Der Mann ging zu einer Vernissage in einer Bar, die auch eine Galerie war. Die Mitbewohnerin des Mannes hatte ihn dort hinbestellt. Sie wollte ihm jemanden vorstellen, der gerade in der Stadt war: eine Frau, von der die Mitbewohnerin glaubte, sie könnte ihm gefallen, sie würde zu ihm passen, vielleicht. Für Frauen, die ihm vielleicht gefallen könnten, war er immer zu haben. Die Mitbewohnerin aber war dann verhindert, sie kam nicht. Niemand wurde dem Mann vorgestellt. Er trank allein ein Bier und ging nach Hause. Ein, zwei Tage versuchte er sich vorzustellen, wie sie wohl ausgesehen hätte, bald aber dachte er nicht mehr an sie. Das Leben ging weiter.
Eine Weile später stolperte er über einen seltenen Vornamen. Ihren Vornamen. In einer E-Mail, die eine Einladung war für eine Vernissage. Er schrieb ihr eine Mail, fragte sie, ob sie sie sei. Sie schrieb zurück: Ja, sie sei die, die er meine, die Bekannte seiner Mitbewohnerin. Er schrieb ihr erneut. Sie antwortete. Er fand, sie hatte einen guten Humor. Er fand, sie schrieb sehr schön. So ging es hin und her. Irgendwann fingen sie an zu chatten. Er schrieb ihr auch Briefe. Sie ihm ebenfalls. Er schickte ihr selbstgebrannte CDs mit seiner Lieblingsmusik und gab sich sehr viel Mühe bei der Gestaltung der Covers. Sie schickte ihm Zeichnungen von Haustieren, die sie nicht hatte. Er war viel unterwegs, und überall sah er Dinge, die er ihr schenken wollte: Er kaufte Turnschuhe in Tokio und brachte das Paket zur Post. In Chicago bei einem Juwelier zwei Ringe aus Silber mit jeweils einem Namen: ihrem, seinem. Er schickte ihr den Ring, der seinen Namen trug. Sie streifte ihn manchmal auf den Finger, heimlich. Sie war in einer festen Beziehung, seit Jahren. Es war kompliziert. Sie lebte in Berlin. Er in Basel. Er trug den Ring mit ihrem Namen ständig. Wenn jemand fragte, was dieser Name auf seinem Ring bedeutete, dann sagte er: Das ist der Name meiner Frau. Er fand, das klang gut: meine Frau.
Nie sahen sie sich. Nie hörten sie ihre Stimmen. Irgendwann tauschten sie ihre Handynummern und fingen an, sich SMS zu schreiben, in einem Monat 848 Stück.
Sie gingen ins Kino. Sie in Berlin, er in Basel. Sie gingen in denselben Film. Der Film im Kino Berlin fing eine Viertelstunde früher an. Sie sahen den Film und schrieben sich SMS. »Achtung, das rote Auto kracht gleich in die Gemüseauslage eines Ladens!«
Einmal rief sie ihn an. Sie sagte nichts. Er sagte nichts. Er hörte, dass sie irgendwo draußen war, er hörte Vögel zwitschern. Er wollte etwas sagen. Sie wollte etwas sagen. Beide wussten nicht, was sie sagen sollten. Also schwiegen sie. Es genügte.
So ging es zwei Jahre. Briefe. Pakete. SMS. Dann hatte der Mann in Berlin zu tun. Er nahm ein Hotelzimmer am Alexanderplatz, mit Blick auf den Fernsehturm. Er schickte ihr eine SMS, nur mit der Zimmernummer: »2310«. Eine halbe Stunde später klopfte es an der Tür. Er öffnete. Da stand sie. Was sollten sie tun? Sie schwiegen, hielten sich an den Händen, mehr nicht. Er roch ihr Parfum. Er hörte ihren Atem. Sie waren wie gelähmt. Irgendwann sagte er: »Bitte geh wieder. Wir fangen noch mal an.« Sie ging aus dem Zimmer. Er schloss die Tür. Sie wartete einen Moment, vielleicht eine Minute. Eine Minute ist eine lange Zeit, manchmal. Dann klopfte sie, es klang genau wie zuvor. Er öffnete die Tür. »Komm herein«, sagte er. Sie betrat das Zimmer, dann küssten sie sich.
Das war vor 14 Jahren. Heute haben die beiden zwei Kinder und sie sind glücklich. Der Mann bin ich. Die Frau ist meine Frau.
Illustration: George Butler