Mit dem Taxi in die Freiheit

Ein ehemaliger Kämpfer des Islamischen Staates erzählt, wie er sich ein Mädchen kaufte – um dann mit ihr gemeinsam vor dem Terror zu fliehen.

Ich sitze in meinem Versteck in Kirkuk. Die Nacht verdunkelt die Straßen. Die Nacht ist mein Freund. In der Dunkelheit kann ich Gefahren besser wittern; Geräusche, die nicht passen, sofort identifizieren. Ich bin ein lebender Toter, solange der IS existiert. Ich war Soldat mit höherem Dienstgrad im Islamischen Staat. Ich bin darauf weder stolz, noch beschämt es mich. Das war mein Job.

Ich denke viel nach in der Nacht. Ich habe Zeit. Ich bin Waqas. 26 Jahre alt. Aber ich fühle mich wie ein Greis. Ich habe so viel gesehen, was man nicht sehen sollte. Ich bin ein verheirateter Mann ohne die Frau an meiner Seite. Ich denke viel an sie. Sie ist wohl die Frau meines Lebens. Ich habe sie noch nie geküsst. Ich habe nie mit ihr eine Liebesnacht verbracht. Der Moment, in dem wir uns kennenlernten, gehorchte nicht der Normalität. Denn im Irak und in Syrien herrschen seit Jahren Terror, Chaos und Krieg. Das weiß die ganze Welt. Dass es aber in solchen Zeiten auch Liebe gibt, das soll die Welt jetzt von mir erfahren.

Die junge Frau, von der ich erzählen will, heißt Shirin. Sie ist Jesidin. Ich bin Sunnit. Eigentlich unmöglich. Aber was ist in Zeiten des Krieges unmöglich? Shirin ist nicht bei mir. Sie ist in Sicherheit, in Deutschland. Darüber bin ich sehr glücklich. Das weiß ich von ihrem Vater. Ich habe mit ihm telefoniert. Er lebt in einem irakischen Flüchtlingslager nahe der türkischen Grenze.

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Shirin hat jetzt ein Buch geschrieben, das erfuhr ich von dem deutschen Journalisten, mit dem ich oft und lange telefoniert habe. Ihm habe ich meine Geschichte erzählt. Er versprach, sie für mich aufzuschreiben. Shirins Buch heißt: Ich bleibe eine Tochter des Lichts. Das stimmt. Denn sie ist ein helles Wesen. Wie ein Engel. Das mag kitschig klingen für Ohren, die das Gebell des Krieges nicht hören können. Das mag sich schmalzig lesen in den Augen jener, die den Unrat des täglichen Terrors nicht wahrnehmen mögen.

Im IS sind die Menschen düster, nicht nur ihre Kleidung, auch ihre Ausstrahlung ist dunkler als die schwärzeste Nacht. Shirin hat sich ihren Schmerz von der Seele geschrieben. So ist sie. Anders als andere. So begabt. So intelligent. So süß wie Milch, das bedeutet der Name Shirin im Hocharabischen. Sie beschreibt in ihrem Buch, habe ich mir sagen lassen, die geglückte Flucht aus den Fängen der IS-Terroristen. Das war ich. Ich habe sie gerettet; und sie irgendwie auch mich.

Wenn ich an meine Zeit in Mossul, Tal Afar oder Rakka zurückdenke – wir sprechen von Monaten, nicht von Jahren oder Jahrzehnten –, höre ich immer noch das Wehklagen der Frauen, es schmerzt in meinen Ohren. Ich sehe vor mir Eltern, die um ihre Kinder trauern, die das Feuer des IS-Terrors gefressen hat.

Ich war damals abgestumpft. Selbstschutz. Ich bemerkte, wie mir der Schrecken dieses Alltags zum Zuhause wurde, wie ich mich verlor, wie meine Ehre und meine Würde begannen, sich aufzulösen. Mensch ohne Seele: Das war das, was mir drohte. Shirin hat mich daraus gerettet.

