»Kein Kritiker der Welt kann mir den Schmerz zufügen, den mir das Leben zufügen kann«

Den neuen Roman von James Frey begleiten eine TV-Show, eine App, eine Filmtrilogie und eine Goldschatz-Suche für die Leser. Verrückt - oder die Zukunft des Buchmarktes?


SZ-Magazin: Ihr Roman Endgame ist gerade erschienen. Waren Sie im vergangenen halben Jahr sehr nervös?

James Frey: Eher aufgeregt. Gespannt. Es ist immer das Gleiche, wenn ein Buch rauskommt. Die Arbeit von drei, vier Jahren steckt darin, aber dieses Mal war es nicht nur das Schreiben, sondern das Gesamtkonzept: Es ist ja nicht nur ein Buch, sondern ein multimediales Ereignis, mit App, Handyspiel, Fernsehshow, Filmtrilogie – plus Rätsel und Schatzsuche.

Sie veranstalten da eine globale Schnitzeljagd. Mit echtem Schatz?
Mit echtem Gold sogar! Damit ist für mich, auch wenn das jetzt platt klingt, ein Traum Wirklichkeit geworden. Was wir da machen, ist etwas ganz Neues.

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Ist jemals ein Buch gleichzeitig in so vielen Ländern erschienen?
Mein Agent sagt Nein. Es ist in 34 Sprachen übersetzt worden und in 150 Ländern gleichzeitig erschienen. Das macht auch Angst.

Sie haben Angst?
Also: Ich habe keine Angst davor, mein Haus zu verlieren, meine Familie ist nicht in Gefahr. Wenn, dann ist meine Karriere in Gefahr. Das kann ich aushalten. Aber ich habe hart gearbeitet, viel Herzblut in dieses Projekt gesteckt, ich wünsche mir sehr, dass es gelingt.

Sie haben Ihre Karriere von Anfang an gefährdet: In Ihrem ersten Buch Tausend kleine Scherben von 2003 schreiben Sie über Ihren Drogenentzug. Aber nicht alles, was in dem Buch steht, das als Ihre Autobiografie verkauft wurde, haben Sie wirklich erlebt. Das Buch war ein Riesenerfolg, doch Sie haben sich 2006 in der Sendung von Oprah Winfrey entschuldigt, weil sich die Nation betrogen fühlte. Fanden Sie
die Empörung übertrieben?

Es war vor allem ein Medienereignis. Ich hatte ein Buch geschrieben, keinen journalistischen Text über den Drogenentzug eines Menschen. Klar überhöht man da. Die einen fanden das Buch toll, die anderen schrecklich. Die einen hielten es für Literatur, die anderen für einen großen Schwindel. Mir ist egal, was die Leute denken.

Aber Sie klingen immer noch wütend.
Die Kommentare waren schon sehr hämisch. Und ich habe das an manchen Tagen persönlicher genommen als an anderen. Heute bin ich stärker. Allerdings macht es mich manchmal immer noch fertig, wenn ich über mich »Der größte Lügner aller Zeiten« lese. Aber ich lege mich nicht in die Ecke und heule. Wenn man Bücher schreibt und möchte, dass die Leute sie lesen, muss man sich auf einiges gefasst machen. Wenn ich mit Kritik und Häme nicht umgehen könnte, dann könnte ich keine Bücher schreiben.

Hat diese Erfahrung Sie abgehärtet?
Ich bin ein Mensch. Ich habe Gefühle. Ich bin verletzlich. Aber kein Buchkritiker der Welt kann mir den Schmerz zufügen, den mir das Leben zufügen kann. Ich habe Freunde beerdigt. Ich habe meinen eigenen Sohn beerdigt.

Oh, das tut mir sehr leid. Woran ist Ihr Sohn gestorben?
Er war lebensunfähig, als er geboren wurde. Das war 2008. Und es war brutal. Der Gang zu Oprah war ein Kinderspiel dagegen. Und heute bin ich stolz auf das Buch. Es führt jetzt sein eigenes Leben: Die Leute lesen es nach wie vor, auch wenn längst jeder weiß, dass ich die Geschichte nicht ganz genauso erlebt habe. Ich bekomme täglich Briefe von Leuten, die es gerade lesen.

Sie haben nach dem Skandal um Sie den amerikanischen Skandalautor Norman Mailer getroffen. Konnte er Sie trösten?
Sicher. Allein dadurch, dass er mich getroffen hat. Norman Mailer war ein großer Schriftsteller. Eine Überfigur. Er hat immer gemacht, was er wollte, und sich nie reinquatschen lassen. In dieser Phase meines Lebens war er der ideale Verbündete.

Norman Mailer hat auch gesagt, dass Schriftsteller nichts anderes tun, als eine bessere Version von sich selbst zu erstellen.
Eben. Das ist der Job. Lesen Sie Baudelaire. Rimbaud. Knut Hamsun. Lesen Sie tausend andere Schriftsteller. Das ist das, was sie alle tun. Ich bin kein Journalist und auch kein Arzt. Ich habe nicht versucht, ein Selbsthilfebuch zum Drogenentzug zu schreiben, sondern Literatur. Da gibt es keine Regeln. Und sollten irgendwelche Leute Regeln aufstellen, werde ich sie nicht akzeptieren.

