»Ich möchte den jungen Menschen zeigen, was Idealismus bedeutet«

Der japanische Bestsellerautor Haruki Murakami tut nur so, als schreibe er Bücher. Eigentlich will er die Welt retten.

Herr Murakami, was fasziniert Sie an Sekten?
Haruki Murakami: Das ist kompliziert.

Vor zehn Jahren haben Sie ein Sachbuch über die Aum-Shinrikyo-Sekte geschrieben, die einen Giftgasanschlag auf die Tokioter Metro verübte. Auch Ihr neuer Roman 1Q84 handelt wieder von einer Sekte.
Ich habe damals den Prozess gegen diese Kriminellen verfolgt. Ich war dort, als die Todesurteile verlesen wurden.

13 Menschen kamen 1995 bei den Anschlägen mit Giftgas um, 6000 wurden verletzt. Die meisten Leute hielten die damaligen Täter für verrückte Verbrecher. Was interessierte Sie an deren Motivation?
Diese Leute haben schwere Verbrechen begangen, aber ich weiß nicht – in gewisser Weise waren sie ja keine gewöhnlichen Kriminellen.

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Sie hielten sich für eine Art Buddhisten.
Sie suchten nach Wahrheit, waren aber einer Gehirnwäsche unterzogen. Sie befolgten Befehle. Wie Kriegsverbrecher, denen Offiziere den Mord an unschuldigen Menschen befahlen. Eine Sekte funktioniert wie das Militär. Darüber wollte ich schreiben, ein Sachbuch war nicht die richtige Form für ein so komplexes Thema. Deshalb habe ich nun einen Roman darüber geschrieben.

Ist der Sektenführer in Ihrem Roman ein Abbild von Shoko Asahara, dem Führer der Aum-Sekte?
Nein. Asahara hat mich nicht interessiert. Mein Sektenführer ist interessanter.

Ihr Sektenführer vergewaltigt junge Mädchen, sogar die eigene Tochter, er stilisiert das zur Kulthandlung. Eine abstoßende Figur, aber die weibliche Hauptfigur Ihres Buches, Aomame, erliegt erst einmal seiner Faszination.
Mein Sektenführer war ursprünglich ein sehr intellektueller, sehr gescheiter Mensch.

Mit politischen Motiven.
Ja. Aber von einem gewissen Moment an wurde er irregeleitet. Sein Geist wurde, wie soll ich sagen, gekidnappt. Irgendwie besetzt. Von einer finsteren Macht. So etwas gibt es, das habe ich beim Prozess gespürt, so kam mir das vor. Dieses Etwas hat keine reale Form, aber es existiert.

Der Sektenführer in Ihrem Roman hält sich selbst für unschuldig und leidet Schmerzen. Fast meint man, der Leser solle Mitleid mit ihm bekommen.
Der Plot ist sehr komplex, die Beziehung zwischen einer anderen Hauptfigur, sie heißt Aomame, und ihm ist sehr komplex.

Sie gewinnen dem Leben in einer Kommune auch positive Aspekte ab.
Sicher, ihre Mitglieder haben sich von dem extremen Kapitalismus ihrer Umwelt losgesagt. Sie haben ihre eigene kleine Welt geschaffen, treiben Bio-Landbau, verwenden keine Elektrogeräte, lesen Bücher, hören Bach – sie führen ein einfaches, ein gutes Leben. Ich selbst esse hauptsächlich Gemüse, ich treibe Sport, aber ich vertraue mich keiner Gruppe an. In jeder Gruppe wird Macht ausgeübt, sonst würde sie auseinanderfallen. Das mag ich nicht. Ich will ein Individuum sein. In jedem Moment.

Ihr Roman spielt im Jahr 1984. Aber es ist eine irreale Vergangenheit, die so nie stattgefunden hat. Warum haben Sie keinen Science-Fiction-Roman geschrieben, der in der Zukunft spielt?
Ich mag Science-Fiction nicht. In Science-Fiction-Filmen ist die Welt dunkel, es regnet dauernd, und die Leute tragen komische Kleider.

Warum dann keinen Gegenwartsroman?
Unsere Gegenwart scheint mir irreal. Das ist ein Gefühl, das viele haben. Wir können nicht mehr sagen, was real ist und was irreal. Oder surreal. Die Welt sieht heute oft aus wie eine Fantasiewelt. Deshalb dachte ich, da muss es doch eine andere Welt geben. Eine, in der Bush nicht gewählt worden wäre, in der es keinen Irakkrieg gegeben hätte. Ich wollte eine solche andere Welt erfinden.

