Momentaufnahmen zu den wichtigsten Begriffen der Saison. Hier: Besinnung
Als Journalist gerät man gelegentlich in die missliche Situation, dass ein anderer, Klügerer bereits all das gesagt hat, was man eigentlich selbst sagen wollte. So geht es mir, als ich zum Thema Besinnung recherchiere und auf ein Zitat von Peter Alexander stoße: »Was ich mir wünsche, ist, dass unsere Welt wieder gescheiter wird und endlich zur Besinnung kommt.« Nun, dem ist eigentlich nichts hinzuzu-fügen. Was kann ich noch zu diesem Sujet beitragen?
Sinnierend trete ich ans Fenster. Immer dann, wenn Kreativstress herrscht, stehe ich hinter der Scheibe und blicke auf die Menschen hinab, die unten vorbeihasten, und auf die Autos, die sich an der Einfahrt des gegenüberliegenden Parkhauses stauen. Es beruhigt ungemein, sich von der Hektik des Alltags entrückt zu fühlen, und ich versuche, mich an Momente in meinem Leben zu erinnern, als ich noch höher über den Dingen schwebte als vier Stockwerke Luftlinie.
Vor einigen Jahren verbrachte ich einen ganzen Tag auf den Zinnen einer kambodschanischen Tempelruine. Ich blickte über die Baumwipfel hinweg auf die Kuppeln von Angkor Wat und schrieb kontemplative Worte in ein Oktavheft. Ein unendlich friedlicher Tag – ich fühlte mich wie Buddha kurz vor der Erleuchtung. Dann stieg ich wieder in den Alltag hinab und die Erleuchtung verflog. Leider erwiesen sich meine Notizen (»Sieh an, da fliegt ein Vogel vorbei …«) als wenig hilfreich bei der Rückerlangung dieses Zustandes.
Aber muss man tatsächlich ans andere Ende der Welt fahren, um auf Sakralzinnen Einkehr zu halten? Auch in München gibt es alte Tempel, die Frauenkirche und Sankt Peter zum Beispiel. Beide sind von meinem Fensterplatz gut zu sehen. Auf der Aussichtsplattform des Alten Peter drängeln sich gerade eine Menge Leute, die Geräuschkulisse dort oben dürfte wohl nicht besonders kontemplativ sein. Soll ich trotzdem hinaufklettern und mich im Schneidersitz ans Geländer setzen?
Ein Hupkonzert reißt mich aus den Gedanken. In der Autoschlange streiten zwei Herren darüber, wer zuerst in die Parkgarage fahren darf. Schade, denn diese Straße im Zentrum Münchens eignet sich durchaus für besinnliche Belange. Einst zogen die Montagsdemonstranten hier entlang und forderten, dass sich Kanzler Schröder besinnen und die Hartz-Gesetze zurücknehmen möge. Unvergessen auch der Sonnabend, an dem sich Trachtenkapellen vor unserem Bürohaus zu einem Umzug formierten und mit Tuba und Trompete für die Besinnung aufs bayrische Brauchtum warben.
Ich schließe das Fenster und stütze meine Stirn an der Scheibe ab. Als ich daran denke, wie ich den Trachtlern vor meinem Fenster lauschte, fällt mir jener Ort ein, an dem ich die meisten besinnlichen Stunden verlebte: mein eigenes Wohnzimmer – ein veritabler Tempel des Friedens. Besinnung kann man als eine angeregte, lebendige Form der Verinnerlichung verstehen, bei welcher der Geist zusätzliche Klarheit findet, indem er zur Ruhe kommt. Und Musik ist der beste Weg, diesen Zustand zu erreichen. Sobald ich auf dem Sofa sitze und Van Morrisons Album Beautiful Vision höre oder die Gospelaufnahmen von Sam Cooke, weht ein himmlischer Hauch durch meine muffige Kammer. Ludwig van Beethoven hat diesen Zauber einst treffend umrissen: »Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie.«
Nichts gegen den alten Beethoven, aber die besinnlichste Musik, die ich kenne, kommt von der Carter Family, Pionieren der Countrymusik, die vor mehr als siebzig Jahren mit ernster Miene von Liebe, Leid und Gott sangen. Könnte man die Zwölf-CD-Box mit ihren Werken dem SZ-Magazin beilegen, dann wäre dieser Text überflüssig.
Johannes Waechter ist Redakteur des »SZ-Magazins«.