SZ-Magazin: Herr Wagner, vor dreißig Jahren haben Sie in einem Interview gesagt, dass Sie die Leitung der Bayreuther Festspiele lieber heute als morgen abgeben würden. Jetzt sind Sie immer noch alleiniger Festspielleiter. Ist das nicht frustrierend? Wolfgang Wagner: Ich habe das nie gesagt. Das war mein Bruder Wieland. Wir haben es aber schwarz auf weiß, aus einem Playboy-Interview von 1976, zum hundertsten Jubiläum der Festspiele. Habe ich das wirklich gesagt? Naja, warum soll ich nicht auch mal meine spontane, provokative Art zum Ausdruck bringen? Sonst meinen die Leute am Ende noch, der Wolfgang Wagner, der bleibt ewig. Warum tun Sie sich diesen Stress überhaupt noch an? Bereitet Ihnen die Arbeit immer noch Freude oder findet sich einfach kein passender Nachfolger? Anwärter hätte es schließlich einige gegeben. Was heißt hier Stress? Stress entsteht nur, wenn sich Menschen zu viel zumuten. Das Wort Stress gibt es für mich nicht. Weil ich mich nicht überschätze, sondern weiß, was ich kann und was ich zu tun habe. Aber wenn sich mal jemand zeigen sollte, der sich für die Leitung der Festspiele eignet – warum nicht? Trotzdem müssen die Vorbereitungen zu den Festspielen wahnsinnig anstrengend sein, immerhin sind Sie schon 86 Jahre alt. Wie sieht Ihr Tagesablauf aus in den Wochen vor der Eröffnung? Ich wache jeden Morgen um fünf Uhr auf, bin froh, dass ich noch eineinhalb Stunden schlafen kann, und stehe dann um 6 Uhr 30 auf. Nach dem Frühstück gehe ich rüber ins Festspielhaus, zum Glück wohne ich in der unmittelbaren Nachbarschaft. Vor kurzem habe ich mal nachgerechnet: Ich verbringe jeden Tag ungefähr zwölf Stunden im Festspielhaus. Im Juni und Juli wird jeden Tag von zehn Uhr morgens bis neun Uhr abends geprobt. Ohne Leute, die das ganze Jahr für mich arbeiten, wäre das gar nicht zu schaffen. In diesem Jahr warten alle gespannt auf die Neuinszenierung des Rings des Nibelungen. Christian Thielemann wird dirigieren, der Dramatiker Tankred Dorst Regie führen. Dabei sollte ursprünglich der dänische Filmregisseur Lars von Trier das viertägige Musikdrama auf die Bühne bringen. Warum ist er zwei Jahre vor der Premiere abgesprungen? Eine komplizierte Sache. Mir wurde damals natürlich wieder angedichtet, ich habe den Mann rausgeworfen. Das stimmt nicht. Es gab doch keinen Grund, mit jemandem einen Streit anzufangen, den ich für fähig halte. Richtig ist, dass ich ihn unbedingt für den Ring haben wollte, nachdem ich ein paar seiner Filme gesehen hatte. Wir haben uns mehrmals in Dänemark und Berlin getroffen und uns interessant unterhalten. Ich habe sofort gemerkt: Der Mann verfügt über eine weitschweifende Fantasie, der ist genau der Richtige für die Werke meines Großvaters. Leider musste er später aus persönlichen Gründen die Arbeit niederlegen. Was für Gründe waren das? Das ist seine Privatangelegenheit. Auf jeden Fall hat sie ihn davon abgehalten, seine Ring-Inszenierung fertig zu stellen. Wie weit war er schon in seinen Planungen? Ziemlich weit. Er hatte beispielsweise schon die Bühne des Festspielhauses abgemessen, um einschätzen zu können, was möglich ist. Sogar eine Bauprobe mit provisorischen Dekorationen aus Stellwänden und Latten war bereits durchgeführt. In seinem Arbeitszimmer in Dänemark hatte er hunderte von Notizzetteln mit Ideen und dramaturgischen Einfällen an die Wand gepinnt.