Provozieren Sie gern?
Ich provoziere nicht um des Provozierens willen. Das ist mir zu einfach, besonders in Amerika, in dieser unglaublich politisch korrekten Welt. Aber ich scheue auch keinen Konflikt. Wenn das, was ich tue, die Leute provoziert, habe ich kein Problem damit. Ich werde es nicht lassen, die Bücher zu schreiben, die ich schreiben möchte, nur weil sich Leute provoziert fühlen.

Ein Kritiker, der es gut mit Ihnen meinte, hat über Sie geschrieben, Ihre Bücher seien eine Mischung aus Machismo und Großherzigkeit. Einverstanden?
Absolut. Damit kann ich was anfangen. Ich finde das sogar angemessen. Ich möchte kraftstrotzend schreiben. Aber ich möchte auch gefühlvoll schreiben. Wie gesagt, ich bin ein Mensch. Ich fühle, und ich tue nicht so, als würde ich nicht fühlen. Literatur ist ein Ausdruck dessen, was wir fühlen, was wir denken, wer wir sind.

Ihre Sätze sind kurz, kaum vollendet, atemlos. Ist das Programm?
Tausend kleine Scherben ist ein Buch über Sucht und Wut. Und so ist die Sprache.

Wie haben Sie schreiben gelernt?
Ich habe es mir selbst beigebracht. Die wichtigste Regel für mich ist: Ich möchte jedes Mal ein ganz anderes Buch schreiben.

Ihr zweiter großer Erfolg war Strahlend schöner Morgen, ein Roman über Los Angeles. Die Literaturkritik brachte das Buch in Verbindung mit berühmten Großstadtromanen wie Manhattan Transfer von John Dos Passos. War Ihnen das beim Schreiben bewusst?
Aber sicher. Ich liebe John Dos Passos. Als ich Strahlend schöner Morgen schrieb, wusste ich, dass große Bücher über große Städte in der Lage sind, diese Städte zu definieren. Berlin. Dublin. New York. Aber niemand hatte sich bisher an Los Angeles gewagt. Ich habe dort gelebt, ich fand es toll, ich wollte diese Lücke füllen.

Ihre Vorbilder waren also tatsächlich Manhattan Transfer, Berlin Alexanderplatz, Ulysses?
Ich bin ehrgeizig. Ich mag die ganz großen Herausforderungen. Ich suche sie. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Ich versuche nicht, die neue Version von jemandem zu sein. Ich liebe John Dos Passos, Henry Miller, Hermann Hesse, Bret Easton Ellis, Michel Houellebecq. Aber ich möchte nicht der nächste Bret Easton Ellis sein. Ich möchte ich sein.

»Insgesamt finde ich die Bücher der weißen amerikanischen Schriftsteller, die die Probleme der weißen amerikanischen Mittelklasse beschreiben, langweilig.«

James Frey ist 45 Jahre alt, Amerikaner und lebt mit seiner Familie in Connecticut. 2003 wurde er mit dem Roman »Tausend kleine Scherben« berühmt, einem rasant und zornig geschriebenen Buch über seinen Drogenentzug. Allerdings hatte er mit der Schilderung der fünf Jahre auf Heroin, Crack, Alkohol und Kokain, die der Therapie vorausgingen, ziemlich übertrieben. Auf der Fernsehcouch von Oprah Winfrey musste Frey Abbitte leisten. Doch er kam wieder auf die Füße: »Strahlend schöner Morgen« von 2008 wurde ein ambitionierter Großstadtroman über Los Angeles, gerade ist »Endgame« erschienen (Verlag Friedrich Oetinger, 19,99 Euro), wieder ein ehrgeiziges Projekt: Es geht um die Zukunft des Lesens.
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Der große James Frey?

Natürlich. Ich wünsche mir, dass Schriftsteller meine Bücher so betrachten, wie ich die Bücher dieser Schriftsteller betrachte. Oder dass die Schriftsteller, die ich bewundere, meine Bücher bewundern. Aber ich versuche nicht, Teil einer Schule oder Tradition zu werden. Vor allem versuche ich, über Dinge zu schreiben, über die ich gerade schreiben möchte.

Gibt es etwas, worüber Sie nicht schreiben möchten?
White guy shit. Ich mag Philip Roth, ich mag John Updike und seine Rabbit-Bücher. Aber insgesamt finde ich die Bücher der weißen amerikanischen Schriftsteller, die die Probleme der weißen amerikanischen Mittelklasse beschreiben, langweilig. Es interessiert mich nicht, es ihnen nachzutun. Das haben schon genügend Leute vor mir getan.

Und nun kommt Endgame. Was ist der Unterschied zwischen Endgame und Die Tribute von Panem?
Die Bücher ähneln sich überhaupt nicht.

