Ingo Schulze
»Simple Storys«
Im Mittelpunkt des Werks von Ingo Schulze, geboren 1962 in Dresden, stehen die Folgen der Wende. So auch in »Simple Storys« von 1998: Die Geschichten über einfache Leute aus einer ostthüringischen Kleinstadt nach dem Mauerfall ergeben ein komplexes Bild davon, welche Atmosphäre in der ehemaligen DDR herrschte und welche Sorgen ihre Bürger umtrieben, als plötzlich alles anders war als vorher.
Zuerst sollte ich vielleicht sagen: Es ist nicht so, dass ich oder die anderen aus der Klasse etwas gegen Schriftsteller hätten. Aber die Situation war folgende: Das Buch haben wir immerhin geschenkt bekommen, es kostet knapp zehn Euro. Wir haben es gelesen und dann darüber gesprochen und auch ein Schema erarbeitet, auf dem die Beziehungen der einzelnen Figuren zueinander zu sehen ist. Eine weitere Aufgabe bestand darin, eine Rezension über das Buch Simple Storys zu schreiben. So weit geht das schon in Ordnung, aber wenn man sich vorstellt, dass sich jemand, den wir gar nicht kennen, den wir uns nicht ausgesucht haben, über dessen Charaktereigenschaften wir gar nichts wissen, sich in unsere Klasse setzt, uns beobachtet, alles mitschreibt, was wir sagen – und dann wird das Ganze auch noch veröffentlicht … Das ist schon krass, oder? Und wir müssen Unterricht spielen und so tun, als wäre nix. Das geht doch nicht, finde ich. Genau. So haben wir das schon vorher gesehen, bevor Herr Schulze kam. Das hat nichts mit Herrn Schulze persönlich zu tun. Ich dachte mir noch: Er und der Fotograf – einen Fotografen sollte es auch noch geben – machen das natürlich, weil sie Geld dafür bekommen. Die verdienen richtig gut dabei. Genau!
Am Donnerstagmorgen – immerhin musste er sehr früh aufstehen – habe ich ihn gleich erkannt, wie er da vor der Schule stand. Man hätte ihn für einen Touristen halten können. Unsere Schule ist ja gleich neben dem »Berghain«, neben diesem Club, den die Älteren so geil finden. Um die Schule herum sieht es schon ein bisschen wüster aus als sonst in Berlin, fast wie ein Gewerbegebiet, das nicht fertig geworden ist oder wo man noch nicht so richtig weiß, was daraus noch werden soll. Ich wette, das kommt in seinem Artikel vor, so wie er rumgeschaut hat. Am liebsten hätte ich gefragt, ob er was suche. Aber dann war schon Herr Priebe da, Herr Priebe und sein Kaffeepott und seine Zigarette. Und kaum sahen die Kleinen aus der 7 Herrn Priebe, ihren Klassenlehrer, kamen sie an und hielten ihm die Faust hin – »Gib Ghettofaust«, sagte der Kleine. Das hat den Schriftsteller beeindruckt. Zu seiner Zeit …
Ihn interessierte offenbar alles. Sogar den Spruch, den die vom Abi 2010 ins Treppenhaus gepinselt haben, hat er sich abgeschrieben: »Vielleicht gibt es schönere Zeiten, aber diese ist unsere. Jean-Paul Sartre«.
Dann setzte er sich ganz nach hinten. Warum, weiß ich nicht. Von der Hälfte der Klasse sah er da nur die Rücken. Ich konnte ihn ganz gut beobachten.
Er hat sich kurz vorgestellt und uns gedankt, dass er hier sein darf. Er sprach davon, wie ungewohnt es für ihn sei, einfach mal nur zuhören zu dürfen, weil er ja sonst immer reden muss. Aber das Zuhören wird ihm auch nicht besonders gefallen haben. Wir fingen dann nämlich an, unsere Rezensionen zu lesen.
»Dieser Roman ist keine fesselnde Lektüre«, begann M. »Das Werk enthält weder einen Konflikt noch eine Herausforderung, auf deren Meisterung man wartet.«
Ich weiß nicht, ob es ihm wirklich nichts ausgemacht hat. Man hört ja doch lieber was Gutes über sich als was Schlechtes. Bei Schriftstellern wird das auch nicht anders sein. Aber er hat sich das alles angehört und sich Notizen gemacht. Als die Rezension voranschritt, hat er nur noch einzelne Wörter aufgeschrieben, wenn ich das richtig beobachtet habe.