Es fühlt sich so gut an, zu wissen, dass sie lebt. Der IS glaubt, wir wären nach Syrien gefahren, um dort zu kämpfen und zu sterben. Wir gelten als gefallen. In Wahrheit sind wir geflohen. Im Heiligen Koran habe ich dazu für mich wahre Worte gefunden, die mich in allem, was ich tat, bestärken: »Die aber glauben und gute Werke tun – diese sind die Bewohner des Himmels; darin sollen sie bleiben.«

Im IS herrscht jetzt die Zersetzung des Verfolgungswahns. Weil keiner keinem mehr traut, wird es auch nicht mehr lange so weitergehen. Ich könnte viel mehr Einzelheiten schreiben, will ich aber nicht, denn der Islamische Staat weiß, wo meine Familie lebt. Ich will meine Liebsten schützen. Sie schweben in Gefahr. Man soll an meiner Kenntnis der Lage keine Rückschlüsse darauf ziehen können, wer ich bin.

Wie fing das alles an? Daran muss ich so oft denken, wenn ich hier in meinem Versteck ausharre. Als ich im Irak aufwuchs, bestanden die Koordinaten meines Lebens aus Allah, meiner Familie und meinem Glauben an Recht und Ordnung. Ich habe mich immer nach Gerechtigkeit gesehnt. Deshalb bin ich Polizist geworden, bei einer dem FBI ähnlichen Regierungsbehörde im Irak. Als aber Recht und Gesetz, ohnehin nur brüchig wiedergewonnen unter der US-Besatzung, zu verschwinden begannen, als der IS immer mehr Zulauf bekam, weil er vielen als Rettung aus einem unwürdigen Dasein erschien, ging auch ich als Kämpfer zur Miliz des Islamischen Staates. Als Polizist hatte ich schon vorher gute Kontakte zu allen militärischen Gruppen des Irak gehabt. Auch zu den kurdischen Peschmerga. Tapfere Kämpfer. Schon immer. Peschmerga heißt übersetzt: die dem Tod ins Auge Sehenden. Ob ich mit einem Auftrag zum IS bin? Mit einer Mission? Das will ich nicht ausführen. Jedenfalls haben viele, vor allem die Sunniten im Irak, den IS in seiner anfänglich als göttlich gepriesenen Radikalität gegen die Ungläubigen verehrt. Hat nicht jeder Mensch Ideale, nach denen er strebt? Ich hatte sie einmal. Heute ist jeder der Feind des anderen. So funktioniert kein Land. Ich spüre aber tief in meinem Herzen, dass Allah keiner Macht der Welt Unbesiegbarkeit schenkte. Das tröstet mich. Weil das heißt, das jede Ungerechtigkeit bezwungen werden kann.

Als der IS seine Busse ins Sindschar-Gebirge schickte, um Menschenjagd auf die Jesiden zu machen, war mir klar, dass es ihnen um die Frauen ging. Um sexuelle Belohnungen für verdiente Kämpfer. Es widerte mich an. Die Allianz des Terrors aus Blut und Vergewaltigung würgte mich. Sie rechtfertigten ihre Beutezüge damit, dass die Jesiden den Teufel anbeten würden. Das Jesidentum, habe ich es mir erklären lassen, glaubt, dass Gott seinem ersten Engel, Satan, seine Rebellion verzieh, und verehrt somit auch den gefallenen Engel an Gottes Seite. Das nennt der IS Gotteslästerung und Satanskult.

Ich war in Mossul. Ich sah die jungen Frauen, Mütter, Kinder. Sie verkauften oder verschenkten sie als Haussklaven, als Sexsklaven. Die meisten Männer hatte die IS-Miliz zuvor ermordet.

Drei Wochen blieb ich dort. Das war vor knapp einem Jahr. Ich wusste nicht, ob ich in Ungnade gefallen war oder was sonst der Grund war, warum man mir keine Frau anbot. Dann erfuhr ich: Der Bedarf in Syrien war größer, Rakka im Ranking des Islamischen Staats am bedeutendsten. Was also noch vorhanden war an »gutem Material«, so sagten sie, ging nach Syrien.

