SZ-Magazin: Herr Raddatz, die abstoßendste Figur in Ihren Tagebüchern ist Ihr Vater, ein Oberst a. D. der kaiserlichen Armee, der in der Weimarer Republik zur Direktion der Ufa gehörte.
Fritz Raddatz: Das Wort Vater steht in meinem Inneren in Anführungszeichen. Nach seinem Tod sagte meine Stiefmutter mir, er sei nicht mein leiblicher Vater. Also ein Jakob-Augstein-Schicksal, außer dass der wahre Vater kein berühmter Romancier war.
Konnte Ihre Stiefmutter Ihnen sagen, wer Ihr biologischer Vater ist?
Ja. Den möchte ich aber nicht aufdecken, weil er kein ganz unbekannter Mann war.
Sie wurden zu Hause über Jahre brutal misshandelt. Wussten Sie, warum?
Ich habe mich jeden Tag gefragt, wie es sein kann, dass mein Vater so furchtbar grausam zu mir ist. Beim geringsten Vergehen wurde ich so geprügelt, dass selbst der Hund Mitleid mit mir hatte und erst recht meine Kindermädchen, die oft weinend versuchten, dazwischenzugehen, wenn er mir wie rasend blutige Striemen schlug. Mein Gefühl war, dass er mit seinen geradezu orgiastischen Hassausbrüchen sich für irgendetwas an mir rächte. Deshalb erscheint es mir plausibel, was meine Stiefmutter sagte: Er prügelte auf einen Bastard ein. Dazu benutzte er eine Hundepeitsche aus geflochtenem Leder oder eine Pferdepeitsche, die aus einem Stahlstock bestand, der mit Stroh und Leder umwickelt war. Die Pferdepeitsche war weniger flexibel und tat deshalb nicht ganz so weh. Geschlagen wurde ich entweder auf den nackten Hintern oder auf die Lederhose, die Kinder damals trugen.
Als Sie elf Jahre alt waren, gab es eine Nacht, die, wie Sie schreiben, »mein ganzes Leben bestimmt und zerstört hat, nämlich als mein Vater mich verführt und ich mit seiner Frau ficken muss«.
Obwohl ich ein alter Mann bin, habe ich diese Nacht nicht vergessen können. Mein Vater kam mit erigiertem Glied in mein Schlafzimmer, zog mich durch die Verbindungstür ins elterliche Schlafzimmer und führte mich meiner Stiefmutter zu. Mit meinen elf Jahren hatte ich keine Ahnung, was von mir erwartet wurde. Ich hatte noch nicht mal onaniert. Meine Sexualität bestand aus unbegriffenen Ferkelversen aus der Schule und Witzchen, wie die Kinder zustande kommen. Mein Vater führte mir vor, wie man das macht. Sein erigierter Schwanz – riesig in den Augen eines Elfjährigen – war ein entsetzlicher Schock. Es war eine psychische und physische Vergewaltigung. Heute würde man Herrn Raddatz einen Sexualverbrecher nennen und die Polizei rufen.
Kann ein Elfjähriger mit einer Frau Geschlechtsverkehr haben?
Es ging nicht richtig, aber es ging. Irmgard, so hieß sie, war die erste Frau, mit der ich geschlafen habe. Wir waren nicht verwandt, für sie war ich wie ein fremder Junge. Sie war mit ihrem Mann sexuell im Gange und deshalb entzündet, wie man das vornehm nennt. Da muss es einen Moment gegeben haben, dass sie sagte, wenn sogar der Vater das interessant findet, dann will ich es auch.
Was für eine Frau war Ihre Stiefmutter?
Eine aufs Körperliche ausgerichtete Vorstadt-Mondäne, eine rothaarige Lola mit grünen Katzenaugen. Die Beziehung zwischen ihr und dem Herrn Raddatz war vor allem sexuell bestimmt. Er war ihr verfallen bis zur Hörigkeit. Die beiden hatten öfter Triolen. Da war dann allerdings kein Elfjähriger beteiligt, sondern ein erwachsener Mann.
Wann haben Sie über den Missbrauch sprechen können?
Ich habe das verbunkert in meinem Inneren und dort nicht wieder rausgeholt. Erst vier Jahre später habe ich meinem Vormund davon erzählt, Pastor Mund. Bei ihm lebte ich, nachdem mein Vater 1946 gestorben war.
Ihr Vormund, ein, wie es in Ihren Tagebüchern heißt, »verlogener Charismatiker« mit »sirrend-hexischem Charme«, führte ein Doppelleben. Nach außen gab er den tief religiösen Ehemann und Kindsvater, mit Ihnen, seinem anfangs minderjährigen Mündel, hatte er 17 Jahre lang Sex.