Also gut, was hoffen Sie, in dieser anderen Vergangenheit zu finden?
Es muss Gründe geben, warum es so geworden ist, wie es ist. Warum wir in diesem Chaos stecken. Nach dem Krieg haben wir Japaner so hart gearbeitet. Wir haben geglaubt, mit dem Reichtum käme das Glück automatisch. Aber wir wurden nicht glücklich. Dann brach die Wirtschaft ein, und wir wurden immer noch nicht glücklich. Wie können wir jetzt glücklich werden? Das ist die große Frage, die sich uns Japanern stellt. Wir sind verloren, wir finden keinen neuen Sinn. In 1Q84 wollte ich beschreiben, wie wir in diese Lage geraten sind.

»Es geht um extremen Idealismus in meinem Buch.«

Die männliche Hauptfigur Ihres Romans, Tengo, ist ein junger Schriftsteller, so wie Sie es 1984 waren.
Tengo ist fünf Jahre jünger, als ich es 1984 war. Das ist ein großer Unterschied. Ich war 1968/69 an der Uni, das waren auch in Japan Jahre der Revolution und der Gegenkultur. Tengo hat diesen ganzen Umbruch verpasst.

Dann gehört Tengo zur ersten apolitischen Generation Japans?
Nach der weltweiten Kulturrevolution Ende der Sechzigerjahre wurden die Leute apolitisch. Sie suchten nach neuen Werten, nach Kulten, sie wollten zurück zur Natur, gingen in Kommunen. Ich selber habe einer Generation von Idealisten angehört. Für uns war Idealismus sehr wichtig. Wir glaubten, die Welt werde besser und besser. Che Guevara tat das, John Lennon tat das. Aber dieser Glaube ist weg, er war nur ein Traum. Heute gibt es keine Idealisten mehr, sie sind mit den Siebzigerjahren verschwunden. Heute, vierzig Jahre später, glauben nur noch wenige Leute, die Welt werde besser. Da sehe ich es als meine Aufgabe an, der jungen Generation zu vermitteln, was Idealismus bedeutet. Oder bedeutet hat. Ich muss den jungen Japanern erklären, was in den Sechzigerjahren und auch während des Weltkriegs passiert ist. Ich bin nach dem Krieg geboren, aber ich habe das mitbekommen. Wir müssen die Geschichte an die nächste Generation weitergeben.

Die Sektenmitglieder in Ihrem Roman sind fehlgeleitete Idealisten?
Ja.

Im Roman bezahlt eine reiche alte Dame die junge Aomame dafür, dass sie Männer tötet, die Frauen vergewaltigt haben. Sie will die Welt von diesen Übeltätern befreien – ist auch sie eine fehlgeleitete Idealistin?
Durchaus. Es geht um extremen Idealismus in meinem Buch. So wie er in den Siebzigerjahren existierte. Da gab es in Japan Rengo Sekigun, die japanische Rote Armee, ähnlich wie Baader-Meinhof in Deutschland. Und die Aum-Sekte. Viele aus meiner Generation wurden Business-Krieger in der Wirtschaft, auch das ist ein Extrem. Alle Formen von Extremen waren nicht gesund für die Gesellschaft.

Sie lebten einige Jahre in den USA. 1995 kamen Sie nach Japan zurück, weil Sie, wie Sie einmal sagten, nach der Gasattacke der Aum-Sekte und dem Erdbeben in Kobe Ihre Verantwortung als Bürger wahrnehmen wollten.
Die Giftgasattacke und das Erdbeben von Kobe 1995 haben Japan verändert. Die Menschen haben kein Ziel vor Augen. Sie wissen nicht mehr, was richtig ist und was falsch. Deshalb haben viele Angst.

So eine Verunsicherung gibt es doch nicht nur in Japan.
Seit Beginn der Neunzigerjahre wurden meine Bücher allmählich übersetzt und in zwei Ländern besonders gut aufgenommen: in Deutschland und Russland. Ich hatte den Eindruck, das hing mit dem Fall der Mauer und dem Kollaps des Kommunismus zusammen, der Deutschland wie Russland kurzzeitig ins Chaos stürzte, ein Chaos wie aus einem meiner Bücher. In den USA werde ich seit dem 11. September vermehrt gelesen. Zuletzt auch in China. 1Q84 startete dort mit einer Auflage von einer Million. Ich war fast schockiert. Eine Million in der ersten Auflage. Und die Leser nehmen meine Geschichten enthusiastisch auf.

Der asiatische Lesermarkt wächst.
Man spricht ja davon, dass sich auch das intellektuelle Zentrum allmählich nach Osten verschiebt, wie überhaupt das Gleichgewicht zwischen West und Ost. Ich bin gespannt, was da auf uns zukommt. Politisch und wirtschaftlich gesehen, habe ich keine Ahnung. Aber ich kann mir gut vorstellen, wie sich die Literatur entwickelt: Die Geschichten werden an Kraft gewinnen, ähnlich wie im 19. Jahrhundert Dickens, Balzac, Dostojewski. Im 20. Jahrhundert hat man sich nur mehr für das Ego interessiert.