»Der Leser«, redete M. weiter, »wird beim Lesen in einen kurzen Schock- oder Reizmoment versetzt, indem ihm der Autor durch die Erzählung der Charaktere ein realitätsnahes und detailliertes Schauspiel beschreibt.«
Aber irgendwann hat er aufgehört, sich Notizen zu machen, sich zurückgelehnt und gelächelt. Denn die Rezension nahm eine Wendung, die ich nach diesem Beginn nicht erwartet hatte.
»Hat man sich durch 29 Geschichten durchgelesen und blickt man dann zurück, erkennt man, dass die Beziehungen zwischen den berichtenden Charakteren die Verbindung zwischen den einzelnen Geschichten aufbauen und den Roman wie mit einem Netz zusammenhalten. So berichten letztendlich alle nicht nur über ihr Leben, sondern gemeinsam mit den Erzählungen aus ihrem Leben über die Zeit, die für viele für Unruhe und Ungewohntheit gesorgt hat. Und das macht aus diesem Roman ein einzigartiges, jedoch nicht für alle geeignetes Werk, das durch seine außergewöhnliche neue Struktur aus vielen verschiedenen Perspektiven gelesen und kritisiert werden kann.«
Herr Priebe lobte die Rezension und fragte, ob Herr Schulze etwas dazu sagen wolle. Er vermied es aber, sich direkt zu der Rezension von M. zu äußern. Sinngemäß sagte er, dass es gut sei, wenn ein Buch uns Widerstand leiste, wenn wir nicht auf der Stelle alles verstünden. Er selbst, so Schulze, habe oftmals Bücher weggelegt, die Monate oder ein paar Jahre später genau die richtigen für ihn gewesen seien. Gäbe es diesen Widerstand nicht, sähe ja die Welt in uns genauso aus wie die Welt außerhalb von uns, und wir würden von gar nichts mehr überrascht und zum Nachdenken angeregt. Er findet es also ganz in Ordnung, wenn uns jetzt was nicht gefällt. Vielleicht aber erinnern wir uns später mal daran, und dann sei es die richtige Zeit, es wieder zu lesen. Darauf hat niemand von uns etwas gesagt.
Bei der nächsten Rezension ging es ähnlich. Zuerst dachte ich, das sei ein Verriss: »Die Idee ist nicht übel: Ingo Schulze schreibt 29 Kurzgeschichten, die alle im selben DDR-kurz-nach-der-Wende-Kosmos spielen, nennt sie Kapitel und bastelt damit einen Roman zusammen. Das Problem seines ambitionierten Mosaiks ist jedoch, es funktioniert nicht.«
Ich musste ein Lachen unterdrücken.
»Diese Tristesse und diese Orientierungslosigkeit, die dem Leser begegnen, verantwortet teils auch Ingo Schulzes Schreibstil. Das Ganze wird mit einem kaum mehr unterbietbaren Minimalismus an Emotion, Ausdruck und Atmosphäre dargeboten, das im Leser ein unsentimentales und kaltes Gefühl entstehen lässt.« Herr Priebe nickte anerkennend. »Da der Leser nicht auf Wertungen eines allwissenden Erzählers basieren kann, wird er gezwungen, sich in die Rolle der Charaktere hineinzuversetzen. Normalerweise wird bei so einer Erzählweise erwartet, dass beim Lesen keine sprachlichen Bilder entstehen. Das Gegenteil ist der Fall: Beim Lesen bleiben einige Bilder im Kopf hängen, aufgrund ihrer grotesken Eigenart. Nach der Lektüre erinnert man sich genau, auf welch tragikomische Weise Enrico F. im Treppenhaus verunglückte, und man erinnert sich auch genau daran, wie Martin M. in seinem Taucheranzug verprügelt wird.«
Es trauten sich dann immer mehr, ihre Rezension vorzulesen. Insgesamt, würde ich sagen, ist er mit einem blauen Auge davongekommen.