Nicht selten hinter dem Altar, während seine Frau das Essen bereitete, vor dem selbstverständlich gebetet wurde. Ich hatte mit der erwähnten Ausnahme bis dahin keine sexuellen Erfahrungen und hielt unsere Beziehung für Liebe – was es von meiner Seite bestimmt war und von seiner, denke ich, auch. Es war nicht nur die Verführungsgeschichte eines Dreißigjährigen und eines 15-Jährigen. Obwohl er mich betrog, war ich fast sklavisch an ihn gebunden.
In Ihren Träumen haben Sie bis heute auch Sex mit Frauen.
Und das wundert Sie? Ich habe auch längere Beziehungen mit Frauen gehabt. Nachdem ich mit einer Frau geschlafen hatte, ging ich oft noch in eine Schwulensauna. Ich könnte nicht sagen, ob ich von jung an schwul war oder es erst durch die Verführung des Pfaffen wurde. Ist eigentlich auch wurscht. Nachdem er mich verführt hatte, war mein Begehren ausschließlich auf den Pfaffen fixiert.
Peter Handke sagt, seine Akne habe ihn zum Schreiben gebracht. John Updike nennt als Grund seine Schuppenflechte. Sie haben Vitiligo, auch Weißfleckenkrankheit genannt.
Wie Michael Jackson. Die Haut bestrafte mich mit widerlichen Flecken, weil ich aus ihr raus wollte. Ich habe das kurz nach dem Abitur bekommen. Damals wusste niemand, dass das eine Krankheit ist. Es begann mit einem ganz kleinen Flecken am Hals, dann wurden es mehr. Ich versuchte, die Flecken zu kaschieren. Der erste Dermatologe verschrieb mir eine Creme. Später hieß es, Sie sind ein Nervenbündel und deshalb ist Ihr vegetatives Nervensystem gestört. Nach vielen Gesprächen mit Dermatologen glaube ich heute, dass Vitiligo eine seelische Wurzel hat.
Ihre Mutter Alice, eine schöne Pariserin aus reichem Haus, ist bei Ihrer Geburt gestorben. Gab es in Ihrer Kindheit Zärtlichkeit und Liebe?
Ich bin in meiner Kindheit nicht einmal in den Arm genommen, geküsst oder gestreichelt worden, es sei denn vom Hund mit der Zunge. Das Fehlen von Liebe und einer behütenden Mutter war für mich eine intensive Ego-Kränkung. Diese Kränkung versuchte ich zu kompensieren, indem ich mir meine eigene schützende Welt aus Buchstaben baute. Die Beziehung zu Pastor Mund war ebenfalls eine Flucht in einen Schutz hinein. Ich hätte damals auch einen Feuermelder umarmt und geküsst auf der Suche nach einem, der mir hilft zu leben.
Werden aus ungeliebten Kindern Erwachsene, die nicht lieben können?
Die fehlende Liebe hat bei mir zum einen eine fast panische Suche nach Liebe und ein dauerndes Anbieten meiner Liebe bewirkt, egal ob bei Männern oder Frauen. Zum anderen, was man bösartig meine exzessive Gefall- und Ruhmsucht nennen könnte. Ich würde es die Anerkennung auf dem Markt der Eitelkeiten nennen, die ich auf manchmal absurde Weise gesucht habe. Es ist das ewige Penis-zeigen-Müssen des ungeliebten und sich deshalb minderwertig fühlenden Kindes. Vor dem Krieg war ich mit meinem Vater im »Haus Vaterland«, einem Varieté am Potsdamer Platz in Berlin. Als Musik gespielt wurde, bin ich mit meinen sieben Jahren auf die Tanzfläche gegangen und habe zum Entsetzen oder Amüsement aller Gäste einen Spitzentanz getanzt. Dieser Spitzentanz hieß später Rowohlt oder Zeit-Feuilleton.
Bei was heben Sie den Finger: Eitelkeit oder Narzissmus?
Bei Ersterem. Narzissmus ist ein die Persönlichkeit zersetzendes Gift und führt nicht zur Produktion. Ein Narzisst kann kein wunderbares Klavierkonzert schreiben, weil er vor der letzten Note in seinem Spiegelbild ersäuft. Eitelkeit dagegen kann einen Menschen aufblühen und sich großartig entfalten lassen, wie eine japanische Papierblume. Diese Menschen ziehen aus ihrer Ich-Besessenheit Ehrgeiz, Kraft und Produktivität.
In Ihren Tagebüchern beklagen Sie ständig, dass man Ihnen mickrige Blumensträuße mitbringt, zu niedrige Honorare anbietet und Sie in miesen Hotels unterbringt. Das nennt man narzisstische Kränkung.