Wenig später wurde ich nach Tal Afar abkommandiert. Die Euphorie der Siege beflügelte den IS. Alles schien möglich. Doch ich spürte Zerfall. Ich roch ihre ranzige Geilheit, als »Nachschub kam«, so bezeichneten sie das, als die jungen Mädchen gebracht wurden, meistens Jesidinnen, das waren Jungfrauen, das waren Kinder – in jedem Haus, in jeder Nacht.

Ich nutzte dann meine Stellung und meinen Einfluss und ging zu einem IS-Funktionär, den ich einschätzen konnte. Ich forderte: »Gebt mir eine Frau! Mir steht auch eine zu.« Er versprach, sich zu kümmern. Etwas später suchte er mich auf. Er habe eine, meinte er. Wir gingen in eine Siedlung. Dort betraten wir ein ganz nettes Häuschen.

Sie war so jung. Vielleicht 15 oder 16. Sie wirkte wie ein Traum, wie ein Kuss, so süß war sie. Sie sah mich und begann sofort zu weinen. Sie glaubte, ich las es in ihrem entsetzten Gesicht, jetzt sei sie wieder dran, jetzt werde sie von mir nach Syrien gebracht, um dort zu leiden und zu sterben.

Wenn Allah trauert, daran glaube ich, schenkt er den Menschen Tränen. Shirin schluchzte so stark, dass die Krämpfe ihren Körper schüttelten. Der Vermittler und ich verließen das Haus. »Wie viel?«, fragte ich draußen. »Sie gefällt dir. 3000 Dollar.« – »Ihr verlangt sonst 300, ich habe keine 3000«, schimpfte ich. »Dein Problem. Eine Woche Zeit.« Einen Moment lang war es totenstill. Meine Gedanken rasten: Sie wollen 3000. Sie ist schön. Deshalb ist sie teuer. Kuhhandel.

Ich war so wütend – und in der nächsten Sekunde gefasst. Was Shirin vermutlich schon hinter sich hatte, konnte ich mir vorstellen, was ihr weiter drohen würde, auch: weitere Männer, weitere Vergewaltigungen, die sie entweihten, bis zum bitteren Ende. Sie tat mir unendlich leid. Ich sagte: »Morgen. 3000. Abgemacht.«

Ich kratzte alles zusammen und lieh mir den Rest. Wenn du sie retten willst, dann jetzt, wusste ich. Im Krieg hat jeder Angst, wer keine Angst hat, kennt keinen Krieg.

Am nächsten Tag eilte ich zu Shirins Haus. Ich nahm meine Waffe mit und das Geld. Erst wollte man mir sie nicht geben. Sie sei schon weg, sagte einer aus dem Trupp, der vor dem Haus herumlungerte. Ich wurde stinksauer und lud meine Waffe durch. Der Anführer kam. Ich sagte ihm, dass ich das Mädchen in dem Haus haben wollte: »Jetzt und sofort! Eine Abmachung ist eine Abmachung, hier ist das Geld.« Er war einverstanden und nahm die 3000 Dollar. Dann gab er mir einen Passierschein mit, damit war ich berechtigt, sie zu besitzen. Ohne dieses Papier hätten wir keinen IS-Checkpoint passieren können. Im Weggehen sagte ich, dass ich mir ihr nach Syrien fahren würde. »Das ist gut«, zischte er und zerstampfte die Glut seiner Zigarette am Boden. Zuvor hatte ich erfahren, dass Shirin im Haus eines gefallenen IS-Kämpfers lebte, ihrem früheren Herrn.

Drinnen wartete Shirin. Wie auf ihre Hinrichtung. Ihre Mutter und ihr Bruder waren auch da. Muttertränen sind die traurigste Klage. Sie zerfetzen deine Ohren und deine Seele.

