In Technokreisen ist er schon lang berühmt, der Rest der Welt ist gerade dabei, Paul Kalkbrenner zu entdecken: Der 33-jährige Berliner ist kein DJ, der Platten auflegt, sondern ein Musiker, der auf der Bühne mit Computer und Mischpult elektronische Klänge produziert – und das vor 10 000 Besuchern. Die Zeitschrift »Musikexpress« nannte ihn zu Recht »Deutschlands unbekanntesten Superstar«. Zu Kalkbrenners Ruhm trug auch die Hauptrolle im Film »Berlin Calling« (2008) bei: Da spielt er einen Drogen schluckenden Musiker, der in der Psychiatrie landet. Kalkbrenner sagt, die Person im Film entspreche ihm selbst zu genau 49 Prozent. Die Filmfigur Ickarus wohnt in einem heruntergekommenen Altbau, Kalkbrenner in einer sehr großen, sehr eleganten, mehrstöckigen Wohnung mit Dachterrasse in einem Hinterhaus in Berlin-Mitte. Kalkbrenner hat es geschafft, innerhalb seiner Szene glaubwürdig zu bleiben – und trotzdem im großen Stil Karriere zu machen. Von Party-Veranstaltern ist zu hören, dass seine Gagen inzwischen die der Techno-Großverdiener Sven Väth und Paul van Dyk ein- und sogar überholt haben.
SZ-Magazin: Herr Kalkbrenner, in Ihrer Wohnung sieht ja alles noch ziemlich unberührt aus. Sind Sie gerade erst eingezogen?
Paul Kalkbrenner: Vor zwei Wochen. Ich habe die Wohnung von einer Agentur auf Zeit gemietet. Die Möbel waren drin, ich habe nur Klamotten und Bücher mitgebracht. Und eine Stehlampe. Ich möchte nichts besitzen. Natürlich habe auch ich gern eine Gabel und einen Bettvorleger – aber es müssen nicht unbedingt meine eigenen sein.
Warum beunruhigt Sie Besitz so?
Er macht mich schwer.
Andere Menschen beruhigt es, Dinge zu besitzen.
Meine Mutter sagt auch immer: Wie geht das, du brauchst doch dein eigenes Sofa? Aber ich sage, das ist doch mein Sofa, ich sitze grade drauf. Allet jut. Sofa, ick hab dir lieb!
In diesem Sommer werden Sie auf Festivals und in Clubs auf der ganzen Welt spielen. Wissen Sie auswendig, welche Auftritte als Nächstes anstehen?
Ja, das weiß ich, morgen bin ich in Istanbul, am Tag darauf in der Nähe von Leipzig auf einem Open-Air-Festival.
Auf welche Partys freuen Sie sich besonders?
Auf das Balaton Festival in Ungarn, Astropolis in Brest, auf das Burning Man Festival in den USA und meine Auftritte in Mexiko. Das Burning Man Festival in Nevada muss man einmal gesehen haben. Mehr geht nicht.
Treten Sie gern im Freien auf, bei Open-Air- Festivals?
Früh im Sommer freut man sich darauf, später nicht mehr. Am Anfang denkt man, wow, geil, draußen feiern, Sonne, Luft! Im September denkt man, pfff, ich hab genug von dem Schlamm, ich möchte wieder rein, und jut is. Außerdem bin ich in der Regel der Letzte, der auf die Bühne kommt. Wenn das Festival tagsüber läuft, ist alles super, dann ist es Abend, wenn ich auftrete. Wenn das aber ein Nachtfestival ist, dann bin ich irgendwann im Morgengrauen dran – und im Morgengrauen sieht kein Festivalgelände schön aus, viel Dreck und Müll.
Ihr liebster Sommerdrink?
Für mich nur Wasser, Wasser, Wasser.
Echt?
Na gut: und Underberg.
Wie viele Auftritte stehen in diesem Jahr insgesamt an?
Hab ich nicht gezählt. Letztes Jahr waren es 132. Macht mit An- und Abreise zwei Tage pro Auftritt, manchmal drei. Das heißt also: Ich war fast durchgehend unterwegs.
Was ist Ihnen beim Reisen wichtig?
Ich fliege Businessklasse. Auch weil ich immer nur mit Handgepäck fliege: Meine ganze Ausrüstung passt in einen Koffer, mein Laptop und alle elektronischen Geräte. Früher, in der Economy, gab es immer endlose Diskussionen, weil der Koffer zu schwer war. Dank Senator-Karte kann ich den jetzt mitnehmen.