Später konnten wir ihm dann Fragen stellen. Als P. sagte, er wolle beim Lesen dem Alltag entfliehen, und außerdem möchte er sich mit den Figuren identifizieren, sagte Schulze, dass es ihm gar nicht darum gehe, dass man sich mit einer Figur identifiziere, sondern dass man die interessant finden solle. Und statt dem Alltag zu entfliehen, lese er, um mit seinen Erfahrungen nicht allein zu bleiben. Er hat versucht, das zu erklären. Es gehe ihm um den Alltag. Aber wenn es nun mal viele Alltage gebe? Wir sprachen darüber, was die Mehrzahl von Alltag ist. Zum Glück haben wir ja alle ein Handy unter der Bank …
Ich hätte gern mit Herrn Schulze darüber gesprochen, dass meiner Ansicht nach viel zu viel geredet wird. Wenn man das überflüssige Gerede weglasse, dann könnte man das Buch auf ein Drittel zusammenkürzen. Darauf hat er aber nichts gesagt, sondern nur so gelächelt. Es ging noch darum, ob das nun eine Sammlung von Kurzgeschichten ist oder doch ein Roman. Er fand natürlich, dass das ein Roman sei, weil es wichtig sei zu wissen, was vorher und nachher mit den Figuren passiert. Aber ohne unser Schema, das an der Wand hängt, verliert man ganz schnell die Übersicht. Ich kann doch nicht immer vor dem Schema sitzen, wenn ich lese. Herr Schulze meinte aber, das sei so, als würde man neu in eine Klasse oder eine Stadt kommen. Da müsse man die Beziehungen der anderen untereinander ja auch erst herausfinden, und manches, was man schon mal wusste, vergisst man auch wieder oder ordnet es falsch zu. Das mag ja so sein, aber beim Lesen nervt das.
Herr Schulze hat noch darüber gesprochen, dass wir auf die Wörter, die wir verwenden, und auf die Fragen, die man uns stellt, aufpassen sollten, dass es schon falsche Fragen gäbe, und auch Wörter, die einen in die Irre führten. Das zu erörtern, fehlte es an Zeit. Herr Schulze las uns noch vor. Er meinte, das sei die früheste Lesung, die er je gemacht habe.
Als er mit Herrn Priebe und dem Fotografen zusammenstand, sagte er, er wisse überhaupt nicht, wie er darüber schreiben solle, denn er sei es schließlich gewohnt, immer zu erfinden und sich nicht wie ein Journalist zu verhalten. Er sagte das lachend, so, als meine er es gar nicht ernst. Ich kann nur hoffen, er erfindet nichts. Das wäre wirklich gemein.
Am Ende hat Herr Schulze gefragt, ob er sich die Rezensionen ablichten dürfte. Meine hat er nicht bekommen.
Ich weiß nicht, ob ich das Buch noch mal lesen werde, um nachzuprüfen, was dran ist an dem, was er gesagt hat. Ich meine das mit dem Widerstand des Buches und dass es später für einen eine andere Bedeutung haben kann. Damit ließe sich ja immer alles rechtfertigen, wenn einem was nicht gefällt.
Er hat noch was gesagt, was sich vielleicht auf den Spruch im Treppenhaus bezog, dass man sich die eigene Geschichte immer erzählen müsse, sie sozusagen neu erfinden müsse im Erzählen oder eben im Lesen, damit es die eigene wird. Oder so ähnlich. Das hätte ich auch gern genauer erklärt gehabt. Zusammenfassend würde ich sagen, dass es nicht so schlimm gekommen ist, wie ich es erwartet hatte, obwohl ich erst mal lesen sollte, was und wie er über uns schreibt. Er hat ja gesagt, dass er sich bei uns wohl fühle, weil hier eine offene Atmosphäre herrsche und wir einen netten Umgang miteinander hätten. Man würde bei uns wirklich ein Interesse spüren, ein kritisches Interesse.
Wenn er es ehrlich meint, was er gesagt hat, dass ein Buch ohne Leser kein Buch ist, sondern ein Stapel bedruckten Papiers, nichts weiter, wenn es letztlich ums Lesen geht, um die Leser, also um uns, wenn wir Leser genauso wichtig sind wie die Schriftsteller, wenn ich das so richtig verstanden habe, dann wäre es doch nur folgerichtig, wenn er uns von seinem Honorar auch was abgäbe. Denn schließlich könnte er seinen Artikel ohne uns nicht schreiben. Hundert oder zweihundert Euro für unsere Abschlussparty würden, finde ich, seinen Äußerungen weiteres Gewicht verleihen. Genau!
»Was sie vorhatte, klang am Telefon wesentlich origineller; unser Gespräch bewirkte, dass meine Neugier meine Angst besiegte.«
Katja Lange-Müller
»Böse Schafe«
Katja Lange-Müller, geboren 1951 in Ostberlin, Kleist-Preisträgerin, erzählt in »Böse Schafe« (erschienen 2007) die Geschichte von Soja, DDR-Flüchtlingsmädchen und Aushilfsblumenverkäuferin, die neu ist im Westen und sich in Harry verliebt, einen halbkriminellen Junkie.
