Der Stoff, aus dem die Märchen sind

Vom ROTKÄPPCHEN bis zum goldenen Pantoffel, die Grimms erzählen gern von Kleidung - und die Mode liebt die Symbolik ihrer Geschichten. Aber passt deren strenge Moral wirklich in die Welt des modernen Designs?

Sich schön herausputzen soll ins Verderben führen? Erzähl doch keine Märchen! Bluse und Rock: Dries Van Noten; Armband mit Schleife: Miu Miu; Armband und Kette: Shourouk über mytheresa.com; Kopfschmuck: Vintage.

Die Vitalität ihrer Helden haben die Brüder Grimm selbst vorausgeahnt. »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute« lautet die berühmte Schlussformel vieler Geschichten, und 200 Jahre nach dem ersten Erscheinen der Kinder- und Hausmärchen wird diese Prognose in der Welt der Mode eindrucksvoll bestätigt. Die Kollektionen und Laufstege sind im Jahr 2012 randvoll mit Bezügen zu den einschlägigen Figuren. Die Vorliebe für rote Kleider bei Filmpremieren wird von den Modeblogs als »Rotkäppchen-Boom« registriert; seit den beiden Schneewittchen-Verfilmungen dieses Jahres tragen Hollywoods Jungschauspielerinnen gerne schwarz gefärbten Bubikopf. »Zu den hochaktuellen Frisurentrends«, schrieb ein Jugendmagazin gerade, »gehört auf jeden Fall der Cinderella-Look«, und eine Modeklasse der Berliner Universität der Künste präsentierte ihre Entwürfe diesen Sommer unter dem Motto »Once Upon a Time«.

Die Ästhetik der Märchen liefert der Mode also eine ihrer stabilsten Folien – und das ist deshalb so erstaunlich, weil eine zentrale Botschaft der von Jacob und Wilhelm Grimm herausgegebenen Geschichten darin besteht, dass der Mensch umso schlechter ist, je mehr er auf den äußeren Schein achtet. Das Schicksal von Schneewittchen und Aschenputtel, Goldmarie und Pechmarie, Brüderchen und Schwesterchen und Dutzenden heute vergessener Märchenfiguren ist genau an diese Lehre geknüpft. Jede Neigung zu Glamour – im Vokabular des beginnenden 19. Jahrhunderts »Putzsucht« – führt ins Verderben; umgekehrt werden jene Charaktere am Ende belohnt, die eine reine, natürliche Seele vorweisen können und denen Aufrichtigkeit, Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft wichtiger sind als Kleider und Schmuck.

Meistgelesen diese Woche:

Zumindest für die mit der deutschen Sprache Aufgewachsenen gibt es keine anderen Erzählungen, die ein Leben lang derart anschaulich im Bewusstsein haften bleiben. Manche Satzfolgen, der refrainartige Dialog zwischen Rotkäppchen und dem verkleideten Wolf etwa, sind so präsent wie Sprichworte; manche Speisen, den Kuchen auf dem Hexenhaus in Hänsel und Gretel oder die Brathühner in den Räuberhöhlen, glaubt man auch Jahrzehnte nach dem ersten Hören oder Lesen noch zu schmecken. Und genauso tief wie diese Eindrücke hat sich auch die Moral der Märchen eingeprägt, der Verdacht, dass Eitelkeit und Stolz bestraft werden müssen (die düstere Bezeichnung »Brüder Grimm« verwies in der kindlichen Vorstellung auch nicht auf einen Autor, sondern auf die Stimmung der Geschichten). Der Überfluss der Reichen erzeugt verkommene Herzen, der Mangel der Armen dagegen bringt gute Menschen hervor: Das ist die Botschaft in den Märchen, vom Geiste Luthers und Rousseaus befeuert.

Von unserer Sozialisation durch die Grimms führt vermutlich ein direkter Weg zu dem schlechten Gewissen, das die meisten Menschen heute beim Kauf eines etwas zu teuren Kleids oder Kaschmirpullis begleitet. Denn die Märchen haben uns gelehrt, dass die Lust an den oberflächlichen Dingen gefährlich werden kann, und vielleicht schlummert in den Kunden der Boutiquen und Designer-Outlets ein Rest an Furcht, dass sie ihr Tun einmal wie die gefallsüchtigen Gegenspieler der Märchenhelden bereuen werden. Mode erscheint im Verständnis dieser Geschichten als das Überflüssige schlechthin; Kleidung wird in dem Moment fragwürdig, in dem sie nicht mehr als Mittel gegen Kälte dient oder zum Verdecken schambesetzter Körper-zonen, sondern allein zur Überhöhung des eigenen Selbst.

Doch woher rührt es dann, dass die Welt der Märchen weiterhin eines der stärksten Referenzsysteme der Mode bildet? Kaum eine Saison vergeht, in der die Elle- oder Vogue-Stylisten die Haute Couture nicht durch Fotografien einer verwunschenen Prinzessin in Szene setzen (zuletzt die Sommerkollektion von Valentino). Offenbar bieten die Geschichten einen Anreiz, der trotz ihrer rigorosen Kleiderkritik den Anliegen der Modewelt entgegenkommt. Das hat zweifellos mit den altertümlichen Schauplätzen und Charakteren zu tun, den Schlössern, Gärten und Kostümen; wenn im Vokabular der Mode notorische Schlagworte wie »verträumt«, »romantisch« oder »feenhaft« fallen, dann wird immer auch die Sphäre der Märchen zitiert.

