"Dieser Junge ist die ungewöhnlichste Begabung, der ich je begegnet bin."

Der Pianist Kit Armstrong spielt nicht nur überirdisch, sondern wirkt auch sonst so, als käme er von einem anderen Stern.

Kit Armstrong müsste wissen, dass er jetzt etwas sagen soll. Auch wenn er aussieht wie elf, er ist 16 – ein 16-jähriger Junge, der eine Sinfonie komponiert hat und in der Carnegie Hall aufgetreten ist, weiß, was ein Interview ist, aber er macht überhaupt keine Anstalten, einen Satz zu äußern. Er sitzt einfach nur da, vollkommen aufrecht, und blickt ins Leere. Ab und zu schiebt er sich ein Stück Wassermelone in den Mund, legt die Hände zurück in den Schoß und kaut so langsam, als warte er auf nichts oder besser: als warte niemand auf ihn. Als säße kein Journalist neben ihm, dem exakt 30 Minuten gegeben wurden, um ihn kennenzulernen.

»Kit spricht nicht viel«, hat seine Mutter gewarnt, »schon gar nicht über sich.« Sie hat nicht gesagt, dass ihr Sohn einen Menschen, der ihm gegenübersitzt, nicht einmal zu bemerken scheint. Man muss sich bemerkbar machen, möglichst deutlich:

SZ-Magazin: Geben Sie nicht gerne Interviews?

Kit Armstrong blinzelt, als erwache er, dann lächelt er zaghaft. »Ich habe nichts gegen Interviews«, sagt er, »solange die Fragen mich interessieren.« Dann verstummt er, wendet sich ab und betrachtet heiter den Flügel, auf dem er gerade noch gespielt hat, ein bisschen Bach, ein bisschen Mozart. Sein Hemd hat er bis oben zugeknöpft, es schnürt seinen Kinderhals ein. Er wirkt versunken und hellwach, präsent und ganz weit weg, gelangweilt und höchst interessiert. Man kommt nicht ran an diesen schmächtigen Menschen. Dabei ist er nicht schüchtern, er lässt nur Überflüssiges weg. Für einen Pianisten sind seine Finger äußerst kurz. Man fragt sich, wie er mit diesen Händen eine Oktave greifen kann. Man fragt sich, wie er mit diesen Händen der größte Pianist des 21. Jahrhunderts werden soll. Und doch hat der große Meister Alfred Brendel, 77, beim Musikfestival in Bozen gerade öffentlich bekannt: »Dieser Junge ist die größte musikalische Begabung, der ich in meinem ganzen Leben begegnet bin.«

Kit, wann haben Sie gemerkt, dass Sie ein Ausnahmetalent sind?
Ich habe es nicht gemerkt. Die Leute haben angefangen, es zu behaupten.
Und Sie haben nie darüber nachgedacht, ob es stimmt?
Nein.
Viele Menschen behaupten, Sie seien ein Genie. Was halten Sie davon?
Ich denke mir, dass diese Menschen Journalisten sein müssen.
Weil sie übertreiben? Nein. Weil sie in anderen Kategorien denken.
Sie mögen wohl keine Journalisten?
Das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur: Was Journalisten meinen, hat selten etwas mit dem zu tun, was ich meine. So geht ein Gespräch mit dem Pianisten und Komponisten Kit Armstrong los. Er spricht leise, sagt selten mehr als einen Satz, als Interviewer fühlt man sich erst veräppelt, dann mittelmäßig, am Ende beschenkt, wohl einen sehr bemerkenswerten Menschen getroffen zu haben. Jahrelang hat Kit Armstrong nur wenige Konzerte gegeben, hat im Verborgenen geübt, ganz spielerisch, sachte gebremst von seinem Mentor Alfred Brendel. Der Junge sollte als Ausnahmepianist wahrgenommen werden, nicht weil er jung, sondern weil er ein Ausnahmepianist ist.

Nur einmal ist sein Manager schwach geworden, da haben sie ihn in die Late Show von David Letterman geschickt, ein zehnjähriger Zwerg mit Hosenträgern, der an eine Zirkusattraktion erinnert, die auf die falsche Bühne, vor das falsche Publikum geworfen wird. Pianisten sollen Planeten sein, keine Meteoriten, hat ein Kritiker mal geschrieben. Die Entstehung des Planeten Kit Armstrong ist abgeschlossen, jetzt kann er entdeckt werden.

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(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Er begann zu sprechen, da war er neun Monate alt, ein paar Wochen später fing er an zu zählen, kurz darauf zu rechnen. Mit drei las er das Wall Street Journal.)

