Was macht die Bayreuther Festspiele so besonders? Die Opern und Musikdramen jedenfalls nicht; denn die Werke Richard Wagners werden überall gespielt, oft sogar in weit besserer Qualität als auf dem Grünen Hügel. Doch eine Sache ist einmalig, sie ist – so steht es zu befürchten – eigentlich für die Aura Bayreuths verantwortlich: die scheinbare Unmöglichkeit, Karten für die Festspiele zu bekommen. Die Betonung liegt auf »scheinbar«, denn natürlich gibt es Mittel und Wege, Teil des erlesenen Kreises zu werden, der sich bei quälender Sommerhitze im engen Smoking und beneidenswert luftigen Abendkleid Jahr für Jahr in ein Haus zwängt, das eine Mischung aus Zirkuszelt und Bahnhof ist.
Für den ersten Tipp brauchen Sie ein Händchen für ältere Damen:
Der Witwentröster oder »Treulich geführt ziehet dahin«
Männer sterben jünger als Frauen. Das ist eine bedrückende, doch vorteilhafte Tatsache. Denn viele Besucher der Festspiele sind überraschend weiblich. So trägt es sich zu, dass ältere Damen die Karten ihrer übers Jahr verblichenen Gatten im Festivalbüro zurückgeben. Dort werden sie regulär weiterverkauft; an den Aufführungstagen jeweils von 13.30 bis 16 Uhr. Freilich müssen Sie sich früh, möglichst sehr früh in die Schlange vor der Kasse einreihen, ein Campingstuhl leistet nützliche Dienste. Als Witwentröster nehmen Sie sich der älteren Damen natürlich an, bevor diese das Kartenbüro überhaupt erreichen. Stellen Sie sich mit einem »Suche-Karte-Schild« auf und machen Sie ein möglichst Schwiegermutter-taugliches Gesicht. Gepflegte Kleidung, eine Hühnerbrust und ein Kennerblick können helfen. Ein paar Kondolenzen, ein paar Komplimente, ein paar Charmeoffensiven später sitzen Sie neben Ihrer neuen Freundin im Festspielhaus. Übrigens, es gibt auch viele Männerpaare in Bayreuth...
Erfolgsaussichten: 7
Kreativität: 9
Preis: 3
Spontaneität: 7
Verbrecherisches Potenzial: 7
(Skala von 1: niedrig bis 10: hoch)
Beim nächsten Tipp sollten Sie ein wenig feilschen üben:
Der Schwarzmarkt oder »Nie sollst du mich befragen«
Der Schwarzmarkt ist ein Parkplatz. Oberhalb des Festspielhauses, wo sich Weitgereiste aus dem Auto steigend noch schnell ihre Fliegen umbinden, drücken sich Männer herum, die begehrte Karten in den Hosentaschen tragen. Kartenbesitzern beäugen diese mit verächtlichem Triumphgeschau, Lohengrins Satz: »Nie sollst du mich befragen« auf den Lippen. Den Kartenlosen erkennen die Händler, weil jenem eben dieser Blick fehlt. Die Preise bewegen sich längst nicht in den Sphären, die kolportiert werden. Tausend Euro sind wirklich die absolute Ausnahme, da müsste schon Birgit Nilsson wiederauferstehen. Ein paar hundert Euro sollten genügen. Wenn jedoch irgendwann Anna Netrebko zu Elsa, Senta oder Eva werden sollte, empfehlen wir, den ganz dicken Geldbeutel mitzunehmen.
