen und markiert das ersehnte Zurückfallen in die sprachlose Geborgenheit der Mutter-Kind-Einheit. (Gerade deshalb macht er auch allen Elementen der Liebesbeziehung ein Ende, die nach einem letzten Rest an Abstand, vielleicht sogar an Fremdheit zwischen zwei erwachsenen Menschen verlangen, vor allem natürlich Sex.)
Babytalk ist aber nicht nur ein schwer zu unterdrückender Effekt langjähriger Nähe; umgekehrt ist das Ende einer Beziehung immer auch gleichbedeutend damit, dass diese Sprache von nun an tabu ist. Sich-Trennen heißt, den Privatcode augenblicklich zu löschen, wieder wie alle anderen miteinander zu reden, und es gehört zu den größten Übertretungen eines ehemaligen Freundes oder einer ehemaligen Freundin, bei einem Wiedersehen oder in einer SMS die alten Kosenamen zu benutzen, in alter Vertrautheit auf ein bestimmtes Geheimwort zurückzugreifen. Vor allem wenn einer der beiden noch nicht ganz über die Trennung hinweg ist, kann ein solches Losungswort des jahrelangen Glücks den schon überwunden geglaubten Schmerz mit einem Schlag zurückbringen. Ein Gesicht verblasst, genauso die Erinnerung an Berührungen; in der gemeinsamen Sprache aber – und sei sie eine Ansammlung infantiler Wendungen – liegt vielleicht die tiefste und dauerhafteste Verbindung, die ein Paar miteinander eingeht.