In beiden geht es um eine Gruppe junger Leute, die für das Fortbestehen ihres Volkes gegeneinander antreten.
Ich fand Die Tribute von Panem cool, übrigens. Nur dass Sie das wissen. Der größte Unterschied zwischen den Büchern: Die Tribute von Panem spielen in einer Dystopie, einer erfundenen Welt der Zukunft. Endgame spielt in unserer Welt, im Hier und Jetzt, auf meinen Straßen und auf Ihren Straßen. Sicher, die Protagonisten haben in beiden Büchern ungefähr das gleiche Alter. Und sie spielen ein Spiel, ein sehr ernst gemeintes. Aber sonst gibt es keine Parallelen.

Die Jugendlichen müssen sich in beiden Büchern gegenseitig umbringen, oder nicht?
In Endgame müssen sie sich nicht umbringen. Es sind zwölf ausgewählte Teenager, die jeweils eine menschliche Blutlinie vertreten und von Aliens für dieses Endzeitspiel trainiert wurden.

Es geht aber doch um Leben oder Tod: Die Linie des Gewinners darf die Apokalypse überleben, die anderen müssen sterben.
Sicher. Wenn Sie unbedingt Ähnlichkeiten entdecken möchten, bitte. Wettkämpfe dieser Art hat es immer gegeben, angefangen bei den Gladiatoren in Rom. Diese alten Ideen haben schon viele weitergesponnen. Und Suzanne Collins hat das so gut gemacht, dass sie damit weltberühmt wurde. Und doch ist ihre Vision nicht meine. Und ihre Bücher sind nicht die Inspiration für meine. Das ist Masquerade. Mein Lieblingsbuch, erschienen 1979. Der Autor, Kit Williams, hat in der Geschichte verschlüsselte Hinweise auf einen Schatz gegeben, den er tatsächlich in Anwesenheit eines Zeugen vergraben hat. Damals gab es natürlich die Technik von heute nicht. Was wir jetzt tun, wäre noch nicht einmal vor fünf Jahren möglich gewesen.

Begeistern Sie sich tatsächlich für Multimedia, oder glauben Sie, man muss heute diesen Weg gehen, um Erfolg zu haben?
Ich mache das nicht aus der Not heraus. Ich bin ein großer Anhänger der neuen Technologien. Sie machen Geschichten vielseitiger.

Wie das?
Sie erweitern den Plot. Die Helden haben Twitter-Profile und Websites, und Youtube-Videos erzählen ihre Vorgeschichten. Ich betrachte das digitale Publizieren als ebenso revolutionär wie die Erfindung des Buchdrucks. Auch damals hat sich Schriftstellern eine ganz neue Welt eröffnet. Genauso ist das für mich. Ich möchte Teil dieser neuen Ära sein.

Ist das Gesamtkonstrukt von Endgame Ihre Idee?
Ja, ich habe ein 35-Seiten-Exposé geschrieben. Da kam alles vor: die Bücher, die Videos, die Websites, das Rätsel, die Schatzsuche und wie das alles zusammengehören sollte. Dann habe ich mir meine Partner gesucht und die Leute beauftragt, die beteiligt sind. Das Buch selbst habe ich auch mit einem Co-Autor geschrieben, mit Nils Johnson-Shelton.

Im ersten Teil der Trilogie, Die Auserwählten, können die Leser Gold im Wert von 500 000 Dollar finden. Stimmt es, dass Sie den Schatz von Ihrem Geld bezahlt haben?
Es ist mein Geld. Ich habe davon Gold gekauft, ja. Ich fand das cool.

Aber Sie selbst kennen die Lösung des Rätsels nicht?
Nein. Ich habe jemanden dafür bezahlt, dass er sich dieses Rätsel ausdenkt. Ich finde es auch cooler, die Lösung nicht zu kennen. Ich habe keine Ahnung, wo der Schlüssel versteckt ist.

Haben alle Menschen die gleichen Chancen, das Rätsel zu lösen und den Schlüssel zu finden, egal wo sie leben?
Ja, die Voraussetzungen sind weltweit die gleichen. Wenn man das Buch und Zugang zum Internet hat.

Ist dieser ganze Rummel nicht das Gegenteil des schriftstellerischen Daseins?

Ich bin – als Autor – nicht interessiert an Ruhe und Frieden. Ich möchte mich niemals langweilen, nicht beim Schreiben, nicht beim Lesen. Ich möchte aufgeregt sein, ich möchte Angst haben. Ich brauche Tempo, Lautstärke, Spannung.

Aber Sie leben in Connecticut, eineinhalb Stunden von New York City entfernt. Was sucht jemand wie Sie auf dem Land?

Es ist ruhig und schön und einfach auf dem Land. Wälder. Sich durch die Landschaft schlängelnde Straßen. Kein Stress. Wir haben einen kleinen Weiher hinterm Haus.

Wer ist wir?

Meine Familie. Ich habe eine Frau, zwei Töchter und einen Sohn. Ich finde hier Ruhe und Frieden. Als Privatperson brauche ich das. Viele Schriftsteller haben sich irgendwann aufs Land begeben. Alle fangen in der Stadt an zu schreiben und ziehen sich dann zurück.

Fotos: Tim Barber