Kit Armstrong ist in Kalifornien aufgewachsen. Seine Mutter ist Taiwanesin, sein Vater, den er nie gesehen hat, Amerikaner. Er begann zu sprechen, da war er neun Monate alt, ein paar Wochen später fing er an zu zählen, kurz darauf zu rechnen. Mit drei las er das Wall Street Journal, mit fünf Mathematik-Lehrbücher. Seine Mutter, eine Investmentbankerin, die noch nie in ihrem Leben einen Ton auf einem Instrument gespielt hat, nahm ihn mehrmals von der Schule, er passte nirgendwohin, ein Hochbegabter, der immer neu beschäftigt, begeistert, entflammt werden muss, damit er sich nicht langweilt.

Irgendwann schenkte sie ihm ein Keyboard, auf dem komponierte er mit sieben Jahren seine erste Sinfonie, Celebration, die kurz darauf vom Pacific Symphony Orchestra uraufgeführt, von ihm selbst aber mittlerweile verboten wurde: »Ich mag sie nicht mehr«, sagt er, »sie reizt die Möglichkeiten eines Orchesters nicht aus.«

Sie lieben Musik und Mathematik. Haben Sie einen besten Freund?
Ich habe wichtigere Dinge zu tun.
Aber Sie haben Freunde?
Ich habe Menschen, mit denen ich Musik mache.
In Ihrem Alter?
Möglich. Ich habe sie nie gefragt, wie alt sie sind.
Warum?
Weil Alter keine Kategorie ist, in der ich denke.

Heute lebt Kit Armstrong in London, gerade hat er zwei Studiengänge abgeschlossen: Mathematik am Imperial College und Klavier und Komposition an der Royal Academy of Music. Sein Lehrer dort, Benjamin Kaplan, sagt: »Ich mag den Ausdruck ›Wunderkind‹ nicht, aber dieser Junge ist mehr als nur ein Talent.« Eleanor Sokoloff, 94, eine der renommiertesten Klavierpädagoginnen der Welt, hat ihn ebenfalls unterrichtet. Sie sagt: »Ich habe viele Kinder getroffen, die hervorragend Klavier spielen können, aber er ist anders, man kann es wirklich nur so sagen: Er ist ein Genie.«

Er spielt technisch perfekt, kultiviert, reif und kindlich zugleich. Schlägt man auf einem Klavier wahllos zehn Töne gleichzeitig an, kann er jeden einzelnen benennen. Gerade liest er zwei Bücher des Harvard-Professors Steven Pinker, eins über Spracherwerb, das andere über Evolutionspsychologie, als Kind hatte er zwei Hühner, eins nannte er »Nitrogen«, das andere »Carbon« – Stickstoff und Kohlenstoff. Welches Kind macht so etwas?

Spielen Sie für das Publikum oder für sich, wenn Sie auftreten?
Ich bin Teil des Publikums.
Sind Sie nervös?
Nein.
Warum nicht?
Nervosität ist nicht Teil meines Gemüts.
Sie sind Musiker, Mathematiker, Komponist. Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?
Ich mache mir keine Gedanken darüber.
Aber Sie müssen doch irgendein Ziel verfolgen?
Ich verfolge kein Ziel. Ich mache immer das, was mich am meisten interessiert. Was mich in zehn Jahren interessieren wird, kann ich heute noch nicht sagen.

Bolzano Festival Bozen, August 2008. Es spielt: Alfred Brendel. Es ist eines der letzten Konzerte des Meisters, Ende des Jahres tritt er ab. Kit Armstrong sitzt im Publikum und hält fast durchgehend seine Augen geschlossen. Als er applaudiert, sieht er nicht euphorisch aus, eher fröhlich. Am nächsten Tag tritt er selbst auf: Schubert, Chopin, Bach.

Bevor es losgeht, betritt noch einmal Alfred Brendel die Bühne: »Eigentlich wollte ich nie etwas mit Nachwuchsarbeit zu tun haben«, sagt er, »aber als ich Kit zum ersten Mal Klavier spielen hörte, wusste ich: Für diesen Menschen muss ich mir Zeit nehmen. Ich habe noch nie einen Menschen erlebt, der so sensibel ist, der sich so konzentrieren, der sich so leicht erinnern kann. Er ist mein Freund. Bitte helfen Sie mir, dass er nicht in die Fänge der Medien gerät.«

Und dann kommt er, 1,60 Meter groß, wieder hat er diesen heiteren, unsentimentalen Blick aufgesetzt, ein nach innen gewandtes Lächeln. Er verneigt sich, setzt sich, legt die Finger auf die Tasten. Hält kurz inne, atmet aus, atmet ein, spielt los. Zwei Stunden später, am Ende eines Armstrong-Konzertes, fällt es schwer zu glauben, dass man je wieder einen anderen Pianisten hören will.

Foto: Gregor Kuehn Belasi