Camouflage funktioniert nicht nur im Dschungel oder in der Steppe. Wenn die Kleidung perfekt auf die Umgebung abgestimmt ist, kann man sogar in einem Blumenmuster verschwinden.
Es ist nicht einfach, Guy Cramer aufzuspüren. Das liegt zunächst einmal an seinem Büro: Es ist so unscheinbar, dass man ziemlich leicht dran vorbeilaufen kann. Und Guy Cramer findet das ganz gut so. Der freundliche, ruhige Kanadier mit Vorliebe für Kurzhaarschnitt hat mehr Hosen, Hüte und Jacken verkauft als viele weltberühmte Markenhersteller. Nur dass auf seinen Designs kein Logo zu finden ist. Man soll Cramers Kollektionen nicht wiedererkennen. Man soll sie überhaupt nicht erkennen. Cramer ist einer der weltgrößten Designer militärischer Tarnkleidung.
Mindestens eine Million Soldaten in mehr als einem Dutzend Ländern tragen Uniformen, die mit Cramers Mustern bedruckt sind, unter anderem in Kanada, den USA, Jordanien und Afghanistan. Seine Firma heißt HyperStealth Biotechnology Corporation. Das klingt wie ein gesichtsloser, riesiger Rüstungskonzern, doch in Wahrheit sind es nur Guy Cramer und seine Teilzeitassistentin. Die beiden arbeiten in einem nicht weiter gekennzeichneten Büro in einem ehemaligen Schulgebäude in Maple Ridge, in British Columbia, Kanada. Der einzige andere Industriebetrieb in der Nähe ist ein Sägewerk. Wer Cramer kennenlernt, merkt schnell, dass diese Umgebung ganz gut zu seinem Geschäft passt: Er weiß, wie man im Verborgenen bleibt.
Sein erstes Muster hieß GUYPAT, das neueste hat Cramer TacTex genannt. Manchmal ist er bei der Namensgebung kreativer: Auf diesem Bild sehen Sie unter anderem die Designs namens »Wüstenschlange«, »Schakal« und »Arktisches Weiß«.
In den vergangenen zehn Jahren hat der heute 43-Jährige mehr als 8000 Tarnmuster geschaffen. Sein neuestes Design wird gerade vom US-Verteidigungsministerium geprüft: Die Army sucht neue Tarnkleidung, die in fast allen Gebieten der Welt funktionieren soll. Guy Cramer gilt als einer der Favoriten. Doch selbst diese Ausschreibung, einer der lukrativsten Aufträge in der jüngeren Geschichte der Camouflage, lässt ihn ruhig schlafen. »Wir haben sechs Jahre lang an diesem Muster gearbeitet, wir wissen, was es kann.« Zeigen möchte Cramer das Design natürlich nicht. Auch das passt zum Geschäft mit der Verborgenheit.
Was wir heute unter militärischer Tarnung verstehen, ist im Wesentlichen während des Ersten Weltkriegs entstanden: Die französische Armee rief nach einer entsetzlichen Niederlage gegen die Deutschen eine Gruppe Künstler zusammen, um die bis dahin üblichen blau-roten Uniformen endlich abzulösen. Heraus kamen grün-braun gefleckte Kampfkittel, die unser Bild von Camouflage bis heute prägen. Die Idee hatte es zunächst schwer, sich durchzusetzen – es war schlicht zu teuer, die Uniformen einzeln per Hand anzumalen.
Im Zweiten Weltkrieg dann haben die US- Marines im Pazifik industriell gefertigte Tarnkleidung getragen, in Europa jedoch nicht: Die Army fürchtete, ihre Soldaten könnten mit Deutschen verwechselt werden, die ebenfalls auf Camouflage setzten. In den Siebzigerjahren waren schon fast alle amerikanischen Soldaten mit Tarnkleidung ausgestattet, vor allem im Dschungel von Vietnam zeigten sich die Vorteile.