Erfolgsaussichten: 8
Kreativität: 3
Preis: 8
Spontaneität: 9
Verbrecherisches Potenzial: 10
(Skala von 1: niedrig bis 10: hoch)
Beim nächsten Tipp dürfen Sie den Kugelschreiber schwingen:
Die Presse oder »Was soll das sein? Verdammtes Schrei'n«
Sixtus Beckmesser ist ein widerborstiger »Merker«, der in den »Meistersingern von Nürnberg« dem Stolzing jede missfällige Note ankreidet. Zur Festspielpremiere und zu jeder Wiederaufnahme sitzen ganze Reihen Beckmesser im Publikum - die Vertreter der Presse, die nach draußen melden, was sich drinnen zugetragen hat. Ein wichtiges Amt mithin und es lohnt sich, beim eigenen Lokalblatt nachzufragen, ob Sie als Klassikkenner nicht mal was schreiben dürfen. Gut, anfangs werden Schulorchester, Orgelkonzerte oder Blasmusiken zu Ihren Pflichten gehören, doch nicht selten vollzieht sich der Aufstieg auf dem lokalen Markt rasant. Schon nach ein, zwei Jahren können Sie sich dann eine auf Ihren Namen ausgestellte Pressekarte im Festivalbüro abholen. Aber ein Rat: Im Festspielhaus ist es stockdunkel. Sie entlarven sich als Provinzdepp, wenn Sie sich einen Leuchtkugelschreiber mitnehmen und die Wichtigkeit Ihrer Notizen durch effektvolles an- und ausknipsen markieren. Hoffentlich fühlt sich ein Kollege aus Nordbayern nun angesprochen...
Erfolgsaussichten: 4
Kreativität: 8
Preis: 0
Spontaneität: 2
Verbrecherisches Potenzial: 2
(Skala von 1: niedrig bis 10: hoch)
Beim nächsten Tipp dürfen Sie auch später kommen:
Der Pausenfüller oder »Die Frist ist um«
Werkstatt Bayreuth nennen sich die Richard-Wagner-Festspiele auch. Vor allem für die Regisseure bedeutete das, dort das Neueste, Gewagteste und Interessanteste in Sachen Wagner-Inszenierung zu zeigen. Kritiker meinen, damit sei es lange vorbei; doch für große Teile des Publikums sind viele Einfälle immer noch eine Zumutung. Vor allem Gäste aus den USA kennen Wagner nur in Wikingerhelmen. Christoph Schlingensiefs »Parsifal« flohen die Scharen vor drei Jahren schon in der Pause. Auch Stefan Herheims Neuinszenierung des Bühnenweihfestspiels in diesem Jahr wird nicht alle Wagnerianer erfreuen. Halten Sie deshalb in der ersten Pause am Parkplatz oder unterhalb des Festspielhauses nach Flüchtigen Ausschau. Ihre vom Fliegenden Holländer abgehörte Frage »Die Frist ist um?«, wird nicht selten bejaht werden, eine Karte wechselt schwups den Besitzer. In den meisten Opern bleibt nach der ersten Pause noch genug Musik. Am Rande: Wer im »Fliegenden Holländer« den Pausenfüller geben will, macht am besten gleich den Pausenclown; das Werk hat keine Pause.
Erfolgsaussichten: 8
Kreativität: 5
Preis: 2
Spontaneität: 10
Verbrecherisches Potenzial: 2
(Skala von 1: niedrig bis 10: hoch)
Für den nächsten Tipp sollten Sie Fränkisch lernen:
Beziehungen oder »Freudig begrüßen wir die edle Halle«
Kennen Sie Bayreuther? Nein? Das sollten Sie schleunigst ändern. Beziehungen in die fränkische Stadt sind eine gute Voraussetzung, dass Sie bald im Festspielhaus sitzen. Allzu viele Bayreuther gibt es nämlich nicht; so kennt jeder jemanden, der etwas mit dem Hügel zu tun hat. Es ist gute Tradition, dass die lokale Bevölkerung mit Beziehungen die Generalproben besuchen darf. Nicht selten tragen sich dabei Wunder zu, denn obwohl das Haus voll ist, fehlt den Sängern noch das Quantum Lampenfieber, das ihnen am Premierenabend die Kehle zuschnürt. Außerdem brauchen Sie in den Proben nicht auf die Etikette achten; nicht bei quälender Sommerhitze im engen Smoking oder Abendkleid auf den Sitzen festkleben, die der Holzklasse spotten. Also, sind Sie Single, dann inserieren Sie doch einmal im Nordbayerischen Kurier.