Nein, es geht um Herabsetzung meiner Würde. Unsere Welt ist nun mal so gebaut, dass Geld auch eine Form der Anerkennung für Begabung ist. Wer mir 400 Euro für einen Artikel anbietet, sagt mir, eigentlich bist du ein Niemand, ein Greis auf Nuttentour. Das als Kränkung zu empfinden, muss gestattet sein, ohne den Stempel Narzisst aufgedrückt zu bekommen.
Mit Gabriele Henkel, der Witwe des Waschmittel-Milliardärs Konrad Henkel, verband Sie eine 40-jährige Freundschaft. Die endete, als Ihnen Frau Henkel als Gastgeschenk zwei Geschirrhandtücher überreichte.
Ich zog damals in eine neue Wohnung, ein großes Ereignis für mich, und hatte Menschen eingeladen, die ich für Freunde hielt. Natürlich bringt man dann nicht zwei Geschirrhandtücher mit. Frau Henkel nagt ja nicht am Hungertuch. Schenken heißt für mich, einen Menschen zu streicheln. Also bringt man entweder gar nichts mit oder etwas, was sich sehen lassen kann. Zwei Geschirrhandtücher würde man doch nicht mal seiner Putzfrau schenken, wenn die in die neue Zweizimmerwohnung gezogen ist.
Dauerthema Ihrer Tagebücher ist das, was Sie die »Verkommenheit des Literaturbetriebs« nennen. Dabei rezensieren Sie immer wieder Bücher von Freunden.
Das ist ein heikel Ding. Besser täte man es nicht. Ich habe mich darüber hinweggesetzt und gesagt, ich mache, was ich will.
Zu den Freunden, die Sie immer wieder rezensiert haben, zählt Günter Grass. Auch mit ihm sind Sie auseinander.
Er nimmt mir übel, dass ich ihn öfter mit dem George-Grosz-Stift karikiert habe, statt ihm Seerosen ins Haar zu malen.
Nachdem Grass sein Israelkritisches Gedicht Was gesagt werden muss veröffentlicht hatte, schrieben Sie: »Der Ex-Freund ist artistisch impotent geworden. Wieso hält er nicht die Klappe? Er kommt mir vor wie die alternden Schwulen in den Parks, die an sich herumfummeln, ihn kaum oder nicht oder knapp hochkriegen – und dann kommt ein widerliches Tröpf’chen.«
Da Grass in einem übrigens scheußlichen Gedicht selber geschrieben hat: »Er steht mir noch, aber nicht so oft«, darf ich so etwas schreiben. Es ist nun mal so, dass Indiskretion zum Wesen eines Tagebuchs gehören. Ich bin ja auch mir selber gegenüber indiskret.
Dass Sie öffentlich gemacht haben, er würde seine Frau »an jeder Ecke betrügen«, hält Grass für den Verrat einer Freundschaft.
Das mit dem Betrügen war alles schon vorher publiziert worden. Lesen Sie mal die Grass-Biografie von Michael Jürgs. Aber ich akzeptiere, dass er gekränkt ist. Umgekehrt bin ich über sein Tagebuch auch gekränkt. Das muss er akzeptieren, tut er aber nicht. Ich werde nicht an seiner Tür klingeln und sagen, wir wollen uns wieder lieben. Ich denke, dass das nicht zu reparieren ist.
Haben Sie Ihre Tagebücher vor der Publikation zensiert?
Ein paar intime Dinge habe ich wegen Schamgrenzen rausgenommen. Der Rest wurde durch das Sieb von zwei Anwälten und meinem Verleger Alexander Fest gerührt. Wenn Fest fragte, ob ich der Person XY das wirklich antun wolle, sagte ich, ja, das tue ich dem an – und vor allen Dingen mir. Fest wollte mich vor mir selber schützen, aber ich habe mich nicht schützen lassen.
2007 notierten Sie nach einem Telefonat mit der Frau Ihres todkranken Freundes Peter Rühmkorf: »Als ich unverblümt nach Pinkeln-Können mit der künstlichen Blase und nach seinem Pimmel fragte (›Du weißt ja, wie wichtig das Ding für uns Männer ist‹), erzählte sie, sie habe wegen genau dieser seiner Angst einen Handspiegel gekauft und den vor seinen Schwanz gelegt – den Schwanz, mit dem er sie 1000-fach betrog – und gesagt: ›Nu sieh doch mal, alles prima und sehr appetitlich.‹« So etwas öffentlich zu machen kann man niederträchtig nennen.