Farben und Muster haben sich danach zwar noch weiterentwickelt, aber die Grundüberlegung blieb dieselbe: viel Grün und Braun, mit Streifen, Wirbeln und Klecksen. Erst in den späten Neunzigern hat Kanada als erste Nation eine völlig neue Art der Tarnung eingeführt: die digitale. Das sogenannte CADPAT (Canadian Disruptive Pattern) hatte keine Wirbel und Kreise mehr, sondern Pixel: Wie eine veraltete Computergrafik war es aus kleinen Kästchen zusammengesetzt.
Der Stoff ändert auf Knopfdruck des Trägers die Tarnfarbe
Es gibt kaum ein Foto von Guy Cramer, auf dem er nicht Uniform trägt. Hier steht er in einem Lagerraum in der Firmenzentrale von HyperStealth Biotechnology in Maple Ridge, Kanada. Seine Tarnmuster druckt Cramer nicht nur auf Kleidung, sondern auch auf Maschinengewehre, Hubschrauber, Panzer und Abfangjäger.
Zu dem Zeitpunkt kam Guy Cramer ins Spiel. »Ich habe die Tarnuniformen gesehen und gedacht: Das kann doch nicht euer Ernst sein. Für so etwas zahle ich Steuern?« CADPAT hatte keinerlei Ähnlichkeit mit irgendeiner natürlichen Umgebung. Nach drei Stunden Arbeit mit einem 100 Dollar teuren Grafikprogramm hatte Cramer sein erstes digitales Tarnmuster entwickelt. Er nannte es GUYPAT und veröffentlichte es im Internet. Zufällig war König Abdullah von Jordanien damals gerade auf der Suche nach neuen Uniformen für seine Armee. Einer seiner Beamten entdeckte GUYPAT und griff zum Telefon. »Das gefällt uns«, sagte er zu Cramer.
Und der nutzte seine Chance. Cramer las sich in die Wissenschaft der menschlichen Wahrnehmung ein und in die Kunst der digitalen Tarnung. Als ihr Erfinder gilt ein Oberstleutnant namens Timothy O’Neill, der malte 1976 ein ziemlich simples, pixeliges Tarnmuster auf einen Panzerwagen, er nannte seine Schöpfung Dual-Tex. Das Ergebnis war verblüffend: Bei Tests blieb der Dual-Tex-Wagen deutlich länger unentdeckt als einer mit herkömmlichem Tarnmuster.
Das liegt an der Art, wie Auge und Gehirn zusammenarbeiten: Das menschliche Auge ist darauf trainiert, zwei Aktionen gleichzeitig auszuführen. Wenn wir zum Beispiel lesen, fokussiert unser Blick die Buchstaben – man nennt das foveales Sehen. Gleichzeitig sammeln und verarbeiten wir jedoch Informationen aus der Umgebung. Bei diesem Vorgang, dem peripheren Sehen, sucht das Auge permanent nach kleinsten Abweichungen in Farbe und Form. So erkennen wir im Augenwinkel eine Maus, die über den Fußboden läuft. Alles andere, das visuelle Hintergrundrauschen, nimmt das Auge zwar wahr, ignoriert es aber.
Digitale Camouflage setzt beim peripheren Sehen an. Das menschliche Auge soll sie wahrnehmen und für unwichtig halten. Dual-Tex hat das geschafft. Aus der richtigen Entfernung betrachtet, hat es sich der Umgebung perfekt angepasst. Es machte den Panzerwagen zu Hintergrundrauschen.
Ist das eine Tarnkappe? Guy Cramer hat dieses Foto veröffentlicht: Die Folie lässt seine Assistentin scheinbar verschwinden. Ein Fake? Cramer nennt das Bild »Attrape«. Seine echte Tarnkappe will er noch niemandem zeigen.
Trotz dieser Erfolge verschwand das Konzept von Oberstleutnant O’Neill zunächst in der Schublade. Die Militärs behaupteten stur, ein so künstlich wirkendes Muster könne nicht wirklich funktionieren. Erst nachdem die Kanadier sich digital tarnten, folgte die US-Armee 2004 diesem Beispiel. Etwa zur selben Zeit lieferte Guy Cramer die ersten von 390 000 Uniformen, seine erste Kollektion, nach Jordanien. Das sprach sich herum. Binnen kurzer Zeit hatte Cramer eine regelrechte Boutique an Tarnmustern.