Wollen Schriftsteller ihren Lesern von Angesicht zu Angesicht begegnen? Mit Fans, die während der Frankfurter oder Leipziger Messe am Verlagstresen Schlange stehen, um sich ein neues Werk signieren zu lassen, und nach wie vor einigermaßen gut bezahlten Auftritten in diversen Goethe-Instituten und Literaturhäusern haben sie zumeist kein Problem. Aber eine Schullesung gilt bei jedem meiner Kollegen, egal, ob er so was schon mal gemacht hat oder nicht, als echte Quälerei. Heranwachsende sind immer seltener Leser »aus freien Stücken« und kennen keine »Ehrfurcht vor schlohweißen Gedanken« in Prosaform. Schlimmer noch, sie zeigen ihren Unwillen oft derart deutlich, dass sie den armen Autor, der ja wohl zumindest Respekt erwarten dürfte, mit ihrem vielsagenden Schweigen bestenfalls in Verlegenheit bringen oder ihn schlimmstenfalls kränken, wenn sie sich über den »Konjunktiv II, die Adjektiv-Schlachten und die meterlangen Sätze« mokieren, so tief, dass er sich sagt: Nie wieder! – und womöglich gar Opfer einer Schreibkrise wird. – Trotz eben solcher Erfahrungen habe ich das Experiment nun doch wieder gewagt, zumal mich Frau Dr. Banneck, Lehrerin einer 10. Klasse des Hildegard-Wegscheider-Gymnasiums im noblen Berliner Grunewald, nicht für eine stinknormale Lesung auf ihrem Stundenplan parken mochte. Was sie vorhatte, klang am Telefon wesentlich origineller; unser Gespräch bewirkte, dass meine Neugier meine Angst besiegte.
Und so laufe ich eines sonnigen Montagmorgens Ende Juni die von eleganten und protzigen Villen gesäumte Wilmersdorfer Lassenstraße entlang, vorbei an der Gedenktafel für den letzten Star-Berliner Harald Juhnke, der, ehe er ins Pflegeheim musste, zwanzig Jahre hier gewohnt hatte und dessen Adresse jeder Taxifahrer kannte. Nein, ich fürchte mich nicht. Etwas beklommen ist mir aber trotzdem zumute, denn ich komme, wie einst mein Idol Harald Juhnke, aus dem Wedding, den man, bis selbst in diesem weitab von jeder »Szene« gelegenen Stadtteil das Gespenst der Gentrifizierung zu spuken begann, »den Osten des Westens« nannte, und habe nie ein Abitur gemacht; dass Juhnke auch keins hatte, tröstet mich, angesichts des prächtigen Schulgebäudes, dem ich plötzlich gegenüberstehe, nicht wirklich. Vor dessen Pforte, auf einer der granitsteinernen Stufen, hockt ein dünnes blondes Mädchen und weint in sein Handy; doch sogleich öffnet sich jenes Tor, und eine Lehrerin eilt herbei und redet leise mit ihm, was mich, obwohl ich gar nicht gemeint bin und nur »Wir lassen dich nicht allein« verstehe, im Unterschied zu dem zarten Kind durchaus beruhigt. Darum rauche ich keine weitere Zigarette, sondern wage mich – um einige Minuten verfrüht – in die Höhle der jungen Löwen. Als die, einzeln oder grüppchenweise, das Klassenzimmer betreten, sitze ich bereits in der rechten der beiden Bankreihen hinter dem letzten Tisch.
Es läutet, die Stunde beginnt, alle Schüler erheben sich und begrüßen ihre Lehrerin, laut und namentlich, wie in einem alten Film. »So«, sagt Frau Dr. Banneck, »wenn ihr bitte mal schauen wollt, diese Dame dort«, sie weist in meine Richtung, »ist von der Schulverwaltung, die einen Bericht über meinen Unterricht wünscht, und wird euch sicher nicht stören. Ansonsten, das wisst ihr ja, befassen wir uns heute mit Katja Lange-Müllers Roman Böse Schafe.« Einige Sekunden lang bewundere ich noch die Manga-Zeichnungen auf meiner Tischplatte, dann nimmt mich das Geschehen gänzlich in Anspruch, ich sollte eher sagen: gefangen. Diese Lehrerin tut nicht, was ich erwartet hatte; sie doziert nicht, betrachtet meinen Roman nicht aus der literaturwissenschaftlichen Adlerperspektive, ergeht sich nicht in einer wie auch immer gearteten Stilanalyse, schon gar nicht verlangt sie dergleichen von ihren Schülern. Stattdessen projiziert sie das Lichtbild eines Spiegel-Covers aus dem Jahr 1987, dem auch in meinem Roman alles entscheidenden Jahr, an die Tafel, das die damalige Gesundheitsministerin Rita Süssmuth in einer Art Ganzkörperpräservativ zeigt. Über der so geschützten Politikerin steht »Meldepflicht für AIDS?« und daneben Frau Dr. Banneck, die ihren Zeigefinger, natürlich bloß rein bildlich, auf den Glühkern meiner Geschichte legt; ich könnte auch sagen: auf deren wundeste Stelle.