Der Koffer, das ist dieser Koffer aus Aluminium, mit dem Sie auch im Film Berlin Calling zu sehen sind?
Ja, aber der hat schon seinen dritten Nachfolger. Die sollen eigentlich fünf Jahre halten, aber bei mir gehen die schneller kaputt. Ich beanspruche den auch mehr: Eigentlich sollen nur sechs Kilo rein, mein Handgepäck wiegt aber immer genau 19,2 Kilo.
Packen Sie immer dasselbe, egal wohin es geht, oder warum wissen Sie das so genau?
Vier T-Shirts, vier Paar Socken, vier Unterhosen. Den Rechner in den Koffer, den Rest außen rum. Es dürfen nicht zu viele, aber auch nicht zu wenige Klamotten sein, das muss abpolstern.
Gibt es einen Ort, an den Sie gern reisen, weil er Ihnen besonders viel bedeutet?
Wenn ich mal alt bin, will ich an einem Ort leben, der sogar München noch an Schönheit schlägt: ein kleines Nest zwischen Lausanne und Montreux am Genfer See, da ist es herrlich. Ruhig, beschaulich, fast betulich.
Wie bitte? Das könnte auch ein alter Mann sagen! Sind Sie Romantiker?
Absolut, ja.
Wie sieht Ihr Lieblingshotel aus?
Ich mag keine Designhotels, die sehen immer aus wie Ikea für reiche Menschen. Lieber historische Häuser, gebaut vor dem Ersten Weltkrieg, mit schweren Teppichen und Vorhängen, kleinen Lampen, viel Holz. Hotels, in denen man sich fühlt wie im Louvre.
Hey, Sie zerstören gerade unser Bild von einem Technomusiker: Eigentlich müssten Sie doch alles Moderne, alles Technische lieben! Was tun Sie, damit Sie sich im Hotel sofort zu Hause fühlen?
Da entspreche ich eher wieder Ihrem Bild: Ich mache erst mal Lichtdesign. Klick-klack, Deckenlicht aus, Standlampen an, dann muss die eine Lampe in eine andere Steckdose, die nächste mit einem T-Shirt verhängt werden. Lieber kleines Licht als großes Licht. Manchmal verschiebe ich auch Tische, mache ein kleines, neues Arrangement. Ich hab gern eine Sitzecke in meinem Zimmer, nicht nur ein Bett. Dazu noch WLAN, late check-out, 24-Stunden-Roomservice, und alles ist gut.
Schon mal was geklaut in einem Hotel?
Nö. Doch. Handtücher. Kavaliersdelikt, oder?
Können Sie das Reisen noch genießen, oder ist es für Sie ausschließlich Mittel zum Zweck geworden?
Nein, ich interessiere mich tatsächlich sehr für das Reisen, für Avionik, also für die Verkehrsfliegerei, für Maschinen und Flughäfen.
Sie können erklären, warum ein Flugzeug fliegen kann?
Es saugt sich hoch: Der Flügel steht schräg, die Luft auf der Oberseite des Flügels strömt schneller als die auf der Unterseite. Dadurch entsteht oben ein Unterdruck, unten ein Überdruck. Diese Druckdifferenz hebt das Flugzeug an.
Wissen Sie auswendig, wie viele Flugmeilen Sie haben?
Statusmeilen 400 000. Prämienmeilen, also die, mit denen man einkaufen kann, weiß ich nicht.
Haben Sie sich schon ausgerechnet, wie lange Sie noch brauchen, um in den HON Circle aufgenommen zu werden, den höchsten Status beim Lufthansa-Miles & More-Programm?
Ja. Hat aber Zeit. Jetzt erst mal den Senator-Status genießen. Muss nicht alles so schnell gehen. Aber was für ein schlaues Kundenbindungsprogramm! Das machen die gut: Wer einmal die Annehmlichkeiten so einer Senator-Karte erlebt hat, die Lounges und so, will nie mehr ohne fliegen.
Machen Sie privat je Urlaub?
Im Januar war ich in Indien, zum ersten Mal. Drei Wochen Ayurveda-Kur und Elefanten, volles Programm.
Klingt nach mentaler Reinigung und Entgiftung, so wie es auch der Techno-Urvater Sven Väth jedes Jahr macht. Ist das ein Ausgleichsprogramm zur heftigen Feierei in den Clubs?