Erfolgsaussichten: 8
Kreativität: 7
Preis: 3
Spontaneität: 3
Verbrecherisches Potenzial: 5
(Skala von 1: niedrig bis 10: hoch)
Wagner-Fachsimpeleien helfen beim nächsten Tipp:
Gesellschaft der Freunde von Bayreuth oder »Die Wonnen süß, die deiner Huld entsprießen«
Bürgerschaftliches Engagement macht sich gut, im Lebenslauf und auf jeder Dinner-Party. Das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden lässt sich bei der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth www.freunde-bayreuth.org. Die erhalten jedes Jahr ein Kontingent an Karten und es ist wahrscheinlich, dass bereits im zweiten Jahr Ihrer Mitgliedschaft ein Ticket für Sie abfällt. Freilich gibt es nichts umsonst, ein Jahresbeitrag von über 200 Euro ist fällig und eine nicht minder hohe Aufnahmegebühr. Zusammen ist das immerhin günstiger als die Beiträge fürs Fitnessstudio; Kontakte zu wichtigen Leuten und freien Eintritt in Vorträge über die ganze Wagnerei gibt es obendrein. Für unter 35-Jährige hat die Gesellschaft sogar eine Low-Budget-Mitgliedschaft eingeführt, nur ist die Wahrscheinlichkeit als Jung-Wagnerianer Karten zu kriegen leider auch eher »low«.
Erfolgsaussichten: 9
Kreativität: 4
Preis: 6
Spontaneität: 4
Verbrecherisches Potenzial: 0
(Skala von 1: niedrig bis 10: hoch)
Für den nächsten Tipp sollten Sie sich für nichts zu schade sein:
Die Prominenz oder »Hojotoho! Hojotoho!«
Das Defilee der »Stars« zur Premiere gehört zu Bayreuth wie Würstchen und Brezen. In den vergangenen Jahren fiel allerdings auf, dass kaum neue Gesichter dazu kamen, die immer gleichen dafür immer älter aussehen. Das gilt für Thomas Gottschalk ebenso wie - Verzeihung, Gnädigste - für die Bundeskanzlerin. Auffrischung tut Bayreuth also gut. Und da Stars nicht zehn Jahre auf Karten warten müssen, sondern wie von Geisterhand Tickets erhalten, sollten Sie möglichst schnell prominent werden. Mittel und Wege gibt es in der Mediengesellschaft reichlich: Legen Sie sich öffentlich unters Messer, gehen Sie Kurt Beck an den Bart, singen Sie für »Deutschland sucht den Superstar« oder werden Sie Politiker. Sie müssen Ihren Bekanntheitsgrad auch nicht ewig hoch halten, das beweisen schließlich die »Stars« in Bayreuth alle Jahre aufs Neue. Wenn sich ZDF-Förster Christian Wolff mit dem Rolls-Royce vorfahren lassen kann, können Sie das auch.
Erfolgsaussichten: 8
Kreativität: 9
Preis: 7
Spontaneität: 2
Verbrecherisches Potenzial: 6
(Skala von 1: niedrig bis 10: hoch)
Üben, üben, üben lautet die Devise beim nächsten Tipp:
Der Musikus oder »Mein Sänger, auf! Ergreife deine Harfe!«
So exklusiv sind die Bayreuther Festspiele nun auch wieder nicht. Sie werden überrascht sein, wie durchschnittlich am Klo angestanden wird. Einzigartig ist es jedoch, selbst Musik zu machen. Der Bayreuther Orchestergraben ist ein Loch, das vom Dirigenten bis zum Schlagwerk hin nicht ansteigt, sondern abfällt und mit einem Deckel versehen ist. Diese Topfsituation begründet die einzigartige Akustik und kostet den Musikern in den Tiefen ihr Gehör. Dennoch melden sich viele Berufsmusiker aus den besten deutschen Orchestern jedes Jahr freiwillig zum Frondienst. Besser haben es die Choristen. Die stehen in den meisten Inszenierungen dekorativ herum und haben Luft. Außerdem werden sie verlässlich mit einem Bravo-Sturm bedacht. Eine professionelle Ausbildung brauchen Sie auch als Chorsänger, doch können Sie sich schon als Gesangsstudent bewerben. Einen Vorteil hat die Orchestermusikerexistenz allerdings vor allen anderen. Da der Graben nicht eingesehen werden kann, dürfen die Musiker in kurzen Hosen und T-Shirts spielen; in der Sauna Festspielhaus durchaus von Vorteil. Es ist ein herrlicher Anblick, wenn die Musiker nach dem x-ten Vorhang zum Applaus an die Bühnenrampe treten. Spätestens dann reißen sich die Zuhörer die durchschwitzten Jacketts vom Leib.