Eine heikle Passage. Ich fand es unglaublich rührend, dass Eva das machte, sie akzeptierte ja keineswegs, dass er so viel fremdgegangen war. Ich habe lange überlegt, soll ich das weglassen? Ich hätte es weggelassen, wenn Eva noch lebte. Jetzt ist es Literaturgeschichte – als würden die Brüder Goncourt etwas über den Schwanz von Balzac schreiben.
Als Rühmkorf in seinen Tagebüchern beschrieb, wie es in Ihrem Badezimmer aussieht, waren Sie tief beleidigt.
Entschuldigen Sie, das ist doch was anderes. Er war Gast in meiner Wohnung, aber statt zum Pinkeln das Gästeklo zu benutzen, ist er mit Block und Bleistift in mein Badezimmer geschlichen und hat notiert, welche Hautcreme und Präservativmarke ich benutze. Widerliche Schlüssellochguckerei. Das ist, als hätte ich mit dem Zentimetermaß seinen Schwanz ausgemessen und das Ergebnis zwischen zwei Buchdeckeln veröffentlicht. Das habe ich ihm auch gesagt.
Künstler von Rang, das gehört zu ihrer Natur, sind monströse Totalegozentriker. Wie konnten Sie glauben, dass solche Naturen zu Freundschaft fähig sind?
Das war wohl naiv von mir, aber wir sprachen von meinem Bedürfnis, Liebe zu schenken und zu erwarten. Irgendwann habe ich aber begreifen müssen, dass man für sogenannte Großschriftsteller bloß Fußvolk ist. Auch bei Hubert Fichte dachte ich, uns verbinde eine gegenseitige Freundschaft, die bis zum gemeinsamen Besuch von Knabenpuffs reichte. In seinen Tagebüchern las ich dann: »Befreundet sind wir eigentlich nicht.« Älterwerden heißt, skeptischer gegenüber Menschen zu werden und mehr und mehr enttäuscht vom Leben zu sein. Man kotzt die Welt an, die einen ankotzt. Schöner ist, dass man in die Welt hineinstürmt und andere umarmt – selbst wenn die vielleicht gar nicht umarmt werden wollen.
Haben Sie noch Freunde?
Meinen Lebenspartner. Und dann vielleicht noch Inge Feltrinelli, Rolf Hochhuth, Joachim Kaiser und Kurt Drawert.
Es kommen keine jüngeren Freunde nach?
Die jungen Leute sind mit Recht an einem Herrn Raddatz überhaupt nicht interessiert. Sie kennen ihn wahrscheinlich gar nicht oder verwechseln ihn mit Carl Raddatz. Warum soll Herr Kehlmann Herrn Raddatz besuchen oder ihm sein neues Buch mit einer Widmung schicken? Junge Autoren wollen auch Martin Walser oder Joachim Kaiser nicht sehen. Wir sind die untergegangene Generation, die Methusalems. Das war bei Goethe schon so. Keiner der jüngeren Autoren mochte den. Er schreibt doch im Divan: »Sie lassen mich alle grüßen / und hassen mich bis in den Tod.« Und wenn einer mal kam wie Heinrich Heine, dann war er unverschämt und antwortete auf die Frage von Goethe, woran er arbeite: »An einem Faust.« Damit war das Gespräch natürlich beendet. Man möchte das Wort von Hans Sahl zitieren: »Fragt mich aus, ich lebe noch.«
»Alles etwas manieriert, wenn Sie so wollen. Andere nehmen vielleicht Heroin.«
Ihre Wohnung ist mit Hunderten Pretiosen und einer millionenschweren Kunstsammlung dekoriert. Überlegen Sie manchmal, ob es nicht schöner wäre, leere weiße Wände anzuschauen?
Mary Tucholsky sagte zu mir: »Sie besitzen Ihre Dinge nicht, die Dinge besitzen Sie!« Ich bin tatsächlich ein morbider Ding-Fetischist, der Zierrat als Lebensstütze braucht. Meine geradezu manische Schönheitssucht ist eine Ersatzhandlung. Nach dem Krieg war ich eine Schwarzmarktratte, gotterbärmlich arm und verdreckt. Deshalb habe ich mich später an Spielzeuge wie meinen Porsche oder Jaguar geklammert. Heute noch kann ich mich einen ganzen Abend lang freuen an den wunderschönen Messerbänkchen aus weißen Elfenbein-Elefanten. Absurd, ich weiß, aber dieser schöne Schnickschnack befriedigt meinen Spieltrieb, meine Restlibido. Nach diesem Gespräch werde ich mir zum Abflattern Rotwein in ein besonders schönes Fadenglas einschenken und mich vor ein bestimmtes Bild setzen. Das ist abwegig und skurril und hat vielleicht auch was Lächerliches für die Jüngeren. Die wissen wahrscheinlich gar nicht, was ein Messerbänkchen ist, und warum sich jemand mit diesem Schnokus umgibt.