Auch, klar. Fantastisch. Mir ging’s echt besser danach, mach ich jetzt öfter. Es ist schon erstaunlich, wie gut das tut – und wie schnell man sich an einem Wochenende den Effekt wieder ruinieren kann.
Vermissen Sie Berlin, wenn Sie unterwegs sind?
Ja, ich liebe Berlin, meine Heimat – nur nicht dieses Technomekka-Berlin, dieses neue Mallorca, wo die Leute mit dem Billigflieger einjetten und ins »Berghain« drängen. Da freue ich mich, wenn ich jedes Wochenende wegfliege.
Hat Sie das viele Reisen in den letzten Jahren verändert?
Früher war ich aufgeregt, wenn ich mal nach Barcelona durfte: Wahnsinn, die zahlen so viel Geld für meine Musik? Heute denke ich eher, uff, schon wieder Barcelona? Die diebische Freude ist weg. Ich weiß noch, als ich den ersten Auftritt im Ausland hatte, Zürich, mit dem Flugzeug, nicht mit der Regionalbahn nach Prenzlau! Tausend Leute, tausend Franken Gage! Wow, dachte ich. Heute bin ich schon ein bisschen Diva, ich gebe es zu.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Paul Kalkbrenner wegen einiger Krümel Gras eine Nacht in einem russischen Gefängnis verbringen musste.
Was nervt Sie beim Reisen?
Es gibt einen weißhaarigen Kerl am Business-Class-Check-in in Berlin-Tegel, man nennt ihn den »bösen Mann«. Der macht immer Ärger beim Einchecken, Koffer zu schwer und so.
Schauen Sie sich die Städte an, in denen Sie auftreten?
Ehrlich gesagt, nein. Wenn ich mit meiner Freundin unterwegs bin, Simina Grigoriu – sie ist DJ und spielt oft mein Vorprogramm –, sagt sie: »Lass uns doch New York oder Barcelona mal anschauen!« Aber ich weiß, ich bin bald wieder hier, und ich möchte jetzt einfach noch zwei Stunden schlafen.
Sie könnten ja zwei Tage dranhängen.
Ich bin einfach zu viel unterwegs. Mir ist das mal in Köln aufgefallen: Fenster aufgemacht, Kölner Dom vor mir – Kamera lag auf dem Tisch, mach doch ein Foto, hab ich mir gedacht. Aber dann war mir das irgendwie doch egal. Was soll’s, die Leute, die immer alles fotografieren, haben doch nur Angst vor dem Vergessen.
Ist Ihnen schon mal was richtig Blödes passiert auf Reisen?
Ich saß mal 24 Stunden im russischen Knast. Weil ich einen Krümel Gras in der Tasche hatte. Das wollten die am Moskauer Flughafen wiegen. Wie wiegen?, frage ich, da kannst du eine Waage mit zig Kommastellen nehmen, und die zeigt immer noch null Gramm an. Dann hat der Polizist diesen winzigen Krümel in eine Plastiktüte gepackt, eine riesige Metallplombe drangemacht und gewogen. So bekam er ein für ihn zufriedenstellendes Ergebnis. Ich saß in einer Zelle mit blinkender Neonlampe, richtig ätzend, wie im Film. »Bring people with money«, sagten die. Ich hab dann tausend Euro gezahlt und durfte raus.
Wie verbringen Sie Ihre Wartezeiten auf Flughäfen?
In München esse ich in der Lounge schönen Kartoffelsalat Bayern-Style. Und wenn’s mir dreckig geht, lass ich mir eine Bloody Mary bringen. Terminal 2 in München ist top, ich bin viel dort: An Wochenenden fliege ich oft Berlin–München–Rimini–München–Marseille–München–Berlin. Meine Flugroute sieht aus wie ein großer Mercedes-Stern über München.
Was tun Sie gegen die Langeweile beim Fliegen?
Zeitschriften lesen. Bücher nehme ich selten mit, die, die ich mag, sind alle zu groß und zu schwer für den Koffer.
Was lesen Sie gerade?
Walter Kempowski, Das Echolot, Abgesang 45. Hammer! Aber zu dick für unterwegs.
Reisen Sie oft allein?