Erfolgsaussichten: 2
Kreativität: 9
Preis: 6
Spontaneität: 0
Verbrecherisches Potenzial: 0
(Skala von 1: niedrig bis 10: hoch)
Beim nächsten Tipp brauchen Sie eine Menge Geduld:
Der Bestellvorgang oder »Vergeb'ne Hoffnung! Furchtbar eitler Wahn!«
Mal eben die grantlige Dame von der Opernkasse anrufen, so wie Sie es gewohnt sind, ist nicht. Die Bayreuther Festspiele sind immer mindestens zehnfach überbucht. Das Ritual verlangt, dass Sie per Brief ein Bestellformular anfordern. Darauf finden Sie eine überraschend hohe Zahl an Opern für das kommende Jahr; lustig können Sie viele Kreuze machen, die Preise sind moderat. Doch ruhig Blut, zunächst heißt es warten. Von mehreren Jahren Wartezeit ist auf der Homepage der Festspiele die Rede; zehn Jahre lautet die Prognose von Kennern. Trabis wurden schneller geliefert. Trotz Frust sollten Sie nicht vergessen, jedes Jahr aufs Neue Karten zu bestellen, das System kickt Sie sonst wieder raus. Wer aber schon als Teenager schreibt und noch als Twen wartet, den ereilt rechtzeitig zur ersten Lebenskrise die erlösende Kunde aus Bayreuth: Hojotoho! Sie haben es geschafft. Für Ungeborene können übrigens noch keine Karten bestellt werden.
Erfolgsaussichten: 5
Kreativität: 0
Preis: 5
Spontaneität: 0
Verbrecherisches Potenzial: 0
(Skala von 1: niedrig bis 10: hoch)
Die letzten Tipps helfen in der absoluten Not:
Das Alternativprogramm oder »Götternot! Götternot!«
Wenn Sie sich nur für das Haus, seine Geschichte, seine Aura interessieren, dann schauen Sie sich doch virtuell um. Die Bayreuther Festspiele haben auf ihrer neuen Internetseite einen Rundgang vorbereitet, mit vielen Filmen und Infos. Wenn Ihnen das zu zweidimensional ist, kommen Sie wieder, wenn nicht gerade Festspielzeit ist. Fast täglich gibt es Führungen im Haus. Dann erzählen verdiente Mitarbeiter - eine wunderbare Gelegenheit Bayreuther kennen zu lernen - aus bewegter 130-jähriger Geschichte. Sie dürfen sogar auf dem Platz des Dirigenten Platz nehmen. Werden Sie bitte blass vor Ehrfurcht! Sie können aber auch nach München fahren. Das dortige Prinzregententheater ist mehr oder minder als Kopie des Bayreuther Hauses entstanden. Wenn zum Vorspiel das Licht ausgeht, denken Sie sich einfach auf den Grünen Hügel. Und schließlich, vergessen Sie Ihre Badehose nicht. Wenn Sie weder die Ausdauer hatten, freier Mitarbeiter der Lokalzeitung zu werden, nicht eben der Traum älterer Damen und nicht der Pausenfüller geworden sind, dann entspannen Sie sich von den Strapazen in der Bayreuther »Lohengrin-Therme«.
Finale: Was Sie besser nicht tun sollten:
Peinlich oder »Helft ihr! Sie ist verloren!«
Bei allem, was Sie tun, sollten Sie sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben. In jedes Opernhaus der Welt können Sie sich nach der Pause hineinschleichen, es bleiben immer Plätze frei. Nicht so in Bayreuth. Selbst wenn Sie an den Einlassern vorbeikommen, indem sie im Smoking oder Abendkleid ein sehr ergriffenes Gesicht machen, bedenken Sie, dass die Leute, die in der Pause gegangen sind, meist in anderer Gestalt wiederkehren. Viele geben ihre Karte nach einem Akt der Tante, dem Bruder, der Oma, dass die auch mal in den Genuss kommen. Die anderen Karten wurden von den geschickten Pausenfüllern ergattert. So bleibt in der Regel kein Platz leer und Sie bleiben übrig. Peinlich, peinlich, gerade im Smoking.