Es ist jene, in der meine Erzählerin Soja, eine frisch dem Ostteil Berlins entronnene Gelegenheitsblumenhändlerin mit einem ausgeprägten Helfersyndrom, erfährt, dass ihr Geliebter Harry nicht nur ein Ex-Knacki und heroinsüchtig ist, sondern obendrein HIV-positiv. Und sie erfährt es zunächst nicht einmal von ihm selbst; nein, Joe, der zynische Typ, der Harrys Therapiegruppe leitet, lässt die Bombe platzen. – »Die Bombe«, das ist auch der Titel dieser »Unterrichtseinheit«, für die Frau Dr. Banneck Zettel vorbereitet und soeben verteilt hat. Innerhalb kürzester Zeit sollen die Schüler, die, wie mir nun klar wird, meinen Roman erst bis Seite 140 der Taschenbuchausgabe gelesen haben, nicht etwa mündlich, sondern schriftlich darüber spekulieren, wie es weitergeht. »Notiere auf Basis Deiner Kenntnisse die Gedanken, die Soja nach Harrys Geständnis durch den Kopf geschossen sein könnten, und überlege, welche Fragen sie Harry stellen würde«, lautet die erste der beiden Aufgaben. Und während ich abwechselnd mein Exemplar des Zettels und die Rücken der Schüler anstarre, denke ich erstaunt, dass dies ja eher eine Aufgabe für Schreiber denn eine für Leser ist; und schon geht mir ein Licht auf, wohl nicht zum ersten Mal, doch nie zuvor hat es derart hell geleuchtet, erst recht nicht in einem Klassenzimmer. Klar, denke ich, Leser sind, bis sie ans Ende ihrer Lektüre gelangen, potenziell Mitschreibende.
Diese Lehrerin vertraut ihren Schülern, ihrer Intelligenz, ihrer Fähigkeit zur Empathie, ihrer Kreativität; sie fordert von ihnen zu sehen, was geschrieben steht – und nicht allein die Buchstaben, sich hineinzuversetzen in eine Situation, so, als seien sie dabei gewesen. Mehr noch, sie sollen den Faden der Handlung aus der Perspektive der Figuren, in die sie als Leser geschlüpft sind, als Schreibende fortspinnen.
Die fünf Minuten, die Frau Dr. Banneck ihren Schülern gewährt hatte, sind um. »Und?« sagt sie. Es fliegen so viele Hände in die Luft, als hätte sie gefragt, wer ein Eis will. Was ich zu hören bekomme, deckt sich, obgleich die Schüler die restlichen 60 Seiten meines Romans ja noch gar nicht kennen, nahezu mit dem tatsächlichen weiteren Verlauf jener Geschichte, die ich, natürlich differenzierter und in meiner Sprache, vor Jahren schrieb. Ohne sich groß bitten zu lassen, kommentieren und diskutieren die Schüler die Charaktere meiner Protagonisten. »Harry ist eine coole Socke, einer, der die Zähne nicht auseinanderbekommt«, sagt ein Junge; »Er hatte eine schlimme Kindheit und außerdem schämt er sich« ein Mädchen. »Nein«, widerspricht ein anderes, »ist doch typisch Harry und Junkie. Der schweigt halt, aber nicht, weil er sich schämt.« – »Achtet Harry auf Soja?«, erkundigt sich die Lehrerin. »Nein«, lautet eine Antwort, »die ist ihm voll egal.« »Er macht sich vielleicht schon Gedanken, aber er ist auch ein Ignorant« eine zweite.