Ja, aber wenn ich auf Konzerttour gehe, sind wir mehrere, meine Freundin, mein Manager, Licht- und Tonleute. Dann sehen wir oft aus wie eine Horde verfeierter Typen. Deswegen gibt es Regeln. Erstens: Jeder kommt allein zum Flughafen. Gruppendynamik macht nur Stress. Zweitens: Jeder hat seine eigene Bordkarte parat, jeder checkt an einem anderen Security- Schalter ein. Sonst filzen die uns ewig, und alle müssen warten. Gruppe ist immer kompliziert.
Ihre Konzerttournee war ausverkauft, Sie werden in einem Atemzug mit Sven Väth und Paul van Dyk, den Urvätern des deutschen Techno, genannt. Gut oder schlecht?
Die sind doch zehn Jahre älter als ich. Und ich habe das Gefühl, ich bin hier sowieso nur auf Zwischenstation.
Warum?
Ich hab noch viele andere Pläne. Ich interessiere mich nicht für die schnelle Million. Ich könnte sofort die nächste Tournee spielen, quer durch die Riesenhallen des Landes, ich hatte unglaubliche Angebote. Aber ich mache lieber wieder ein paar Auftritte in kleinen Clubs, 300 Leute am Abend. Gegen den Strom. Is doch jut. Ich bin ja kein Fußballer, dessen Knochen mit Mitte dreißig durch sind. Ich kann immer noch zulegen!
Sie sind sehr viel in Europa unterwegs. Ihr Eindruck?
Ich habe eine Erkenntnis mitgebracht von meinen Reisen: Es ist scheiße, dass alles so gleichgemacht wird, sei es durch Konzerne oder durch europäisches Einheitsdenken. Wir sind nicht alle gleich: Im Süden essen sie erst um Mitternacht, wir Nordeuropäer wünschen uns ein bisschen Abstand zwischen den Menschen und küssen uns nicht immer gleich. Wir sind keine Einheit, das ist verlogen. Ich denke, die EU-Idee ist total überdreht. Und dann erst der Euro! Es sagt ja auch was über die Seele des Landes aus, wenn ich in Italien mit einem Haufen Lire für einen Cappuccino bezahle. Schade drum. Eigentlich war genau die Anfangsidee von Europa richtig, finde ich: die Römischen Verträge, die EWG. Ich glaube, ich mache mir demnächst ein T-Shirt: »Zurück zur EWG«.
Bei diesem Thema werden Sie aber leidenschaftlich. Diskutieren Sie so etwas auch mit Freunden nachts im Club?
Klar. Ich rede nie über Techno oder Platten oder so was.
Sie sind in der DDR geboren – denken Sie manchmal daran, wie Ihr Leben in der DDR ausgesehen hätte, nicht nur was Ihre vielen Reisen betrifft, sondern auch Ihre Karriere als Musiker?
Als die Mauer fiel, war ich erst zwölf. Trotzdem wollte ich schon damals immer weit weg: Auf Klassenfahrten nach Suhl oder so haben alle Kinder beim Abschied geweint, nur ich bin neben dem Fahrer gesessen und konnte es kaum erwarten! Ich bin heilfroh, dass ich so jung war, als die Mauer fiel. Ich frage mich oft: Wozu wäre ich bereit gewesen, um vorwärts zu kommen? Hätte ich alles mitgemacht, Parteischulung, das ganze Drum und Dran? Ich kann es nicht ausschließen. Es ist immer die größte Frechheit der Nachgeborenen – und der Westler sowieso – zu sagen: Ihr habt alles falsch gemacht! Da sitzen sie dann schön in den Business Lounges, die intellektuellen Westdeutschen, und zeigen mit dem Finger rüber. Aber darf ich Sie jetzt auch mal was fragen?
Bitte, gern.
Gleich fängt die Weltmeisterschaft an, warum stellen Sie mir keine einzige Frage zum Fußball?
Das ist die Idee dieses Heftes: Der obere Teil dreht sich um Themen, die mit Fußball zu tun haben, der untere nicht.
Vergessen Sie das: Im Moment warte ich auf nichts sehnlicher als auf meinen nagelneuen Riesenfernseher. 32 Flaggen an der Wand. WM-Spielplan daneben. Und vier Wochen lang keinen Auftritt.
Wer wird Weltmeister?
Es wird ein Turnier der Überraschungen. Auf mehr lege ich mich nicht fest. Ich hab schon 200 Euro auf ein 4 : 1 beim Finale der Bayern gegen Inter verwettet.