Weiß ist der Anfang. Weiß ist die Leinwand, bevor der Maler beginnt. Weiß muss sie sein, damit etwas Neues entstehen kann. Weiß wird sie erst, wenn alles weggewischt ist, was bisher war. Weiß ist die Utopie. Weiß ist die Zukunft. Aber sie wird öde und leer sein ohne die kühne Imagination des Menschen.
Das war es, was Filippo Tommaso Marinetti, Giacomo Balla, Umberto Boccioni und ein paar andere wollten, als sie im Februar 1909 den Futurismus ausriefen – mit einem Manifest, das so große und verstiegene Sätze hatte wie diesen: »Der geliebkoste Tod überholte mich an jeder Kurve, um mir artig seine Pfote zu geben und um sich dann wieder mit einem Geräusch knackender Kinnbacken der Erdoberfläche anzuschmiegen, indem er mir aus den Wasserlachen sammetweiche Blicke zuwarf.« Die Zukunft war für sie ein Männersport, etwas für todesbewegte, sprachtrunkene, aufschneiderische Gentlemen, die im Krieg fanden, was sie suchten, und die auf eine so bittere wie bedingungslose Weise den Geist ihrer Epoche erspürten. Sie wollten hassen, sie wollten gehasst werden, sie wollten mit dem Alten brechen und Italien »von seinem Krebs von Professoren, Archäologen, Ciceronen und Antiquaren befreien«. Das Alte war der Feind, dem Neuen galt die Feier.
Die Zukunft ist heute kein Männersport mehr, und der Hass, den die Futuristen feierten und gegen ihre Epoche wendeten, ist heute präsent im Dauerfeuer der schwelenden Kriege. Er ist wie der Geist, der aus der Flasche geflohen ist. Er ist eine der Konventionen, die es zu bekämpfen gilt. Hundert Jahre ist das her. Die Frage bleibt, welches Gesicht die Zukunft hat.
Der Futurismus von Marinetti feierte die Veränderbarkeit der Welt, die sich wie eine Maschine beschreiben ließ, wie ein Motor, wie ein Auto, surrend, rasend, berauschend. Der Futurismus des 20. Jahrhunderts ist an sein Ende gekommen, so wie ein Auto, das an sein Ende gekommen ist, stotternd, röchelnd, besiegt.
David Cronenberg hat einen Film mit dem Titel Crash gemacht, in dem Autos vernichtet werden müssen, damit Sex, Liebe und Leben entstehen. Crash ist aber mehr als dieser Film, Crash bezeichnet das Ende einer Welt und den Beginn von etwas Neuem. Crash ist die Chiffre für das Ende des Öls, die Krise der Finanzen, den Verlust der Mobilität. Crash ist Vernichtung. Crash ist die Art, wie wir leben. Der Futurismus tritt auf die Seite des Neuen. Destruktion war seine alte Aufgabe, Konstruktion muss sein neues Ziel sein.
1. Der neue Futurismus muss schöpferisch sein.
Der neue Futurismus ist aus der Krise geboren, wo der alte aus dem Wohlstand wuchs. 2009 bricht die Welt, wie wir sie kennen, vor unseren Augen auseinander, das destruktive Potenzial, das die Futuristen 1909 aufwenden mussten, um ihre hochkapitalistisch prosperierende Welt zu sprengen, können wir uns sparen.
Die Banken und die Autofirmen übernehmen die Arbeit selbst, sie zerstören, was sie gebaut haben, und schaffen damit Platz für Neues. Sterbende Branchen, wohin das Auge sieht. Wer sich da gegen die Konventionen des 20. Jahrhunderts stellen will, so wie es die Futuristen mit den Konventionen des 19. Jahrhunderts taten, der muss nicht mithelfen beim langen und schweren Todeskampf ganzer Industrien, der kann sich freudig-befreit dem Neuen zuwenden, das jenseits der monopolistischen Macht der alten Konzerne wächst.
