Alles wäre ganz anders gekommen, wenn Daniel Hopes Mutter damals die Stelle beim Erzbischof von Canterbury angenommen hätte. Stattdessen wurde sie Privatsekretärin von Yehudi Menuhin. Wenn der kleine Daniel seine Mutter besuchte, wanderte er durch eine Villa, in der die Bilder berühmter Geiger an den Wänden hingen und Menuhins Stradivari offen herumlag – wenn sie nicht, was wahrscheinlicher war, unter dem Kinn des Besitzers klemmte. Musik, große Musik, war in diesem Haus so allgegenwärtig wie die Luft zum Atmen. »Bis zum Alter von sieben Jahren kam ich fast jeden Tag dorthin«, erzählt Daniel Hope. Die Besuche haben nachhaltige Wirkung gehabt.
Inzwischen ist Daniel Hope einer der markantesten Geiger seiner Generation. Dreimal in Folge hat er den Echo gewonnen, den wichtigsten deutschen Klassik-Preis. Die Zeit nannte ihn »fantastisch«, die Times feierte seine »Leidenschaft und Intelligenz«. Nach einem Dutzend CDs für andere Labels erscheint Mitte September sein erstes Album bei der Deutschen Grammophon, eine Aufnahme von Felix Mendelssohn Bartholdys Violinkonzert in e-Moll. Die angesehene Firma hat große Erwartungen an Hope; sie sieht in dem 33-jährigen Rotschopf einen jener schwer zu findenden Charismatiker, dessen Wirkung über den begrenzten Hörerkreis der Klassik hinausreicht. Bekannt ist er schon – nun soll er ein Star werden. Viel muss zusammenkommen – Begabung, Glück, Arbeitseifer – um sich in diesem engen Markt absetzen zu können. Forscht man nach, wie es Hope gelang, kommt man irgendwann wieder in jener Villa in Nord-London an, in welcher der einzigartige Ton von Yehudi Menuhin durch die Räume hallte. Obwohl Daniel Hope in den Neunzigern mehr als sechzig Konzerte mit Menuhin spielte, war er kein Schüler des 1999 verstorbenen Meisters. Was er von ihm mitbekam, war nicht der Fingersatz beim Geigenspiel, sondern eher die Herzensbildung, aus der heraus ausdrucksstarke Musik überhaupt erst entstehen kann.
In Menuhins Haus saß an einem Abend der Cellist Rostropowitsch auf dem Sofa, am nächsten der indische Sitar-Virtuose Ravi Shankar; es wurde über Musik und Philosophie diskutiert, über Yoga und den Weltfrieden. »Besonders Menuhins Originalität und Spontanität haben mich immer wieder inspiriert«, erzählt Hope. Außerdem erkannte Hope am Beispiel Menuhins, der nach frühen Erfolgen als Wunderkind in eine Schaffenskrise geraten war, wie wichtig in der klassischen Musik der Zusammenklang von technischen Fähigkeiten und interpretatorischen Ideen ist. »Meine Empfindung für die Musik war schon da, als ich als kleines Kind mit dem Geigenspiel angefangen habe«, erzählt er. »Mit 15 habe ich jedoch gemerkt, dass ich weit entfernt war vom technischen Niveau anderer 15-Jähriger. Ich musste dann extrem hart an der Technik arbeiten.«
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Dabei war Hope jedoch bewusst, dass Virtuosität kein echtes Distinktionsmerkmal mehr ist in einer Zeit, in der die Musikhochschulen so viele technisch exzellente Geiger entlassen wie nie zuvor. »Es geht doch vor allem darum, was man zu sagen hat«, erklärt er. »Wir spielen Stücke von Bach, von Beethoven, von Mendelssohn, die schon unglaublich oft gespielt wurden. Was gibt es, das ich persönlich dazu beitragen kann? An dieser Idee arbeitet man ein ganzes Leben lang.«
Tatsächlich liegt hier Hopes große Stärke. Gleichermaßen von Empfindung und intellektueller Neugier geleitet, kann er auch bekannte Stücke immer wieder auf zeitgemäße, überraschende Weise interpretieren. Bachs Violinkonzerte in E-Dur und a-Moll spielte Hope in einer ungewohnt energiegeladenen Version und für Mendelssohns Violinkonzert, das nun bei der Deutschen Grammophon erscheint, sichtete er sämtliche Versionen der Partitur und griff schließlich auf die noch nie zuvor aufgenommene Urfassung zurück.
Hope beherrscht das klassische Repertoire, verfügt jedoch über einen musikalischen Verstand, der der Tatsache Rechnung trägt, dass die Klassik irgendwann nicht mehr überlebensfähig sein wird, wenn sie nur aus entrückten Virtuosen besteht, welche den Alten Meistern huldigen. So findet Hope in vielen Bereichen Anregungen: Er hat zahlreiche Stücke zeitgenössischer Komponisten aufgeführt, getreu dem Vorbild seines Mentors Menuhin mit indischen Musikern gespielt und schon mit Stewart Copeland und Andy Summers von Police gejammt. »Sting hat sogar Menuhins Haus in London gekauft«, erzählt er. »Das Haus, in dem ich groß geworden bin.«
Wie um zu bezeugen, dass der Klassik-Star von heute mehr sein muss als ein exzellenter Musiker, hat Hope nun noch ein Buch geschrieben. In Familienstücke, das Ende September bei Rowohlt erscheint, geht es um die Geschichte seiner verzweigten Sippe und um den alten Stammsitz der Familie, eine Villa in Berlin-Dahlem, welche die Urgroßeltern in der Nazi-Zeit verlassen mussten; danach zog dort Hitlers Außenminister Ribbentrop ein.
Unberechenbar wie Billardkugeln haben sich die Mitglieder seiner Familie quer durch die Zeiten und Kontinente bewegt, Zufälle zogen weitreichende Wirkungen nach sich, wie zum Beispiel jene Kettenreaktion, die sich ergab, als Daniel Hopes Eltern kurz nach seiner Geburt wegen der Apartheid-Politik aus Südafrika nach England emigrierten, wo seine Mutter dann, als das Geld knapp wurde, zwei Stellenangebote bekam: bei einem Bischof – und bei einem Geiger…
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