Und das 21. Jahrhundert gehört wieder den großen Geschichten?
Ja. Ich stelle mir mich gern als Höhlenbewohner vor. Kein Strom, draußen ist es ganz dunkel. Die Leute sitzen um ein Feuer und hören meine Geschichten. Diese Vorstellung macht mich glücklich. Das ist mein Job, ich erfinde neue Mythen für sie. Aber ich muss vorsichtig sein. Meine Geschichten sollen gute Mythen sein, keine bösen.

Sie sind noch immer Idealist?
Ich habe das Gefühl, wir müssen das gesellschaftliche System neu erschaffen. Dazu brauchen wir eine Perspektive und starke Prinzipien. Das hat etwas mit Mythen zu tun.

»Ja, ich schreibe auch über fürchterliche Dinge, Gewalt, Sex, Vergewaltigung.«


In einer Ihrer Geschichten können Katzen sprechen, das Übernatürliche spielt eine große Rolle bei Ihnen.

Wenn eine Geschichte gut ist, freuen sich die Leute, egal wo auf der Welt. Aber die Leser in Asien und in Europa lesen mich auf sehr unterschiedliche Weise. Europäer und Amerikaner wollen eine Geschichte rational verstehen. Asiatische Leser sind eher unlogisch, ich meine, sie akzeptieren eine Geschichte so, wie sie ist.

Tun sich Asiaten auch leichter mit der Gewalt in Ihren Büchern?
Ja, ich schreibe auch über fürchterliche Dinge, Gewalt, Sex, Vergewaltigung. Um die guten Seiten suchen zu können, muss ich über die schlimmen Sachen schreiben. Das eine geht nicht ohne das andere.

Japanische Feuilletonisten bekritteln Ihre Bücher allerdings immer noch. Können Sie sich diese Feindschaft erklären?
Ich weiß auch nicht, warum sie meine Bücher nicht mögen. Vielleicht, weil ich mich nicht angepasst habe, ich habe von Anfang an geschrieben, was ich schreiben wollte. Ich war der böse Bube. Dieser Umstand war ja mit ein Grund, warum ich damals aus Japan in die USA gegangen bin.

Dafür mochten die japanischen Leser Sie von Anfang an. Wann wussten Sie, dass Sie Schriftsteller werden wollten?
Ich habe sieben Jahre lang einen Jazzclub geführt. Ich hatte so viel zu tun, ich konnte an nichts anderes denken als an den Jazzclub. Bis ich eines Tages, es war im April 1978, auf die Idee kam zu schreiben. Ich kaufte mir einen Füllfederhalter und Manuskriptpapier und begann damit. Meist am frühen Morgen, nachdem ich den Club geschlossen hatte. Zuvor habe ich nie geschrieben. Aber ich habe viele Bücher gelesen, sehr viele, als Teenager, in meinen Zwanzigern. Die Brüder Karamasow dreimal, Krieg und Frieden dreimal. Ich bin noch niemandem begegnet, der so viel gelesen hat wie ich. Ich bin verrückt nach Büchern.

Trotzdem haben Sie lang gezögert, selbst zu schreiben.
Wenn Sie Dostojewski und Balzac lesen, dann glauben Sie nicht, das selbst zu können – die sind so gut. Mit 29 hatte ich allerdings genug erlebt, um dennoch einen Versuch zu wagen. Ich habe das Manuskript an einen Verlag geschickt, der mir gleich einen Preis aussprach.

Wie lange haben Sie den Jazzclub dann noch weitergeführt?
Zwei Jahre lang. Aber das hat mich so erschöpft, also habe ich den Jazzclub verkauft. Ich wusste, wenn ich nur noch schriebe, würde ich besser.

Sind Sie mit Ihren Büchern inzwischen zufrieden?
Mit IQ84 bin ich es. Aber ich will noch bessere Bücher schreiben. Als ich 35 oder 40 war, dachte ich, ich kann unzählige Bücher schreiben. Heute nicht mehr. Vielleicht noch zwei oder drei. Dazu muss ich stark sein. Und ich will größere, tiefere Bücher schreiben. Ich bin ehrgeizig, das ist gut für einen Schriftsteller. Wissen Sie, damals, als es so weit war, dass ich vom Schreiben leben konnte, habe ich mein Glück kaum fassen können. Ich will Schriftsteller bleiben, bis ich sterbe.

Foto: Stefan Worring