Während andere »graue Socken ums Gehirn haben« erfreuen Sie sich »am seidigen Gleiten eines fein gewirkten Strumpfes«, schreiben Sie.
Mancher Zierrat war Trost für Angst. Als ich zu Toni Morrison nach Princeton fuhr, hatte ich ziemliches Muffensausen: Würde sich die schwarze Diva des amerikanischen Literaturwesens einem Weißen aus Deutschland öffnen? Kriege ich die Auster auf? Ich brachte ihr einen Riesenstrauß weiße Gardenien mit, die Blume von Billie Holiday. Und siehe da, it worked beautifully. Das Interview ging um die Welt. Als Belohnung für meine Angst habe ich mir in New York eine Tiffany-Lampe gekauft, die ich mir nicht leisten konnte. Wenn ich sie heute anschaue, sehe ich Toni Morrison und nicht Tiffany. So lebe ich mit den Dingen, und deswegen helfen sie mir gegen Bedrückungen und die Schatten, die sich um mich rumwickeln. Das ist nicht zu verstehen für Menschen, die den Pizza-Boten anrufen und sich eine Coca-Büchse auf den Tisch knallen. Ich lasse mir ein anständiges Essen bereiten und zwischen den Gängen das Besteck wechseln. Die Frühstückskonfitüre esse ich aus in Paris ersteigerten Tharaud-Keramiken und die Butter aus silbernen Renaissance-Dosen. Alles etwas manieriert, wenn Sie so wollen. Andere nehmen vielleicht Heroin.
Nach knapp 40 Raddatz-Büchern war der 2010 erschienene erste Band Ihrer Tagebücher der größte Kritikererfolg Ihres Lebens. Der jetzt erschienene zweite Band schließt mit der Ankündigung, nichts mehr notieren zu wollen.
Ich schreibe seit dem 31.12.2012 nicht mehr Tagebuch. Manchmal ärgere ich mich über meine eigene Entscheidung, zum Beispiel wenn das Honorar der Süddeutschen Zeitung nicht kommt für meinen Artikel zum 85. Geburtstag von Joachim Kaiser. Ich musste denen schreiben wie ein Junge, der den Papa um das Taschengeld anfleht. Dann hieß es, ich müsse eine Rechnung schicken. Zumutungen dieser Art hätte ich normalerweise aufgeschrieben, um meinen Ärger zu bannen. Ein Tagebuch ist ja auch ein Jammerlappen und ein Schluchztüchlein.
Warum verzichten Sie darauf?
Das hängt mit Alter, Einsamkeit und fehlendem Erleben zusammen. Die meisten meiner Zündfiguren sind inzwischen tot. Meine nörgelnden Kommentare interessieren weder mich noch andere. Über Sekundärdinge zu schreiben fände ich lächerlich. Bevor ich ganz zum Laffen werde, sage ich time to say goodbye.
Wie geht es Ihnen ohne Tagebuch?
Ich führe jetzt Monologe mit mir alleine. Als Selbstspiegel und Beichtbuch brauche ich das Tagebuch nicht mehr. Zu meinem größten Bedauern tue ich nichts mehr, was der Beichte bedürfte.
Kennt man sich im Alter oder wird man sich immer mehr zum Rätsel?
Ich kenne mich in allen Verwinkelungen, in allen Verlogenheiten, in allen Eitelkeiten. Was mich überraschen kann, ist die Differenz von Selbst- und Fremdwahrnehmung. Ich weiß bis heute nicht, wie ich auf Menschen wirke, ob sie alle nur lügen und ich in Wahrheit grauenvoll bin.
Findet man keine neuen Wahrheiten mehr, sobald man über ein bestimmtes Alter hinaus ist?
Man findet neue Wahrheiten, aber man schiebt sie beiseite. Wenn mir gesagt würde, du bist dein Leben lang ein verlogenes Arschloch und eine bösartige Tunte gewesen, dann kann das sogar sein, aber ich würde sagen, so war mein Leben nicht.
Wann haben Sie das letzte Mal etwas zum ersten Mal gemacht?
Das muss sehr lange her sein. Ich könnte Ihnen nur sagen, wann ich mit Sachen aufgehört habe, zum Beispiel mit Wasserski. Eines Tages merkte ich, O Gott, da kommt eine Welle, dir fehlt die Kraft – na ja, und dann lag ich drin. Nachdem ich dreimal wieder angefangen hatte, sagte selbst der Wasserski-Mensch in dem Schnellboot, ich glaube, wir hören lieber auf.