Die Sicherheiten dieses ökonomischen und sozialen Systems lösen sich gerade ganz von allein auf. Die Futuristen brauchten da noch große Worte, sie sangen: »Mein Gesicht war mit dem guten Schlamm der Fabriken überzogen, voll Metallruß, voll unnützen Schweißes und himmlischer Schlacke.« Wir müssen uns aus dem Schweiß und der Schlacke erheben, um den Himmel wieder zu sehen, rein und weiß wie am ersten Tag.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Der neue Futurismus muss Farbe ins Spiel bringen.")
2. Der neue Futurismus muss poetisch sein.
Von den russischen Futuristen, die etwa zehn Jahre später dran waren als ihre italienischen Kollegen, dafür aber deutlich besser gelaunt, gibt es ein paar Geschichten, die von den Theaterabenden handeln, die der große, gut aussehende Majakowski veranstaltete. Es gab mehr oder weniger unverständliche Musik zu hören. Die Worte wurden entweder hinausgekotzt oder in so vollendeten Poesieketten präsentiert, dass sie sich um den Hals der Zuhörer schnürten. Und als Kostüm wurden schon mal Pappkartons benutzt.
Doch das Publikum in Sankt Petersburg floh wider Erwarten nicht verschreckt, sondern wartete in langen Schlangen vor dem Theater, um hineingelassen zu werden und das Spektakel des Neuen bewundern zu dürfen. Man sieht daran, dass die Mechanik von Zerstörung und Schöpfung der Avantgarde bestens funktionierte.
Zerstörung ist geradezu unmöglich, vor allem auf ästhetischem Gebiet, weil sofort etwas Neues entsteht. »Nur im Kampf ist Schönheit«, riefen die italienischen Futuristen. »Kein Meisterwerk ohne aggressives Moment. Die Dichtung muss ein heftiger Ansturm gegen unbekannte Kräfte sein, um sie aufzufordern, sich vor den Menschen zu beugen.« Heute ist es der Mensch selbst, der am Boden liegt. Lasst ihn uns neu verzaubern, lasst ihn uns feiern mit aller Macht der Dichtung.
3. Der neue Futurismus muss dem Menschen dienen.
Schon in den wütenden Worten von Marinetti wurde eines deutlich, etwas, was gern übersehen wurde vor lauter »Liebe zur Gefahr«, »Militarismus«, »Patriotismus« und »Verachtung des Weibes«: Es ging den Futuristen um Befreiung, es ging um Freiheit. Ästhetisch, politisch, aber auch sozial. Technik war das Mittel, diese Freiheit zu schaffen, so wie Technik immer auch sozialen Wandel bewirkt hat. Erst macht sie sich den Menschen untertan, so wie es mit den Fabriken und den Maschinen war, dann, von einem Moment an, dreht sich das um, und der Mensch wird aus seinem alten Leben in ein neues geworfen, bindungsloser, ja, aber eben auch freier.
An dieser technologischen Schwelle steht der heutige Futurismus und standen auch die früheren Futuristen – das Vehikel, in dem sie Revolutionäres erkannten, war das Auto, und man kann nicht sagen, sie hätten sich getäuscht, als sie den »explosiven Atem« feierten und das Lenkrad, »dessen gedachte Achse die auf den Umkreis ihrer Planetenbahn geschleuderte Erde durchbohrt«. Das Auto war der gesellschaftliche Motor des 20. Jahrhunderts. Die Revolutionsmacht des 21. Jahrhunderts ist das Internet. Der Mensch muss eins werden mit der Technik, und die Technik muss werden wie er.