Etwas später bittet Frau Dr. Banneck die Schüler, paarweise einen kurzen Soja-Harry-Dialog zu verfassen, und wieder läuft, wie wir an der Tafel sehen, für fünf Minuten die Uhr. Die Schüler wispern mit ihren Banknachbarn, schreiben, streichen durch, schreiben … Bis die knappe Zeit um ist. Nun heißt es: »Freiwillige vor!« Gleich drei Zweiergruppen wollen Harry und Soja spielen. Am besten gefällt mir eines der Mädchenpaare, Theresa und Shirin. Theresa/Harry wehleidig: »Weißt du, wie peinlich mir diese verdammte Krankheit ist?« Shirin/Soja: »Warum bloß hast du nichts gesagt?« Theresa/Harry: »Was sollte ich denn sagen? Dass HIV mein Todesurteil ist?!« Shirin/Soja: »Und jetzt auch meins.« Die Schüler wissen ja noch nicht, dass Soja nicht infiziert ist, also nicht das Leben, sondern nur ihren Harry verlieren wird, trotzdem meinen die meisten: »Sie lässt ihn nicht im Stich. Sie bleibt bei ihm, denn nun ist es noch schwieriger für sie, sich zu trennen.« Ein Mädchen sagt sehr nachdenklich: »Soja braucht Harry genauso wie er sie. Er gibt ihr Hoffnung, denn sie ist ein DDR-Flüchtling.« Ich muss lächeln, weil das so paradox klingt und dennoch stimmt. Nur Shirin, die besonders reif wirkt, findet, Soja sollte sich abwenden. Und ich denke: Wenn ich Shirin damals hätte fragen können und meine Soja ihren Rat vielleicht sogar beherzigt hätte, wäre Böse Schafe ein anderes, womöglich besseres Buch geworden.
Das Ende der zweiten Doppelstunde naht; und ich bin froh, fast glücklich über ein derart reges und unbefangenes Interesse an Literatur, meiner Literatur. Die Distanz zwischen dieser feinen Gegend hier und dem plebejischen Wedding, in dem Harald Juhnke und mein Harry Krüger auf die Welt kamen und in dem ich, wenngleich nicht besonders gerne, immer noch lebe, ich spüre sie nicht mehr. Auch der Abstand der Roman-Zeit zur jetzigen ist in diesem sommerwarmen Klassenzimmer dahingeschmolzen wie die sprichwörtliche Butter in der Sonne. Während ich das denke, nimmt Frau Dr. Banneck die Böse Schafe-Hardcover-Ausgabe zur Hand, in der sich, anders als in der Taschenbuchausgabe, die ihren Schülern zur Verfügung steht, ein Porträtfoto der Autorin befindet; mein Bild hochhaltend sagt sie: »Dreht euch doch bitte mal um. Na, was meint ihr? Ist diese Dame dort hinten wirklich von der Schulverwaltung?« Und nun sind die Schüler diejenigen, die staunen; und darüber, habe ich das Gefühl, freuen sie sich nicht weniger als ihre Lehrerin und ich.
Die Klingel schrillt, und offen bleiben manche Frage und manche Antwort – von beiden Seiten, genau genommen von dreien, weil auch Frau Dr. Banneck längst nicht fertig ist: mit mir und ihren Schülern, die jetzt aufstehen und sich verabschieden und ganz zuletzt wissen wollen, ob ich Lust hätte, einmal wiederzukommen. Ja, diese Lust habe ich; doch ich verspüre, wie seit Wochen nicht mehr, noch eine andere Lust, die, schnell weiterzuschreiben an meinem neuen Roman. Der, denke ich, sollte bald mal gedruckt und dann gelesen werden, etwa von so inspirierenden jungen Menschen, nein, Co-Autoren, wie denen, die ich heute kennenlernen durfte.
Unter dem Stichwort »Negatives« steht: »Langweiliges Erzählen«. Unter »Positives«: »Veras Brüste«.
Dirk Kurbjuweit
»Zweier Ohne«
Kurbjuweit, 52, ist stellvertretender Chefredakteur des »Spiegel« und schreibt Romane, Novellen, Sachbücher. In »Zweier ohne« beschließen die besten Freunde Johann und Ludwig, wie Zwillinge zu werden - nichts soll je zwischen ihnen stehen. Doch Johann und Ludwigs Schwester Vera verlieben sich heimlich ineinander.
Sie kommen, ich höre ihre Stimmen im Flur, Schülerstimmen, ich sitze nervös auf meinem Platz in einer hinteren Ecke des leeren Klassenzimmers und lese, was die Schüler über meine Novelle Zweier ohne an die Wand geschrieben haben. Unter dem Stichwort »Negatives« steht: »Langweiliges Erzählen«. Unter »Positives«: »Veras Brüste«.
