Kleiner Ausschnitt

Die Erde dreht sich um die Sonne, nur Brasilien dreht sich um den Strand. Drum sollte, wer das Land begreifen will, keinen Reiseführer einpacken, sondern eine Badehose.

Hêlo Pinheiro war sechzehn Jahre alt und ging jeden Tag zum Strand. Aus brasilianischer Sicht ist ein Strandbesuch nichts, worüber man ein Wort verlieren müsste. Außer in Hêlos Fall: Da sollten die Konsequenzen ungeheuerlich sein. Es war 1962 und der Musiker Tom Jobim trank ein Bier auf der Terrasse der »Bar Veloso«, direkt an der Rua Montenegro, die zum Strand von Ipanema führt. Da ging ein Mädchen an ihm vorbei, sie hatte lange schwarze Haare und graugrüne Augen. Jobim saß da mit zugeschnürter Kehle, schaute ihr nach und hoffte auf den nächsten Tag. Wieder ging Hêlo vorbei. Jobim zerrte seinen Freund Vinicius de Moraes in die Bar, um ihm das Mädchen zu zeigen. So ging das eine Weile. Die Männer warteten und schauten, manchmal lachten sie, manchmal waren sie ein wenig wehmütig und eines Tages tranken sie ein allerletztes Bierchen, gingen heim, dann schrieben sie ein Lied. Die Folgen sind bekannt. Das Lied wurde in Brasilien ähnlich bekannt wie hierzulande Blau, blau, blau blüht der Enzian und bald eroberte es unter dem Namen Girl From Ipanema die ganze Welt. Hêlo Pinheiro bekam Angebote von Herrenmagazinen und die Verpflichtung auferlegt, auf ewig jung und schön zu sein; eine Verpflichtung, der sie heute – etwas gestrafft und blondiert – noch immer nachzukommen versucht. Aber das ist nicht alles: Die Rua Montenegro wurde umgetauft in Vinicius de Moraes. Und als man den neuen internationalen Flughafen in Rio de Janeiro baute, gab man ihm in einer feierlichen Stunde den Namen »Tom Jobim«. Das ist ungefähr so, als hätte man in einem Staatsakt einen Flughafen nach Adolf von Kleebsattel benannt. Das ist der Komponist von Heinos Hit. Wobei den beiden brasilianischen Musikern tatsächlich Staatsruhm gebührt. In Wirklichkeit ist Girl From Ipanema die inoffizielle Hymne des Landes, ein patriotisches Bekenntnis. Nicht so sehr, weil hier irgendeine der zahlreichen Strandschönheiten besungen wird, sondern weil es den Strand zu Recht ins Zentrum aller Wahrnehmung und Würdigung rückt. Ohne Strand wäre Brasilien undenkbar; neben der Verfassung ist er der größte Schatz der brasilianischen Gesellschaft. Ohne Strand hätte das Land womöglich Angriffskriege geführt (bis heute hat sich Brasilien, im Gegensatz zu allen anderen großen Nationen, zurückgehalten) und wäre durch Anarchie, Terror und Bürgerkrieg aufgerieben; ohne Strand würden nie so viele Religionen und Religiönchen geruhsam nebeneinanderher existieren; ohne Strand wäre das große Experiment, aus Portugiesen, Japanern, Afrikanern, Indios, Syrern, Libanesen, Italienern, Spaniern und Deutschen eine einigermaßen funktionierende Gesellschaft zu machen, wohl anders ausgegangen. Brasilien hat 7500 Kilometer Küste und diese Küste besteht vor allem aus Strand. Auch andere Länder haben lange Küsten, Grönland etwa, die Vereinigten Staaten oder China. Nur kann man dort nicht das ganze Jahr über baden oder in der Sonne liegen, von wenigen Ausnahmen abgesehen. In Brasilien jedoch kann man monatelang am Meer entlangstreifen und wird immer wieder einen neuen Strand entdecken. Jedes Jahr erscheint eine Spezialausgabe des beliebten Reiseführers Guia Quatro Rodas, eine Art tropischer Guide Michelin nur für die Küste des riesigen Landes. Darin sind allein 2100 Strände aufgeführt. Im Süden liegen weite, wilde, mit rauem Gras bewachsene Dünen und von kleinen Wäldern eingefasste, stille Buchten. Weiter nördlich Palmenhaine und Gebirge, die sich direkt am Meer erheben, aber zu ihren Füßen trotzdem noch Platz für einen Sonnenschirm und ein ausgebreitetes Handtuch lassen. Dann folgen weiße, sichelförmige, von felsigen Hügeln getrennte Strände, auf denen manchmal rund gespülte, große Steine wie vergessene Sauriereier liegen. Und im Nordosten erstreckt sich ein breiter, wüstenartiger Streifen von dreifarbigem Sand, der hunderte von Kilometern die Küste säumt. Aber in Wirklichkeit ist der Strand noch woanders: Er bestimmt die Vorstellungen fast aller Brasilianer. Das hat mit der Siedlungsgeschichte zu tun. Nur zögerlich trauten sich die Siedler in die mückenverseuchten Wälder; am Strand war es ja auch viel schöner. Heute gibt es 185 Millionen Brasilianer. Ihr Land, das fünftgrößte der Welt, nimmt über die Hälfte des südamerikanischen Kontinents ein. Doch trotz dieser Größe, die man erst ermessen kann, wenn man einmal stundenlang über den Urwald geflogen ist und keine Lücke, keine Stadt gesehen hat, ist das Land im Inneren weit gehend leer. Über zwei Drittel der Brasilianer leben auf einem schmalen Streifen am Rand des Landes; und das bedeutet nichts anderes als: Von den meisten Einwohnern braucht keiner länger als eine Stunde bis zum Meer. In São Paulo wird sogar die Autobahn, die zu den Badeplätzen führt, die Emigrantes, zu Beginn des Wochenendes auf der Gegenrichtung gesperrt und stadtauswärts für den Verkehr freigegeben – insgesamt zwölfspurig rollen dann alle strandwärts. Die sozialen Auswirkungen sind beträchtlich. Am Strand kommen alle zusammen; dort lernt man sich kennen, dort trennt man sich. Man fährt nach der Arbeit dorthin oder vor der Arbeit, man bespricht und verabredet sich, kauft ein, lästert, freut sich, schließt Geschäfte ab, cremt sich ein, lacht und spielt. Sogar mit Leuten, mit denen man sich sonst nie abgeben würde. Aber einen Bikini kann sich jeder leisten. Der Strand als kollektive Erfahrung: Was das bedeutet, wenn sich eine ganze Nation möglichst oft halb nackt im Sand aalt; wenn der Strand als Ideal immer präsent ist und auch die Prominenten in der Klatschzeitung Caras meistens am Strand der Ilha de Caras abgelichtet werden – der amerikanische Schriftsteller John Updike hat sich darüber ein paar Gedanken gemacht, als er sich in Rio de Janeiro aufhielt und für seinen Roman Brasilien am Strand die Körper studierte: »Schwarz ist ein Sonderfall von Braun. Ebenso Weiß, wenn man genau hinsieht. Auf der Copacabana, dem demokratischsten, überfülltesten und gefährlichsten Strand von Rio de Janeiro, verschmelzen alle Farben zu jubilierenden, sonnensatten Farben von Fleisch, die den Sand mit einer zweiten Haut überziehen.« Nun, diese Haut ist die Haut Brasiliens. Sie hält alles zusammen. Und so liegt es in der Logik der Sache, dass Updike seinen Roman am Strand beginnen und nach vielen, vielen Seiten dort auch wieder enden lässt. Nur am Strand ist es möglich, dass sich Menschen wie das reiche, weiße Diplomatentöchterchen Isabel und der arme, schwarze Favela-Junge Tristão begegnen: Der Strand ist für alle da, am Strand gibt es keine Unterschiede. Und so wird der Strandbesuch zur ersten Bürgerpflicht. Für die meisten ist es kein Problem, ihren staatsbürgerlichen Pflichten mindestens einmal in der Woche nachzukommen. Die brasilianischen Strände sind in der Verfassung besonders geschützt; sie verbietet im ganzen Land Privatstrände. In bewundernswerter Voraussicht hat man rechtzeitig auf Sand gebaut: Weil nur dort die sozialen Unterschiede verwischen, und wenn es nur für einen sonnigen Nachmittag ist. Am Strand werden soziale Minen entschärft. Er ist ein Ort der Integration und der Illusion: Man sieht keinem an, woher er kommt. Nur der Körper ist der Maßstab, nicht die Rasse oder soziale Klasse. Und vielleicht lag genau darin das Revolutionäre und auch etwas Vermessene, als Präsident Juscelino Kubitschek vor fünfzig Jahren beschloss, die neue Hauptstadt Brasilia zu erbauen. Auf einer Hochebene, weit weg vom Meer. Seine Vorstellung von Gleichheit sollte ohne Strand auskommen. Bis heute haben sich die Brasilianer nicht wirklich daran gewöhnt. In anderen Ländern hat man alles Mögliche zur nationalen Stärkung und gesellschaftlichen Befriedung ausprobiert. Man trug Trachten, in denen alle gleich aussahen, ersann Schuluniformen und führte auch ganz gern mal einen kleinen Krieg. Vermutlich hat der weitsichtige Kubitschek dies befürchtet: dass der brasilianische Weg im Grunde nur eine andere Art von Krieg ist. Die Tracht heißt nun Badehose und Bikini. Und die Wunderwaffe im Krieg der Körper heißt Silikon.