4. Der neue Futurismus muss die Verwirrung zum Prinzip erheben. Geschwindigkeit und Lärm waren Schlüsselerfahrungen der Moderne, und es gab medizinische Untersuchungen, dass der Mensch nicht gemacht sei für hohes Tempo, dass sein Gehirn Schaden nehmen könne, wobei hohes Tempo damals ungefähr das war, was heute ein Moped mit Rennauspuff ist. Damit, mit Geschwindigkeit und Lärm, ist es nun vorbei – an deren Stelle treten die Gleichzeitigkeit und das Gerücht, also die verstreute, allgegenwärtige Geschwindigkeit und der verstreute, allgegenwärtige Lärm, Schlüsselerfahrungen einer synchronisierten Welt.
Wo in der Moderne der Raum als Zeit beschrieben werden konnte und die Geschwindigkeit, Kilometer pro Stunde, das Mittel war, sich diesen Raum zu erschließen, da kann man heute den Raum eher als Zustand beschreiben und Gleichzeitigkeit als den Modus, in dem sich dieser Raum erfahren lässt. Das ist der Übergang von der Auto- zur Internetmoderne. Nicht mehr durch das lineare Straßensystem, sondern durch das verzweigte Netzwerk lässt sich unsere Zeit sinnlich erfahren. Veränderung ist hier nicht mehr plötzlich, sondern stetig. Unser Leben, unser Arbeiten, unsere Politik, unsere Mode, unser Design, unsere Architektur, alles muss sich dieser Erfahrung von ständiger Veränderung anpassen.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Der neue Futurismus muss die Flüchtigkeit feiern.")
5. Der neue Futurismus muss die Flüchtigkeit feiern.
Die Gegenwart ist geschichtsversessen, sehnt sich so nach dem Beständigen und Dauerhaften, dass nur noch deutlicher wird, wie verzweifelt, wie verloren dieser Versuch ist – vor dem Vergänglichen und Provisorischen, das schon die frühen Futuristen feierten. »Die Häuser werden eine kürzere Lebensdauer als wir selbst haben«, schrieb der Architekt Antonio Sant’Elia 1914. »Jede Generation wird sich ihre eigene Stadt bauen müssen.«
Warum also gibt es heute, hundert Jahre später, immer noch keine wandelbaren Häuser mit Räumen, die sich verändern lassen, mit Mauern, die sich verschieben lassen, je nach Laune und Lage und Wetter? Oder wandelbare Kleider, die sich vom Zwang befreien, aus Hose und Sakko zu bestehen oder nicht, Freizeit zu sein oder Arbeit, weiblich zu sein oder männlich, drunter getragen zu werden oder drüber?
Nötig wäre eine Befreiung der Farben und Formen, wie sie die frühen Futuristen schon forderten, ein Ausbruch nicht nur aus dem Raster der Symmetrie, wie ja besonders Netzwerke asymmetrisch organisiert sind, ein Ausbruch auch aus dem scheinbar naturgegebenen Zwang, sich nach Sommer und Winter zu richten.
Wo aber die Natur sich unwiederbringlich wandelt und Sommer und Winter in ihrer bisherigen Gestalt verschwinden, wird auch die Mode ihre Form und ihr Gesicht verändern: Mit neuen Stoffen und Materialien, die aus sich heraus eine neue Ästhetik kreieren, die Wissenschaft und Geschmack versöhnen; Anzug und Kostüm haben die Mode des 20. Jahrhunderts beherrscht: als Basisformen, die viel zu lange schon nur variiert werden. Die Mode lebt in der Vergangenheit, ist erstarrt im Kult des Samplings, statt die Flucht nach vorn anzutreten, um eine Gegenwart zu schaffen, die Zukunft möglich macht.
6. Der neue Futurismus muss die Ortlosigkeit preisen.
Das Auto stirbt nicht nur, weil das Öl endet. Es stirbt auch, weil es ein altes Konzept von Mobilität darstellt. Niemand muss mehr das Land, die Stadt, das Zimmer verlassen, um präsent zu sein, niemand muss Ressourcen verschwenden, um mobil zu sein. Internet bedeutet dauernde Anwesenheit. Man ist in Hongkong, aber auch in Haidhausen. Das wird Auswirkungen haben auf die Art und Weise, wie unsere Städte ausschauen und funktionieren.
