Vor neun Jahren zog ich von Wien nach München. Seitdem habe ich ein Ritual: Wenn ich mit dem Auto nach Wien fahre, ob Sommer oder Winter, ob Tag oder Nacht, lasse ich irgendwo nach der Wiener Stadtgrenze, meistens auf dem Hietzinger Kai, das Fenster auf der Fahrerseite herunter und atme durch die Nase ein. Ich rieche den Asphalt, den Wienfluss, die Luft. Es riecht vertraut, ich schließe kurz die Augen und bilde mir jedes Mal ein, dass ich den Geruch auch blind erkennen würde. So riecht meine Stadt. So riecht Heimat.
Ich habe das bestimmt an die hundert Mal gemacht, seit ich in München wohne. Anfangs verbrachte ich fast jedes Wochenende in Wien, ging weiter auf die Wiener Partys, las meine Sonntagszeitung im Wiener Lieblingscafé, trank Bier im Wiener Stammbeisel, und selbstverständlich kam ich ausschließlich »aus Wien«, wenn mich jemand fragte. München, das ist nur eine Phase, davon war ich überzeugt. Ein Job, nicht mehr.
Eigentlich hat das nichts mit München oder Wien zu tun – es wäre genauso, wenn ich für meine Arbeit von Darmstadt nach Salzburg gezogen wäre oder von Basel nach Chemnitz. Es ist ein häufiger Mechanismus: Wer zum Arbeiten in eine Stadt geht, in der er eigentlich nicht bleiben will, lässt sie nie so richtig an sich rankommen – oder er bemüht sich sogar, bloß nicht in der neuen Stadt heimisch zu werden. München macht einem das besonders leicht, weil die negativen Klischees über diese Stadt so wohlbekannt, billig und konsensfähig sind: »Was für ein Dorf«, sagt man, und alle nicken. Man nennt München »selbstzufrieden«, »viel zu homogen« und »gnadenlos durchgentrifiziert«. Wien hingegen: Weltstadt, Subkultur, Schmelztiegel, schmutzige Ecken. Alle nicken.
Ich bin nicht mehr sicher, wann es begonnen hat, sich zu drehen, vielleicht nach drei, vier Jahren: Die Wien-Besuche waren seltener geworden, die Partys ein bisschen langweiliger, ich fand ein schönes Café in München und auch ein Beisel, das ich fortan »Boazn« nannte. Der Kuchen im »Neuen Kubitscheck« schmeckte irgendwann fast so gut wie die Buchteln im »Café Hawelka«. Das alles hielt ich noch für normal. Das ist eben so, wenn man ein paar Jahre an einem Ort verbringt, sagte ich mir. Und dann kam dieser eine Moment: Junge Kollegen aus Wien schlagen in München auf, fangen im selben Haus zu arbeiten an, man trifft sich, plaudert. Doch als sie textsicher die bekannten München-Klischees rezitieren, kann ich plötzlich nicht mehr nicken. »Dafür ist es hier total grün«, sage ich. »Homogen ist doch jede Stadt, wenn man seine Blase nicht verlässt«, sage ich. »Gib München ein bisschen Zeit, das wird schon«, sage ich und merke, dass ich mir den Tipp vielleicht mehr selbst gebe als den frisch Zugezogenen.
Was das für mich bedeutet? Keine Ahnung. Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, jemals mit »aus München« zu antworten, wenn mich jemand fragt, woher ich komme. Aber vor zwei Wochen fuhr ich wieder mal nach Wien, Freunde treffen, ins alte Lieblingsbeisel gehen, Buchteln essen. An einer Ampel auf dem Hietzinger Kai ließ ich das Fenster herunter. Ich atmete tief durch die Nase ein und kannte den Geruch: Es roch nach Urlaub.
Illustration: Jim Stoten