Als Kind hat Cramer von seinem Großvater Donald L. Hings gelernt, was es heißt, ein Tüftler zu sein. Hings war Autodidakt und Wissenschaftler. Er hat im Lauf seines Lebens mehr als 50 Patente angemeldet – darunter für das Walkie-Talkie. »Die kanadische Armee brachte damals ihre Radarfahrzeuge zu meinem Großvater, damit er sie reparierte«, erzählt Cramer. Er ist es gewohnt, in großen Maßstäben zu denken. Aber er sagt, er habe auch gelernt, es nie zu übertreiben. »Mein Großvater hat mir beigebracht: Man braucht keine neuen Technologien, um ein Problem zu lösen. Oft reicht ein kleiner Schritt.«
Wie etwa eine Idee namens adaptive Camouflage. »Wir entwickeln Stoffe, die sich ihrer Umgebung angleichen«, sagt Cramer. Vor einem Jahr hat er mit einem solchen Anzug für ziemliche Aufregung in der Branche gesorgt. Der Stoff ändert auf Knopfdruck des Trägers die Tarnfarbe, von Dunkelgrün auf Graubraun. »Ich arbeite an einer Version, die mithilfe von Lichtsensoren die Umgebung erkennt und die Farbe automatisch anpasst«, sagt er. Cramer will nicht über die Funktionsweise des Anzugs sprechen, aber ähnliche Prototypen arbeiten mit sogenannten elektrochromatischen Fasern, deren Farbe man durch schwache Stromstöße verändern kann. Das ist zwar beeindruckend, aber längst nicht marktreif. Eine einzige Uniform würde 1000 Dollar kosten. Die Soldaten müssten außerdem Batterien im Rucksack mitschleppen.
Stimmt Cramers Behauptung, hat er die bedeutendsten Physiker überholt
Während Cramer von dem »kleinen Schritt« schwärmt, der alles verändern soll, scheint die übrige Welt eher auf die großen Fortschritte fixiert. Zum Beispiel die Tarnkappe. Das Konzept kann man sich etwa so vorstellen wie den Unsichtbarkeitsmantel aus den Harry Potter-Filmen. Immer wieder kursieren Gerüchte in der Branche, dieses oder jenes Unternehmen arbeite an so einem Kleidungsstück.
Zwei Wege könnten dorthin führen: Einmal handelt es sich um winzige Videokameras, die auf einer Seite eines Objekts die Umgebung filmen und das Bild automatisch auf die gegenüberliegende Seite projizieren. In einem der neueren James-Bond-Filme tarnt der Agent so sein Cabrio. Die Wirklichkeit hinkt gar nicht so weit hinterher: 2003 haben japanische Wissenschaftler einen Poncho mit dieser Technologie ausgestattet. Doch seit nunmehr zehn Jahren wartet die Welt vergeblich auf Version 2.0 des unsichtbaren Kleidungsstücks.
Das zweite Beispiel ist vielversprechender: Es geht dabei um Metamaterialien – also Stoffe, die mit Nanotechnologie hergestellt werden. Sie interagieren mit Licht. Jeder kennt den Effekt, dass ein Strohhalm in einem Wasserglas direkt an der Oberfläche einen Knick zu machen scheint. Die Illusion entsteht, weil das Licht seine Geschwindigkeit ändert, wenn es auf das Wasser trifft. Man nennt das Brechung. Mit Metamaterialien lässt sich dieser Effekt gezielt manipulieren. Wissenschaftler versuchen, das Licht quasi um ein Objekt herumzuleiten – wie Wasser um einen Stein. Damit würde dieses Objekt unsichtbar. Zumindest in der Theorie.