Stimmt es, dass Ihnen sein Konzept zu düster war? Das ist doch dummes Zeug. Selbst wenn er den Ring zu düster geplant hätte, gibt es bei uns immer noch elektrisches Licht, um die Sache ein wenig heller zu machen. Haben Sie noch Kontakt zu ihm? Nein. Aber er hat wohl später eingesehen, dass er selbst daran schuld ist, dass die Sache nicht funktioniert hat. Nach Lars von Triers Absprung waren Sie in einer heiklen Lage. Die Zeit drängte und Sie mussten guten Ersatz finden. Haben Sie mit dem Gedanken gespielt, noch mal ins Geschehen einzugreifen und den Ring selbst zu inszenieren? Nein. Ich habe den Bayreuth-Ring zweimal in meinem Leben gemacht, öfter sollte man sich selbst dem Publikum nicht vorsetzen. Das hatte ich schon vor fünfzig Jahren mit meinem Bruder Wieland so besprochen. Sie entschieden sich für den Dramatiker Tankred Dorst – eine riskante Wahl: Mit seinen achtzig Jahren ist der nicht mehr der Jüngste und hat wie Lars von Trier in seinem Leben noch nie eine Oper auf die Bühne gebracht. Ich finde nicht, dass diese Wahl riskant war. Tankred Dorst ist in erster Linie Dramatiker, das stimmt, aber kein schlechter. Und viel wichtiger: Seine Stücke sind alle dramaturgisch astrein und schlüssig durchstrukturiert. Bei ihm spürte ich sofort, dass ich keine Angst haben muss. Er wird mit der Gedankenwelt meines Großvaters bestens zurechtkommen. Ich habe ein sehr gu-tes Gefühl. Das muss einfach was werden. Und was das Alter betrifft: Der eine ist mit sechzig todkrank, der andere mit achtzig topfit. Alter an sich ist doch kein Kriterium. Wie bewerten Sie mit einigem Abstand den heftig umstrittenen Parsifal von Christoph Schlingensief aus dem Jahr 2004? Schließlich kommt der ja auch dieses Jahr in Bayreuth wieder auf die Bühne. Der hat nicht jedem gefallen, richtig, aber ich hätte Schlingensief doch nicht engagiert, wenn er kein hochbegabter Kerl mit einer ganz eigenen Handschrift wäre. Sein Problem ist nur, dass er unglaublich viele Ideen hat, die er realisieren will, aber nach fünf Minuten über den Haufen wirft, weil ihm schon wieder neue kommen. Da spielen die Sängerinnen und Sänger natürlich nicht mit. Rücksicht auf das Ensemble zu nehmen, das musste er erst lernen. Trotzdem bin ich nach wie vor froh, dass er dabei ist. Mussten Sie jemals einem Regisseur aus der Patsche helfen, weil seine Arbeit total danebenzugehen drohte? Ehrlich gesagt, habe ich noch nie einen Regisseur erlebt, der sich in der Patsche fühlte, auch wenn er noch so großen Blödsinn machte. Regisseure besitzen von Natur aus großes Selbstbewusstsein – und das ist auch gut so in diesem Beruf. Übrigens sagen auch Sänger und Dirigenten den Regisseuren, was sie von einer Inszenierung halten. Christian Thielemann etwa redet sehr gern über Regie. Der dirigiert jetzt nicht nur den Ring, sondern scheint überhaupt ein Glücksfall für Bayreuth zu sein und neuen Schwung auf den Grünen Hügel gebracht zu haben. Was macht Christian Thielemann so geeignet für die Festspiele und die Opern Richard Wagners? Vor allem die Tatsache, dass er ein hervorragender Musikant ist. Und weil mein Großvater keine schlechte Musik geschrieben hat, passt das sehr gut zusammen. Dazu kommt, dass Christian Thielemann sich sehr wohl fühlt in Bayreuth. Wenn er durch die Stadt geht, wird er angestaunt wie ein lebendes Wunder. Er ist sehr umgänglich, redet nicht andauernd über sich selbst und muss nicht ständig im Mittelpunkt stehen. Das macht ihn sympathisch, das ist angenehm. Auch in diesem Jahr kommen wieder viele Prominente zur Eröffnung der Festspiele. Gibt es Bayreuth-Besucher, über die Sie sich mehr freuen als über andere? Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel ist ja längst Stammgast. Ich mache da keine Unterschiede. Jeder, der sich für die Musikdramen meines Großvaters interessiert, stundenlang auf unseren harten Stühlen ausharrt und die Aufführungen nicht unter Protest verlässt, ist mir willkommen. Ohne Publikum macht Theaterspielen keinen Sinn. Nur wenn Leute zuschauen, bleibt das Theater lebendig. Und was Frau Merkel angeht: Natürlich freue ich mich, wenn sie kommt. Sie war ja schon seit dem Jahr 1991 Gast bei uns, lange bevor sie Kanzlerin wurde.
