Tuch mit Käfern und bunten Wollfransen, von Wunderkind
Das Tuch ist das archaischste unter den Kleidungsstücken: Als die Menschen anfingen, sich zu kleiden, war alles Tuch, Fetzen, Fell; vor Nadel und Faden war alles Drapage.
So alt ist das Tuch, dass man nicht einmal die Herkunft des Wortes genau ableiten kann: Laut Duden ist der Begriff »dunklen Ursprungs«. Modehistorisch betrachtet könnte man das Tuch irgendwo zwischen Natur und Kultur ansiedeln, an der Schwelle zur Kleidung. Es schlingt sich durch die Menschheitsgeschichte und durchs Leben jedes Einzelnen von uns: Kurz nach der Geburt und bei unserem Tod sind wir in ein Tuch gehüllt. Aus der Mode ist es nicht wegzudenken: Es kann Männer zu Dandys, Rebellen oder Gentlemen machen, Frauen zu Grace-Kelly-Schönheiten, zu Rockgören oder – im schlechtesten Fall – zu Omas. George Bryan Brummell, 1778 in London geboren, der erste Dandy, brauchte Stunden, um sein Halstuch so aussehen zu lassen, als sähe es nur zufällig so aus. Einerseits: Kein Kleidungsstück verhält sich so unklar zum menschlichen Körper wie das Tuch – es kann an Hälsen flattern, Haare bändigen, sich um Hüften schmiegen, aus Brusttaschen herausgucken. Andererseits: Kaum ein anderes Kleidungsstück hat so viel Aussagekraft: Material, Bindung, Verzierungen können Auskunft geben über die Herkunft seines Trägers oder seine poli-tischen und religiösen Einstellungen. Und ja, auch wie man sein Tuch faltet, legt, wurschtelt, schlingt, einfach-, zweifach-, dreifach knotet, sagt etwas über den Charakter des Trägers aus.
In den letzten Jahren machte das Tuch vor allem in Kaschmirvarianten von sich reden, als Paschminatuch zum Schulternwärmen und -verhüllen oder mit Palästinenserdruck, in der Edelversion bestickt und mit Strass besetzt. Diese Saison kommt es nun in hunderten Varianten, die meisten aufwendig gestaltet, bunt bedruckt, geflochten, gehäkelt, aus Spitze, mit Fransen, Stickereien: Eine wahre Tücher-Explosion steht bevor! Nur groß müssen sie sein. Missoni schlingt gleich mehrere Schals und Tücher um die Körper der Models, was die Konturen der Menschen schlingern lässt: So prächtig und einmalig dürfen die Tücher dieser Saison sein, dass sie alles andere in den Schatten stellen.
Das Tuch weckt die Illusion, mit ihm gegen jede schwierige Situation gefeit zu sein: Man könnte damit einen entlaufenen Hund einfangen, einen Keilriemen ersetzen oder sich ein neues Oberteil binden, wenn man ins Wasser gefallen ist.
Kerstin Greiner würde sich in dieser Saison am liebsten die fast zwei Meter große graue Stola mit Eidechsendruck von Yves Saint Laurent um den Hals schlingen - wegen der 700 Euro aber, die das Tuch kostet, hält sie größtmöglichen Sicherheitsabstand zu jedem Yves-Saint-Laurent-Shop.
Markus Gaab (Fotos)