Guy Cramer hat auch in unserem ersten Gespräch über ein neues Projekt namens Quantum Stealth gesprochen. Was er sagte, klang wie Science Fiction: »Wir biegen das Licht«, erzählte er. »Wir haben es schon geschafft, etwas in der Größe einer Orange verschwinden zu lassen.« Ein Satz, bei dem man leicht skeptisch wird. Wenn es stimmt, was Cramer behauptet, dann hat er die weltweit bedeutendsten Physiker überholt.
2006 haben Forscher es erstmals geschafft, Mikrowellen um einen kleinen Metallring herumzuleiten. Etwas Ähnliches ist 2008 mit Infrarotstrahlen gelungen, 2010 haben Wissenschaftler sogar sichtbares Licht um ein mikroskopisch kleines Objekt gelenkt. Aber niemand hat nur ansatzweise geschafft, was Cramer beschreibt. Er schien beim Interview ordentlich übertrieben zu haben.
Ein paar Monate nach diesem Gespräch ruft Guy Cramer nochmals an – er will etwas vorführen. In seinem Büro zieht er zuerst die Jalousien herunter. Dann greift er zu seinem iPad und zeigt ein Video: Eine cremefarbene Wand ist darauf zu sehen, davor eine Art Shoji, einer dieser japanischen Paravents, allerdings nicht aus Stoff, sondern aus durchsichtiger Folie. Eine Frau betritt das Zimmer, sie stellt sich hinter den Paravent, sodass nur ihr Kopf hervorschaut. Und dann – verschwindet plötzlich ihr Körper. Man sieht die Wand hinter dem Paravent deutlich, von der Frau nur mehr den Kopf, der in der Luft schwebt. »Wir lassen Menschen verschwinden. Ohne Kameras oder Spiegel. Ohne dass wir Energie dafür brauchen«, sagt Cramer.
Er weigert sich zu erklären, wie das funktioniert. Wie so oft wandert er auf dem schmalen Grat zwischen Verschleierung und Enthüllung. Das Video beweist nichts. Jedes Kind könnte so etwas mit einem simplen Schnittprogramm fälschen. Auch der Camouflage-Poncho mit den Kameras wirkt auf Videos beeindruckend – und hat es nie aus dem Labor geschafft. Kann es sein, dass Cramer im Alleingang einen so gewaltigen Schritt Richtung Unsichtbarkeit gemacht hat?
Amy Coyne hält es für möglich. Sie ist Vizepräsidentin von ADS, einem Lieferanten für militärisches Equipment, der mit Cramers Firma zusammenarbeitet. »Wir glauben an die Quantum Stealth-Technologie«, sagt sie. Auch Scott Duncan, Beamter bei der kanadischen Forschungs- und Entwicklungsagentur für Verteidigungsfragen, hat mit Cramer über Quantum Stealth diskutiert. Wenn das Produkt eines Tages marktreif sei, dann »könnte es für Militärs und Sicherheitsbehörden einige ganz interessante Vorteile bringen«, schreibt er in einer Mailantwort. Diese fast schon komisch anmutende Zurückhaltung zeigt die Verunsicherung, die Cramer mit seiner Arbeit auslöst. Genau darin besteht letztlich sein Handwerk. Wenn Guy Cramer uns etwas zeigt und wir nicht sicher sind, was wir da gerade gesehen haben, dann hat er seinen Job erledigt.
Stadt Land Wüste
Die Deutschen tarnen sich mit drei verschiedenen Mustern. An einem vierten wird gearbeitet.
Bunte Kreise und Kleckse – daraus bestehen im Wesentlichen die Tarnmuster, mit denen die Bundeswehr ihre Soldaten ins Feld schickt. Die Deutschen haben drei verschiedene Muster (von links): ein beiges für Steppen und Savannen, das gerade in Afghanistan zum Einsatz kommt; ein grün-braunes für Wälder und Wiesen und ein sandfarbenes für karge Wüsten. Für die Forschung ist das Wehrwissenschaftliche Institut für Werk- und Betriebsstoffe (WIWeB/ Foto rechts) im bayerischen Erding zuständig. Die Forscher entwickeln dort gerade ein sogenanntes urbanes Muster für Städte, das die Soldaten beim Häuserkampf tarnen soll.
Fotos: Annie Collinge