Was haben Sie zuletzt aufgegeben?
Viel zu schnell Auto zu fahren, unter anderem wegen meiner schlechten Augen. Heute fahre ich nur noch zur Apotheke und zurück, natürlich in einem Zwölfzylinder, das muss sein.
Erwarten Sie noch etwas von der Zukunft, was Sie nicht bereits kennen?
Nee.
Viele Alte wirken, als säße ihnen der Kopf falsch herum auf den Schultern, sie schauen zurück statt nach vorne.
Wenn ich meinen täglichen morning swim im Kellinghusenbad absolviere, komme ich an einer Litfaßsäule vorbei. Von den Herrschaften, die da abgebildet sind, wüsste ich nicht zu sagen, ob es Pop-Menschen sind oder Tänzer. Ich weiß nicht nur nicht, was ein Nerd oder Groupon ist, ich habe auch keine Ahnung, ob ein Smartphone was ist, mit dem man telefoniert, oder das, wo man reinguckt. Wozu soll ich mein ohnehin löchrig gewordenes Gehirn mit der Frage belasten, was Flip-Flops sind? Dann sitze ich halt mit dem Rücken zur Fahrtrichtung und werde zum Fossil.
Lesen Sie noch Zeitung?
Ja, aber ganz selektiv, auch das Feuilleton. Was interessiert mich Tarantino?
Wenn Sie früher einen Raum betraten, war es, als brächen Sie durch die Wand.
Vielleicht habe ich so viel geredet, damit man mir nicht wirklich nahekommt, weil ich vieles in mir für unaussprechlich hielt.
Gibt es den legendären Gastgeber Raddatz noch, der zu Fackelschein 30, 40 Gäste mit Pasteten und Ruinart-Champagner bewirtet?
Ich gebe keine Einladungen mehr, mein Telefonbüchlein ist voll mit Toten. Andauernd stirbt jemand. Maximilian Schell musste ich jetzt auch noch ausstreichen. Er lebte unter meinem Namen mit der Soraya in einem Hotel in Kampen zusammen, weil sie die Pressemeute fürchtete. Würde ich ein neues Telefonbuch anlegen, wäre es hostiendünn.
Viele Alte schauen sich am liebsten Tiersendungen im Fernsehen an. Werden im Alter Menschen zur Anstrengung?
Ja. Es ist unangenehm, einem Besucher erklären zu müssen, dass ich abends um halb zehn abbaue und müde werde. Und natürlich kennen die Leute meine Geschichten, wenn ich anfange: »Als Johannes R. Becher mal zu mir sagte …« Ich sehe es zwar nicht, aber hinterher mache ich mir klar, dass die in den Tiefschlaf verfallen sind oder sich gesagt haben: »Jetzt fängt der Alte wieder an zu schwätzen von seiner Mary Tucholsky oder seiner Zeit bei Volk und Welt in Ostberlin.« Ich sehe das selbst bei meinem Lebenspartner, der nun nicht um halb zehn geht. Wenn ich beim Abendessen von Erich Kästner erzähle, sagt er erst mal gar nichts. Wenn ich mir dann mein zweites Glas Bordeaux und mein abendliches Zigarillo genehmige, sagt er: »Das hattest du mir übrigens schon zwölfmal erzählt.« Je älter man wird, desto besser war man früher. Das ist der Betrug des Alters.
Sie sind seit 30 Jahren ein Paar und leben seit 13 Jahren in einer sogenannten eingetragenen Partnerschaft. Wie haben Sie Ihren 15 Jahre jüngeren Freund kennengelernt?
Das sage ich Ihnen nicht. Die fromme Version ist: nach einem Vortrag von mir. Aber das stimmt nicht.
Sie beklagen, dass Ihr Freund meist schweigt, wenn Sie Aufsätze oder Bücher veröffentlichen.
Der Gerd, so heißt er, hält diese Diskretion für sehr klug und rücksichtsvoll und sagt: »Du bist von Ranwanzern und Schmeichlern umgeben und fällst darauf rein, wenn man dir mit lügnerischen Komplimenten Honig um den Bart schmiert. Warum glaubst du diesen Quatsch?« Ich falle auf diesen Quatsch natürlich rein in meiner Sucht, gelobt zu werden. Ich sage nur: Spitzentanz.