Sind die Stühle immer noch so hart wie bei den ersten Festspielen 1876? Wir haben sie mal erneuert, aber das ist schon 25 Jahre her und war gar nicht so einfach. Wir mussten insgesamt sieben unterschiedliche Modelle anfertigen lassen, bis alles gepasst hat, weil die Reihen im Festspielhaus so eng sind. Übrigens habe ich neulich gelesen, dass Wissenschaftler herausgefunden haben, dass die Durchschnittsgröße des Menschen 180 Zentimeter nicht übertreffen wird. Das hat meinen Beifall gefunden. Immer wieder haben Kritiker gefordert, in Bayreuth nicht nur Wagner, sondern auch andere Komponisten aufzuführen. Wie stehen Sie dazu? Ich bin dagegen. Ers-tens, weil die Dirigenten es auch sind, zweitens, weil Richard Wagner das Festspielhaus eigens für den Ring konzipiert hat, und drittens, weil immer noch zehnmal so viele Menschen die Festspiele besuchen, wie es Plätze gibt. Ich sehe keinen Grund, warum wir unser Konzept ändern sollten. Hören Sie trotzdem gern andere Komponisten? Ich kann nicht oft in die Oper oder ins Konzert gehen, weil ich mit Wagner ausgelastet bin. Und wenn ich mal ausspannen will, gehe ich bestimmt nicht ins Theater. Glauben Sie mir: Irgendwann ist man gesättigt. Und Musik einfach nur anhören, um sie anzuhören, das mag ich nicht, ich muss sie schon richtig aufnehmen können. Schon Hitler kam ja nach Bayreuth, um seinen Wagner zu hören. Ja, dass Hitler ein Fan meines Großvaters war und immer mal wieder bei uns im Gästehaus gewohnt hat, ist bekannt. Weil meine Mutter eng mit ihm befreundet war – sie durfte ihn sogar bei seinem Spitznamen »Wolf« nennen –, wurden wir fast eine Art Ersatzfamilie für ihn. Aber Hitler lernte Wagner nicht erst im Dritten Reich schätzen, um sich den Massen als Kunstkenner zu präsentieren; das war er schon zuvor. Besonders das Theater hat unter Hitler einen Ausnahmezustand erreicht. Er ließ die ganze Zeit durchspielen, auch während des Krieges. Psychologisch war das richtig gedacht: Die Leute hatten nichts mehr und hörten jede Nacht Bomben fallen, da war das Theater eine Stütze, eine Ablenkung. Hitler ließ sogar 250 Kulturschaffende gegen den Willen der Wehrmacht freistellen. Er wollte nicht die ganze Intelligenz des Landes an die Front schicken. Wie tief ging die Wagner-Kenntnis bei Hitler? Das ist schwierig zu beurteilen. Auf der einen Seite kannte er die Werke und theoretischen Schriften meines Großvaters erstaunlich gut, auf der anderen Seite schien eine tiefere, philosophische Anverwandlung der Inhalte nicht stattgefunden zu haben. Hätte er die Mitleidsreligion aus dem Parsifal wirklich verinnerlicht, hätte er sich anders verhalten und gewisse Dinge nicht gemacht. Hitler blieb an der Oberfläche und orientierte sich an Affekten. Für ihn zählte die überwältigende Wirkung der Wagner’schen Musik, und die hat er letztendlich ja auch für seine Zwecke benutzt. Welche persönlichen Erinnerungen haben Sie an ihn? Immerhin waren Sie schon vier Jahre alt, als Hitler 1923 zum ersten Mal nach Bayreuth kam. An diese Zeit kann ich mich kaum erinnern, aber in den folgenden Jahren lernte ich ihn natürlich kennen. Er war immer sehr aufgeschlossen und höflich, obwohl ich als Drittgeborener nicht so viel mit ihm zu tun hatte. Hitler war mehr an meinem Bruder Wieland interessiert. Ihn hat er vom Kriegsdienst freigestellt, ihm hat er Geschenke gemacht, einmal sogar einen Mercedes. Allerdings hat er mich auch einmal besucht: Im Jahr 1939, als ich mit einer Kriegsverletzung in der Berliner Charité lag. Änderte sich das Verhältnis, nachdem Hitler an die Macht gekommen war? Nein. An den Tag der Machtergreifung kann ich mich übrigens noch genau erinnern: Ich lag krank im Bett, als meine Mutter ins Zimmer kam und sagte: »Der Wolf ist Reichskanzler geworden. Das kann nicht lange gut gehen, das ist nichts für den.« Als er dann zum wichtigsten Mann im Deutschen Reich aufgestiegen war, haben wir Kinder ihm das »Sie« angeboten. Aber Hitler erwiderte nur: Das kommt nicht in Frage. Wir kennen uns doch schon länger, wir bleiben beim »Du«.