Die Tür springt auf, zwei Dutzend Schüler strömen herein, laut, fröhlich, bunte Schultaschen landen auf den Tischen. Sie schauen mich kurz an, schauen weg, desinteressiert, einer dieser Typen, die Lehrer bewerten, denken sie. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich Veras Brüste als nicht besonders auffällig beschrieben.
Das Sickingen-Gymnasium im pfälzischen Landstuhl, eine zehnte Klasse, Lehrerin: Frau Zahler. Ich soll zuhören, wie die Schüler über mein Buch reden, ohne dass sie wissen, wer ich bin. Das ist die Idee vom Magazin der Süddeutschen Zeitung. Es ist wie eines dieser Reality-Formate, in denen man Leute schwierigen Situationen ausliefert. Klassenzimmercamp. Kritik tut mir weh, ich wappne mich für schlimme Sätze.
In dem Buch geht es um zwei Jungs, Johann und Ludwig, die Freunde sind, enge Freunde, sie rudern im Zweier ohne und wollen wie Zwillinge sein. Ludwig, dominant, wohnt unter einer Autobahnbrücke, von der manchmal Selbstmörder in seinen Garten springen. Johann, scheinbar folgsam, beginnt eine Affäre mit Ludwigs Schwester Vera, obwohl er weiß, dass er seinem Freund nichts Schlimmeres antun könnte. Das ist die Geschichte. Sie ist Schullektüre geworden, obwohl ich nie an ein Jugendbuch gedacht habe.
Frau Zahler führt den Unterricht straff, Stille, Disziplin. Waren wir auch so? Die Schüler sollen in Paargruppen drei kurz aufeinanderfolgende Telefongespräche zwischen Ludwig und Johann analysieren. Leise Stimmen.
Das Mädchen neben mir: »Ich will weniger essen.«
Das Mädchen, mit dem sie eine Paargruppe bildet: »Ach, scheiß aufs Essen, iss, so viel du kannst.«
»Aber dann werde ich doch fett, oder?«
»Iss einfach.«
Es gibt immer etwas Interessanteres als ein Buch, das man für die Schule lesen muss. Mit Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß ging es mir genauso.
Die Paargruppen schreiben ihre Ideen auf die Folien eines Overheadprojektors. Das Wort »Zeitraffer« gefällt mir. Johann hat nach den drei Telefongesprächen mit Ludwig den Eindruck, einen Freund zu haben, und das, sagt ein Schüler, sei eine »Freundschaftsanbahnung im Zeitraffer«.
Ich werde oft von Schulen eingeladen, ich gehe gern hin, denn ich lerne meist etwas Neues über mein Buch. Die Schüler erklären mir, was ich getan habe. Besser: Sie sagen mir, wie sie verstehen, was ich getan habe. So ändert sich Zweier ohne ständig, entsteht immer wieder neu in meinem Kopf.
Meine zweite Schulstunde in Landstuhl, wieder eine zehnte Klasse, Lehrer: Herr Doktor Hammerschmidt. Ich lerne ein neues Wort, oder vielleicht habe ich es nur vergessen. Dingsymbole. Mein Buch, erfahre ich, stecke voller Dingsymbole: Ruderboot, Turm, Motorrad, Brücke. Es wird eine Schulstunde, die mich groß macht. Master of the Universe.
Arbeitsgruppen, Flüstern, Radiergummi auf Papier. Dann Kurzvorträge. Was ich höre: Nahezu alles, was ich geschrieben habe, steht für etwas, alles ist klug bedacht, aufeinander bezogen. Wenn ein Motorrad restauriert wird, restauriert das auch die Freundschaft von Ludwig und Johann. Klingt gut. Ich bin, scheint es, sehr intelligent.
Leider weiß ich, wie es war. Schreiben ist auch Konstruktion, mehr aber ist es Emotion. Der Strom der Geschichte reißt den Schriftsteller mit, er lässt sich treiben.
Als Ludwig zum ersten Mal in die Klasse von Johann kommt, lesen die Schüler Die Bürgschaft von Schiller. Es gibt eine Diplomarbeit über die Beziehung von Zweier ohne zur Bürgschaft, es gibt mehrere Lehrbücher für Lehrer, in denen genau erklärt wird, wie die Zusammenhänge sind. Klar, auch bei Schiller geht es um eine enge Freundschaft von zweien, und dann kommt ein Dritter dazu, der Tyrann. »Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der dritte.« Deshalb also lesen die Schüler Die Bürgschaft, als Ludwig in die Klasse kommt. Logisch.