Sie schreiben über Ihren Freund: »Er geht zur Apotheke und zur Post, zum Ananasladen oder Staubtuchgeschäft. Er treibt sich nicht herum (ist also ›treu‹?), was will ich eigentlich? Will ich einen Adorno, der mir abends den warmen Umschlag ans Bett bringt, einen Enzensberger, der mir den frischen Pyjama zurechtlegt, einen Joachim Kaiser, der das Mineralwasser in der Karaffe nachfüllt?«
Ich habe kaum jemanden kennengelernt, der so sehr zeigt, wie wichtig ich ihm bin. Es ist ganz große Zuneigung. Er hängt enorm an mir und hilft mir beim täglichen Leben, vom Gute-Nacht-Tee bis zur Wärmflasche. Nur meine, wie heißt das Modewort, grenzwertige Eitelkeit geht ihm manchmal auf den Wecker, was ich auch verstehe. Trotz aller Zuneigung kokettiere ich gelegentlich mit dem Tucholsky-Satz: »Einsam, aber nicht allein.«
Sie zitieren Ihren Freund Joachim Kaiser: »Es mangelt nicht an der Potenz, es mangelt an der Libido.« Trifft das auch für Sie zu?
Ja. Man würde, um Grass zu variieren, noch einen hochkriegen, aber die Sehnsucht und die Neugier fehlt. Ich bin ein humpelnder, halb blinder, halb tauber Greis, trotzdem möchte ich die Libido wiederhaben. Man möchte es wollen können.
Was ist das Schlimmste am Alter, die Versteinerung, das schrumpfende Herz?
Das eigentlich Dramatische ist der rapide auf Null gehende Neugierpegel. Beim Zeitunglesen erwische ich mich bei dem Gedanken: kenn ich, weiß ich, brauche ich nicht.
Sie haben als Kritiker Hunderte Bücher gelesen, in denen Autoren ihr Altsein beschreiben. Bereitet einen Lektüre auf die Zumutungen des Alters vor?
Nein. Wenn es einem selber bevorsteht, in die Grube zu fahren, ist man wieder Analphabet. Als Leser hat man einen Vorsprung an Leidensfähigkeit.
Sie sind ein Hypochonder, der seit Jahren glaubt, morgen zu sterben. Sollte man nicht besser so leben, als gebe es keinen Tod?
Für einen denkenden Menschen ist es unvorstellbar, sich nicht mit dem Tod auseinanderzusetzen. Will man verbrannt werden? Will man, wie selbst Voltaire zum Schluss, geistlichen Beistand? Solche Gedanken vergällen das Leben nicht, sie intensivieren es. Gerd und ich haben verschiedene Wohnungen und ein bestimmtes Ritual, wann wir uns sehen. Um zehn vor sechs stehe ich am Fenster, weil er um sechs kommt und ich dann meinen ersten Drink bekomme. Da ich weiß, dass meine Uhr abläuft, intensivieren solche Rituale unsere Beziehung. Ich habe mich schon mit 20 über ein wunderbares Gedicht freuen können, aber nicht mit dieser Seligkeit wie heute.
Gibt es mit 82 noch Glück?
Wenn man darunter den Tanz auf den Wolken versteht, dann hat mich das Glück vor langer Zeit verlassen. Wenn man Zusammengehörigkeit und Beständigkeit in einer Beziehung meint, dann ist das Glück nicht ganz an mir vorbeigegangen.
»Glück ist nicht mei Sach«, schreiben Sie.
Ob man glücklich ist, ist zu 90 Prozent Veranlagung. Ich habe diese Glücksbegabung nicht. Einen Satz wie »Was ist das Leben schön!« habe ich nie sagen können. Dazu gab es dann doch zu viele Verwundungen. Wenn man meint, im Beckett-Sand zu versinken, hilft nur sehr viel Selbstironie.
Welche Note geben Sie Ihrer Selbstironie?
Eine Zwei bis Drei. Ich bin in der Lage, mich über mein Alter und meine Hässlichkeit lustig zu machen. Was ich nicht mag, ist, wenn man nur voller Spott über sich selber ist. Dürrenmatt empfahl, das Leben als Komödie zu sehen, aber der Mann war, wie wir alle wissen, etwas dumm. Man kann manches grauslich komisch finden, aber das Leben ist keine Komödie.
Sie beschreiben Ihren heutigen Zustand mit den Wörtern: Bitterkeit, Verkrauchtheit, Gemuffel, seelische Ermattung, Lebensekel, Lebensüberdruss, anhaltende Depressionen, Vergeblichkeitsgedanken, Endzeitgefühle, Todesfurcht, Weltverachtung, Erlebnis-armut, Leere, Vereisung, Glücksimpotenz, Wälz- und Alpträume, Zittrigkeit, Echolosigkeit, Abgemeldetsein, Schwerhörigkeit, Astigmatismus, Polyneuropathie, Arthrose, Herpes, Gürtelrose, verkrebste Lymphen, Krebsverdacht, Prostata-Alarm. Gibt es auch etwas Schönes am Alter?