Sie haben einmal erwähnt, dass Sie und Ihr Bruder abends länger wach bleiben durften, wenn Hitler zu Besuch bei Ihrer Mutter war. War er der gute Onkel für Sie? »Onkel« haben wir nie zu ihm gesagt. Der Taufpate meines Bruders, der hieß Onkel Adolf. Trotzdem war Hitler stets nett zu uns, aber das ist doch bei Politikern immer so. Die stellen sich gut mit den Kindern, weil sie dann die Mütter auf ihrer Seite haben. Obwohl Ihre eigenen Inszenierungen eher konventionell ausgefallen sind, haben Sie stets avantgardistische Regisseure wie Patrice Chéreau, Heiner Müller oder eben Christoph Schlingensief nach Bayreuth geholt. Sehen Sie keine Gefahr darin, dass ein junger Mensch durch das moderne Regietheater den Kontakt dazu verliert, was der Ring ursprünglich mal gewesen ist. Nein. Mein Großvater hat nicht gewesene Werke, er hat lebendige Werke geschrieben. Der hat nicht museal gedacht. »Ich wanke und weiche nicht, solange ich die Zukunft der Festspiele nicht gesichert sehe«, haben Sie mal gesagt. Seitdem sind sieben Jahre vergangen. Haben Sie Angst, dass die Festspiele sich nach Ihrem Tod in eine falsche Richtung bewegen könnten? Überhaupt nicht. Bis heute haben wir zwei Weltkriege überstanden. Wenn plötzlich irgendeiner sagen würde, die Festspiele finden nicht mehr in der Form wie bisher statt, dann würde das doch kein Mensch verstehen, dann würde sich doch Protest regen. Mit dem früheren bayerischen Kultusminister Hans Zehetmair, der Sie vor ein paar Jahren so gern im Ruhestand gesehen hätte, haben Sie keine Probleme mehr? Minister sind ja dafür da, alles besser zu wissen und Schwierigkeiten zu machen. Aber in den letzten Jahren ist es ruhig geworden. Die wissen schon, dass keiner so billig arbeiten kann wie wir in Bayreuth, dass wir mit den geringsten Zuschüssen auskommen, die es überhaupt gibt in der Theaterwelt. Das ist der Grund, warum die Politiker Achtung haben vor mir. Man muss aufpassen: Je mehr Zuschüsse der Staat einer Institution gibt, desto mehr mischt er sich ein. Wir sind nicht unbedingt auf diese Subventionen angewiesen, weil wir jedes Jahr ausverkauft sind, nehmen sie aber doch in Anspruch, weil wir die Karten so billiger machen können. Ich will nicht, dass nur noch reiche Leute zu uns kommen. Mein Großvater wollte sogar, dass die Festspiele kostenlos sind. Haben Sie einen Überblick über Ihr Publikum? Unsere Besucher sind im Schnitt 52 Jahre alt und kamen im letzten Jahr aus 81 Ländern. Die Auslandsquote beträgt meist ein Drittel. Lädt es nicht zur Bequemlichkeit ein, wenn die Leute ohnehin kommen, egal wie die Kritiken im letzten Jahr ausgefallen sind? Natürlich ist Kritik wichtig. Aber ein Bayreuth-Besucher lässt sich nicht so stark von der öffentlichen Meinung beeinflussen. Ihn interessiert das, was er sieht, und er bildet sich seine eigene Meinung. Unser Publikum ist ein ganz besonderes, das eine Menge auf sich nimmt, um sich in Ruhe mit der Musik und den Inszenierungen auseinander zu setzen. Die Kritiker kommen oft von einem anderen Festival und haben nicht die Muße, sich zu orientieren und sich ganz auf das Gespielte einzulassen. Oft höre ich, wie Rezensenten sich darüber beklagen, dass sie keine Zeit haben, über eine Vorstellung nachzudenken, weil sie ihre Texte so schnell wie möglich an ihre Redaktionen schicken müssen. Wenn Sie die Möglichkeit hätten, Ihrem Großvater eine Frage zu stellen, was würden Sie ihn fragen? Ich glaube, bei seinem Temperament hätte er von sich aus das Bedürfnis gehabt, seinen Nachkommen was zu erzählen. Aber nach so vielen Jahren würde mich schon interessieren, ob er einigermaßen zufrieden damit ist, wie seine beiden Enkel Wieland und Wolfgang die Festspiele geleitet haben. Wolfgang Wagner, 86, ist der letzte lebende Enkel Richard Wagners und seit dem Tod seines Bruders Wieland 1966 alleiniger Leiter der Bayreuther Festspiele. In den vergangenen Jahren hatte er sich immer wieder erfolgreich gegen Politiker und Mitglieder der eigenen Familie zur Wehr gesetzt, die nicht nur den künstlerischen Anspruch der Festspiele, sondern immer wieder auch seinen monokratischen Führungsstil öffentlich kritisiert hatten. Bis heute ist Wolfgang Wagner nicht bereit, als Festspielleiter von seinem Vertrag auf Lebenszeit zurückzutreten.