Diese Impulse würde aber auch jede beliebige historische Kulisse liefern. Es muss also noch einen anderen Grund für die Vorbildfunktion der Grimm’schen Helden geben, und dieser Grund liegt in der besonderen Erzählweise der Märchen, die den Figuren kaum Innenwelt, kaum Bewusstsein zugesteht; ihre Entwicklung ist allein von äußeren Zeichen abhängig. Fast alle Geschichten erzählen eine Verwandlung – von der Bediensteten zur Königin, vom Ausgestoßenen zum Herrscher, vom verwunschenen Tier zum Menschen –, und die Umstände dieser Verwandlung haben nichts mit langwierigen Reflexionen zu tun, sondern geschehen abrupt, zum Teil unter erstaunlicher Ausblendung der Sinneswahrnehmung und Menschenkenntnis.

Ausgelöst werden die Transformationen gerne von Kleidungsstücken, zum Beispiel als Erkennungszeichen zwischen den Figuren wie in Aschenputtel und den ganz ähnlich aufgebauten, heute kaum noch bekannten Märchen Allerleihrauh, Die Gänsemagd und Der Trommler. Der Handlungsgang weist hier auf einen merkwürdigen Widerspruch, denn so uner-bittlich die Gefahren des äußeren Putzes in der Grimm’schen Sammlung exerziert werden, so erfüllend können prächtige Kleider für diejenigen sein, die sich dieses Geschenk durch die richtigen inneren Werte verdient haben. In der Garderobe der Stiefmütter entfalten edle Roben ihre Dämonie; für Aschenputtel, Schneewittchen und ihre genügsamen Leidensgefährtinnen dagegen sind sie Vorboten des Happy Ends im Hochzeitssaal.

Beim Wiederlesen wirkt es rätselhaft, welche Macht etwa dem goldenen Pantoffel Aschenputtels zukommt. Als sich der König auf die Suche nach seiner mysteriösen Tanzpartnerin begibt, vertraut er allein dem Zueinanderpassen von Fuß und Schuh, um seine künftige Braut zu identifizieren. Sein Wahrnehmungsvermögen ist miserabel: Er hätte auch ohne Weiteres die beiden Stiefschwestern heimgeführt, wenn er von den Tauben am Wegesrand nicht auf die verstümmelten Füße der falschen Anwärterinnen aufmerksam gemacht worden wäre. Aschenputtel schließlich passt der goldene Pantoffel »wie angegossen«, und erst in dem Moment, da das modische Accessoire die Entdeckung der wahren Braut beglaubigt, kehrt auch die bis dahin betäubte Erinnerung des Königs zurück: »Als es sich in die Höhe richtete und der König ihm ins Gesicht sah, so erkannte er das schöne Mädchen, das mit ihm getanzt hatte.«

Was also Aussehen und Charakter einer Frau nach drei gemeinsam verbrachten Abenden nicht erfüllen können, bewerkstelligt in Aschenputtel ein Kleidungsstück. Aber ist diese Erzählung nicht die perfekte Werbung für die Modeindustrie? Ein unscheinbares Mädchen, das sich durch perfektes Styling die Gunst des angesehensten Mannes verschafft, und dessen Schuhe sogar zum einzigen verlässlichen Zeichen ihrer Identität werden. Auch der Mode geht es ja fortwährend um genau diese Verwandlungen: Jede Werbeanzeige, jede Schau in Paris oder Mailand verspricht, dass es nur eines Mantels von Dior, eines Cardigans von Martin Margiela oder der neuen Louboutin-Slingbacks bedarf, um zu einem attraktiven Menschen zu werden, der ein aufregendes, selbstbewusstes Leben führt. Die konsequentesten Vorbilder für diese Erfolgsgeschichte stammen aus den Federn der Brüder Grimm.

Die magische Bedeutung von Kleidung, wie sie in den Märchen beschrieben wird, prägt also noch die heutigen Rituale. Das zeigt sich alleine an jenem tiefen Spalt, der zwischen der (unsichtbaren) Herstellung und der (zelebrierten) Präsentation von Mode besteht. Bei den Grimms taucht das Motiv Kleidung nur ganz am Anfang oder ganz am Ende der Produktions- und Gebrauchskette auf: entweder in Gestalt der armen, unter vorindustriellen Bedingungen arbeitenden Spinnerin, die, wenn sie Glück hat, ihre Haspel in einem Zauberbrunnen verliert; oder im plötzlichen Herabfallen prächtiger Kleider, deren Ursprung unbekannt ist, die den Besitzerinnen aber ein glückliches Leben sichern.

Stimmt diese Zweiteilung nicht genau mit der Perspektive überein, mit der wir heute noch auf die Mode schauen? Gelegentlich hört man von den tristen Produktionsverhältnissen in Asien, wo unterbezahlte Arbeiterinnen westliche Markenware schneidern. Doch dieses materielle Fundament der Kleidung wird gewöhnlich ausgeblendet, und die glänzenden Kostüme, die ein ausgewählter Kreis auf den Modenschauen und der gewöhnliche Kunde in den Geschäften zu Gesicht bekommt, wirken wie von Zauberhand gefertigt, ohne Spuren ihres Entstehens. Als Quelle der Mode gilt der »Designer«, der nach der Schau vom Catwalk herabwinkt und der Marke ihren Namen verleiht. Doch in welcher Weise er genau zum Entstehen der Kleidungsstücke beiträgt – tatsächlich als Schneider? als Ideengeber? als bloßes Aushängeschild? –, bleibt so mysteriös wie die Herkunft der goldenen Roben auf dem Körper Aschenputtels.

Foto: Tim Barber