Es gibt Angenehmes, Schönes nicht. Das Alter ist ein Massaker. Da hat Philip Roth leider recht.
Triumphieren Sie, wenn einer in Ihrem Alter stirbt?
Bei vielen Alten sind Hass und Rachsucht die stärksten Gefühle. Wenn ein Totenauto an Thomas Bernhard vorbeifuhr, hat er sich immer händereibend gesagt: »I net!« So geht es mir nicht, oder noch nicht. Wenn wir Zeitung lesen, und der Gerd sagt, der und der ist gestorben, frage ich immer, wie alt? Selbst der Tod von weitläufig Bekannten erzeugt in mir ein grässliches Entzugs- und Verlustgefühl.
Würde das auch für Ihren Intimfeind Hellmuth Karasek gelten, den Sie im Tagebuch als »Widerling« schmähen?
Ja. Selbst bei Karasek, der ja nun kein Kollege ist, sondern ein Heizdeckenverkäufer, würde es einen kleinen Moment von Kummer und Traurigkeit geben. Und vielleicht würde ich sogar eine Blume schicken.
Wen, der tot ist, vermissen Sie wirklich?
Den Maler Paul Wunderlich. Sein Tod war ein schrecklicher Stoß, den ich bis heute nicht verwunden habe, obwohl er schon vier Jahre her ist. Das war eine ganz einmalige, 50 Jahre währende Freundschaft ohne Eintrübungen. Jeder Abend war purer Champagner. Heute denke ich, vielleicht übertreibe ich, und mir war Paul Wunderlich viel wichtiger als ich ihm.
Der unrettbar an Krebs erkrankte Schriftsteller Wolfgang Herrndorf notierte nach dem Kauf eines Revolvers: »Die gelöste Frage der Exitstrategie hat eine so durchschlagend beruhigende Wirkung auf mich, dass unklar ist, warum das nicht die Krankenkasse zahlt. Globuli ja, Bazooka nein. Schwachköpfe.«
Ein toller Satz. Ich habe ihm daraufhin ein Kärtchen geschrieben. Man sollte den Giftbecher auf Krankenschein bekommen. Sonst zwingt man die Leute dazu, sich am Kanal eine Kugel in den Kopf zu schießen oder sich vor den Zug zu werfen – was ich dem Zugführer gegenüber ungehörig finde. Ich werde mein Ende selber in die Hand nehmen. Ich habe eine Exit-Strategie gefunden. Ich hätte keine Lust, in die Schweiz zu fahren und einer Combo von Ärzten eine Sterbeerlaubnis abzutrotzen.
Sie schreiben, dass Sie neben »gewiss 1000 Männern« auch mit »etwa 20 Frauen« geschlafen haben. Was wäre aus einem Vater Raddatz geworden?
Zwei Frauen waren von mir schwanger, bei der Dritten war es strittig. Ich wollte damals nicht Vater werden, habe es aber natürlich den Frauen freigestellt. Die haben das dann selber entschieden. Ich habe das sehr bereut. Eigentlich wäre ich gern Vater geworden. Dass ich es nicht bin, ist ein Lebensversäumnis. In einem Fall hat mir der Arzt gesagt, es wäre ein Sohn gewesen. Das hat mich schlimm umgehauen. Das Gefühl von damals ist in mir so lebendig, als wäre es gestern gewesen. Heute bin ich ein Kindernarr. Es ist wunderschön anzusehen, wie die Väter heute ihre Kleinen pudern und wickeln. Manchmal denke ich auch, in 40 Jahren prozessiert ihr gegen euren Vater. Aber diesen frivolen Witz lassen wir mal.
Transzendieren Kinder das eigene Leben?
Nein, das ist eine niedliche Illusion. Ich habe aber bei anderen erlebt, wie Familienrummel einen Menschen trägt und stabilisiert. Unsereins hat kein Geäst, das im Sturm schützen könnte.
Angenommen, Sie dürfen auf Ihrem Sterbebett noch ein einziges Mal telefonieren: Wen rufen Sie an?
Gerd natürlich.
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Der Literat
Fritz J. Raddatz, 1931 geboren, war Lektor beim Verlag Volk und Welt in Ostberlin und siedelte wegen Konflikten mit der SED-Führung 1958 in die Bundesrepublik über. Nach neun Jahren als Vize-Chef des Rowohlt-Verlags war er von 1976 bis 1985 Feuilletonchef der Zeit. Neben seiner journalistischen Arbeit schrieb er Romane und Biografien.
Fotos: Julian Baumann