Draußen stand der IS-Trupp. Ich redete beruhigend auf Shirin ein. Keine Zeit für lange Erklärungen. Irgendwann habe ich sie am Arm genommen und nach draußen gezogen. Ich hätte so gern alle gerettet. Doch es ging nicht. Zu wenig Geld. Zu wenig Zeit. Wir stiegen in das Taxi, mit dem ich gekommen war. Sie saß neben mir. Ein Bündel Angst. Ich wusste mir keinen anderen Rat und fuhr mit ihr, die ganze weite Strecke schweigend, zu meiner Familie nach Hause. Wir blieben dort zwei Tage. Meine Mutter mochte Shirin, und ich glaube, das beruhte auf Gegenseitigkeit. Dann mussten wir weiter. Der Passierschein galt für die Fahrt nach Syrien, nicht für ein langes Hin und her quer durch den Irak.

Um nach Kirkuk im Nordirak zu gelangen, brauchten wir eine stichfeste Legende. Wir heirateten vor einem Richter und bekamen die entsprechende Urkunde mit dem IS-Stempel. Shirin war während der Zeremonie voll verschleiert. Ich habe ihr danach als Hochzeitsgeschenk einen neuen Niqab gekauft. Alles sollte so echt wie möglich aussehen. Sie war jetzt formal Muslima. Frisch vermählt konnte ich immer gut behaupten, noch schnell die Schwiegereltern besuchen zu müssen, bevor es nach Syrien ginge.

Unsere Flucht durch den Irak war eine Irrfahrt. Sie dauerte nur ein paar Tage, fühlte sich aber an wie eine Ewigkeit. Immer auf der Suche nach dem günstigsten Weg, dem geeignetsten Ziel in einem Land, in dem nichts sicher ist. Irgendwann gab es einen Moment, wir saßen still nebeneinander, da hatte sie vor mir keine Angst mehr. Sie blickte mir in die Augen, und in ihren Augen konnte ich das Schönste lesen, was diesem Moment entsprach: Hoffnung.

In Kirkuk nahm die Peschmerga Shirin in ihre sichere Obhut. Mich betrachtete man zunächst als Feind. Als getarnten Agenten des IS. Das hätte auch mit einer Kugel im Kopf ausgehen können. Am Ende halfen mir meine Kontakte und bestimmt auch Shirins Aussagen. Aber am wichtigsten war: Shirin war gerettet. Leider konnten wir uns nicht wirklich voneinander verabschieden. Shirin, das will ich dir noch sagen: Ich vermisse dich. Pass auf dich auf. Du bist so süß wie Milch.

Ich habe hier in Kirkuk einen Freund. Er hat schnelles Internet. Wir surfen, chatten auf Facebook, suchen den Kontakt in die Welt, die so anders ist als unsere. Mein Freund, den ich für so klug halte, wie es einst unsere Wesire waren, sagt wegen Shirin zu mir: »Waqas, das nennt sich perfect accident, ist zwar irgendwie zynisch, trifft es aber: Ein unvorhersehbarer Umstand führt dazu, dass du jemandem begegnest, der für dich zum Wendepunkt, zum Gewinn wird, verstehst du?« – »Klar«, antworte ich, fühle es aber nicht. Muss das Leben so sein, dass man ein Mädchen in einem Gemetzel kennenlernt, das nach Blut und Sperma stinkt?

Wenn ich melancholisch bin, und das bin ich oft, frage ich meinen Freund: »Warum müssen wir das ertragen?« Er genießt es zu zögern, als müsste er lange überlegen, doch er und ich kennen die Antwort bereits. Er legt sich seine Worte mit großen Gesten zurecht und meint jedesmal aufs Neue: »Mein Freund, das Paradies ist verloren. Man nennt das the success of Satan perverting mankind.« Diesen Satz verstehe ich gut, auch wenn ich in Englisch nie eine große Leuchte war. Wenn es um mich herum still ist, denke ich an Shirin. Ich habe dann die Ruhe, meine große Zuneigung zu ihr zu spüren. Das ist ein so wundervolles Gefühl: zu wissen, dass man dem Terror auch mal ein Opfer entreißen kann.

Illustration: Frank Höhne