Die Ortlosigkeit des Internets gebiert eine eigene Ästhetik, die mit neuen Materialien operiert, die von Durchlässigkeit und Transparenz geprägt ist, jenseits der Schwere von Eisen, Stahl und selbst Beton. Vernetzung, Veränderbarkeit und Durchlässigkeit sind auch hier die Schlüsselbegriffe, es wird Wabenstrukturen geben und Membranen und Häuser, die den Unterschied von außen und innen aufheben, es wird Stühle geben, die aussehen wie das entschlüsselte Genom.
Die frühen Futuristen träumten von einer »abstrakten Landschaft« mit Kegeln, Pyramiden und spiralförmigen Bergen. »Wir sind«, jubelten sie, »in den innersten Wesenskern des Universums vorgedrungen und beherrschen die Elemente.« Dabei blieben sie immer noch an der Außenseite der Dinge – die dynamische Gleichzeitigkeit von Empfindung und Gedanken, die auch die Futuristen des 20. Jahrhunderts beschworen haben, eröffnet erst die selbst erschaffene virtuelle Welt des 21. Jahrhunderts.
7. Der neue Futurismus muss die Intuition preisen.
Was aussah wie Zerstörung, war eigentlich Verschmelzung, war das Zusammenbringen von gegensätzlichen Welten, Mensch und Maschine, Kunst und Gesellschaft, Politik und Ästhetik. Natürlich hatte der Futurismus ein antirationales Moment, wenn auch kein irrationales. Und natürlich ermöglichte das sein Hinübergleiten in den Faschismus. Was aber nicht heißt, dass die Gedanken, wie die Futuristen sie von dem von ihnen bewunderten Philosophen Henri Bergson übernahmen, unter diesen Verdacht zu stellen wären.
Die Futuristen suchten nach der sinnlichen Konstruktion von Wirklichkeit, nach der Explosion von Imagination und Bewusstsein, nach dem, was Bergson die »reale Dauer« nannte – also das eigene Erleben von Zeit. »Subjektivität« wäre noch zu schwach gesagt. »Empfindungen, Gefühle, Wollungen, Vorstellungen, das sind die Bestimmungen, zwischen die mein Dasein sich aufteilt und die es wechselnd färben«, schrieb Bergson. »Ich verändere mich also unablässig.« Bergson ist der Philosoph unserer Zeit. Wer das 21. Jahrhundert verstehen will, muss eine Vernunft jenseits der reinen Rationalität suchen.
8. Der neue Futurismus muss Farbe ins Spiel bringen.
Noch ein Wort zur Mode. Eine der Erfindungen der Futuristen war der »antineutrale Anzug«, er war grün-weiß-rot gefärbt und feierte den Kriegseintritt Italiens. Wenn sie sich aber fotografieren ließen, die italienischen Futuristen, dann als Gruppe von Männern mit ernsten Bärten im Gesicht und ernsten Hüten auf dem Kopf und Mänteln, die zweireihig waren und große, schwere Knöpfe hatten und natürlich schwarz waren.
Schwarz, wer hat das eigentlich eingeführt, wo kommt das eigentlich her, immer schwarz? Von den Russen dagegen wird erzählt, dass sie die schrillsten, buntesten Kostüme ausprobierten. Auf der Bühne, wo Majakowski besonders gern in einem Radtrikot auftrat, das so grellgelb war wie heute das Siegerhemd der Tour de France, das antibürgerlich war und proletarisch. Aber auch im Alltag, wo die Kleider den Gesetzen der neuen Zeit gehorchen sollten.
»Tod dem Mondschein!«, so nannten die etwas schwarz-seherischen italienischen Futuristen eines ihrer Manifeste. Fürs grüne 21. Jahrhundert kann man da nur antworten: »Es lebe der Sonnenschein!« Lasst uns die weiße Leinwand bemalen!