Als ich ein Schüler war, fiel ich in einer Deutschstunde mit einigen Kaspereien auf. Mein Lehrer, Herr Doktor König, ließ mich zur Strafe Die Bürgschaft auswendig lernen. Als ich für Zweier ohne die Szene in der Klasse schrieb, brauchte ich etwas, womit sich die Schüler beschäftigen, und natürlich fiel mir sofort die Bürgschaft ein, weil Teile davon immer noch durch meinen Kopf schwirrten. Ich habe nie an einen Zusammenhang mit meiner Geschichte gedacht.
Das ist die Wahrheit, auch wenn mich das als Schriftsteller entzaubert und dümmer wirken lässt. Ich bin nicht einmal der Master meiner Figuren. Ich folge ihnen mehr, als dass ich sie beherrsche. Intelligent wird ein Buch vor allem durch die Leser. Interpretationen sind, gerade an Schulen, der manchmal recht fanatische Kampf gegen den Zufall. Alles muss einen Sinn haben. Ist mir recht. Solange ich nicht ständig Sinn produzieren muss.
Meine dritte Schulstunde in Landstuhl, eine zwölfte Klasse, Lehrerin: Frau Doktor Woesner. Einige Schüler kommen vom Sport, die Luft wird schwer. Gruppenarbeit, Tische zusammenrücken. Arbeitsauftrag: Fünf Themen, die es wert sind, dass man sich darüber unterhält. Ich stelle mich zu einer Gruppe, in der zwei Jungs miteinander diskutieren. Es geht um die Frage, ob Ludwigs Tod Selbstmord war.
»Nee.«
»Hundertpro.«
»Auf keinen Fall.«
»Warum sollte er dann sagen, dass an einer Handbremse das Schicksal hängen kann?« »Warum sollte er sich umbringen?«
»Wegen der Schwester.«
»Das wusste der doch nicht.«
»Doch.«
»Nee.«
Kurz vor Ende der Schulstunde sagt Frau Woesner, dass der Autor von Zweier ohne dort hinten in der Ecke sitze. Lachen, Staunen. Dann die Fragen: Wusste Ludwig, dass Johann eine Affäre mit Vera hat? War es ein Unfall oder Selbstmord?
Dies ist immer ein Moment, in dem das Gespräch zwischen Schülern und Schriftsteller schwierig wird. Manchmal bekomme ich Mails, die lauten so: »Übermorgen schreibe ich eine Klassenarbeit über Ihr Buch. Könnten Sie mir dazu bitte die folgenden zwölf Fragen beantworten?« Tut mir leid, schreibe ich zurück, ich interpretiere mein Buch nicht selbst.
Viele Schüler denken, es gäbe die eine Wahrheit über ein Buch, und sicherlich denken das manche Lehrer auch. Und wer könnte diese Wahrheit besser kennen als der Autor?
Aber so ist es nicht. Ich sage den Schülern von Frau Woesner, dass Schreiben nicht nur Schreiben ist, sondern auch Weglassen, gerade bei einer Novelle. Kaum ein Autor erzählt die ganze Geschichte, er lässt Lücken. Ich bin nur der erste Schriftsteller, sage ich. Wer ist der zweite?
Warum muss ich jetzt selbst den Lehrer spielen? Aber es ist passiert, Zeigefinger fliegen nach oben.
»Der Leser«, sagt der Schüler, den ich drangenommen habe.
»Richtig.«
Der Leser ist der zweite Schriftsteller, fahre ich fort und habe schon diesen Didaktikton drauf, den ich als Schüler nicht mochte. Der Leser fülle die Lücken mit seinen Vorstellungen und Erfahrungen. Auch ich wisse nicht genau, ob es ein Unfall war oder Selbstmord. Jeder könne das selbst entscheiden, es gebe kein Hundertpro, nicht die eine Wahrheit über das Buch, nicht die gültige Interpretation. »Auch Ihre Lehrerin kennt sie nicht«, sage ich.
Aber ich will Frau Woesner nicht unglücklich machen und füge hinzu: »Natürlich kann man trotzdem eine Interpretation bewerten. Klingt sie stimmig? Ist sie gut aufgebaut, gut geschrieben?« Frau Woesner guckt dankbar.
Es klingelt. Ich signiere Bücher, erleichtert. Das Klassenzimmercamp ist glimpflich ausgegangen.
Fotos: Fabian Zapatka