SZ-Magazin: Sie sind Soziologieprofessorin in Jerusalem – und schreiben, dass Online-Dating nach Marktmechanismen funktioniert. Inwiefern?
Eva Illouz: Das Internet hat den Markt an verfügbaren Partnern sichtbar gemacht. Auf Tinder sieht man alle möglichen Sexualpartner in einem Radius von drei Kilometern. Und wir sprechen von Partnern, die ebenso gewillt sind, sich mit einem einzulassen. Genau diese Möglichkeit, das ganze Angebot zu sehen, macht einen Markt zu einem Markt.
Auf Tinder entscheiden sich Menschen oft in weniger als einer Sekunde für oder gegen potenzielle Partner. Wie verändert das die Art der Partnersuche?
Man könnte sagen, Liebe auf den ersten Blick ist nicht weniger oberflächlich, als sich eine Sekunde lang ein Tinder-Profil anzusehen. Aber das stimmt nicht ganz. Wenn wir Menschen im realen Leben sehen, dann sehen wir alles von ihnen. Wir sehen, wie sie sprechen und sich bewegen. Körper und die Stimme transportieren viele Informationen, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Auf einem Tinder-Profil sieht man dagegen erstens ein Bild, das extrem bearbeitet wurde. Zweitens sieht man ein Bild, das nichts über die Stimme und den sich bewegenden Körper verrät. Ich würde sagen, dass diese Art, Partner zu wählen, extrem starre Standards befördert. Emotionale Entscheidungen werden am Fließband getroffen.
Das eigentliche Versprechen von Online-Dating ist, für jeden Topf einen Deckel zu finden.
Ja, aber zum einen will jeder den gleichen perfekten Topf, der einer standardisierten Definition vom attraktiven Mann oder der attraktiven Frau entspricht, und gleichzeitig suchen manche Leute etwas sehr Spezifisches. Jemanden, der nach Indien gereist ist, Ashrams kennt und vegan isst. Die Leute wollen also beides: ihren Geschmack und konventionelle Schönheits- und Körperstandards befriedigen. Durch mediale Bilder, Schönheitschirurgie und das Internet wurden Körper und Gesichter normiert. Frauen und Männer neigen dazu, sich nach bestimmten äußerlichen Kriterien zu präsentieren. Die Suche nach dem richtigen Topf kann dadurch extrem viel Zeit und Anstrengung kosten. Und je mehr die Menschen suchen, desto unsicherer werden sie dann doch darüber, was sie sich von der anderen Person überhaupt wünschen.
Erste Begegnungen sind oft immer noch von Geschlechterstereotypen geprägt: Frauen warten, Männer machen den ersten Schritt. Auf Tinder müssen beide Personen wischen. Liegt im Netz das Potenzial, sich gleichberechtigt anzunähern?
Das Internet betont einerseits die Asymmetrie der Geschlechter in heteronormativen Beziehungen, indem es das Aussehen von Frauen überbetont, als Objekt für den männlichen Blick. Tinder und andere Apps verstärken also, was an Heterosexualität nicht stimmt. Auf der anderen Seite gehen Frauen auf Männer zu: Sie schicken ihnen Nachrichten, ein Zwinkern. Sie werden Initiatorinnen, ohne ihren Status als Frau zu gefährden. In Frankreich gibt es sogar Dating-Seiten, die sich als feministisch verstehen, weil die Männer nur da sind, um von Frauen ausgewählt werden. Aber wollen wir so einen Feminismus? Ich glaube nicht, denn das wäre der Feminismus einer Einkäuferin. In den Siebzigerjahren hat der Feminismus die individuelle Wahl ins Zentrum gestellt. Ich glaube, darüber sind wir hinaus.
Dieser Text ist Teil unserer Ausgabe 24/2019, in der wir 50 Persönlichkeiten vorstellen, die das Internet geprägt haben.