INTRO
Neulich war wieder so ein Tag. Irgendwann morgens, noch vor dem ersten Kaffee, tauchte auf einmal dieses Lied in meinem Kopf auf. Und blieb. Den ganzen Tag. Live Is Life. Zähneputzen – nanaaa nanana. U-Bahn fahren – nanaaa nanana. Eine Besprechung mit Kollegen, ich konnte mich kaum konzentrieren, weil: nanaaa nanana. Anderen Menschen macht der Euro Sorgen oder das müde Getrete der deutschen Nationalmannschaft – ich war beschäftigt mit diesem doofen Lied. Aber wie kam es in meinen Kopf? Ich bin ganz sicher, ich habe es seit Jahren nirgends gehört, weder im Radio noch im Fernsehen, und auf CD schon gar nicht. Auf einmal war es da. Nanaaa nanana.
Wenigstens bin ich nicht allein. Ein Nachbar erzählte mir vor Kurzem, dass er tagelang Believe von Cher im Ohr hatte. Der Komponist Robert Schumann litt unter Ohrwürmern. Der Popsänger Neil Diamond auch. Eine Kollegin in der Redaktion wird immer wieder von dem Bon-Jovi-Kracher Living On A Prayer heimgesucht. Der Chefredakteur klagte vor einiger Zeit, sein Sohn habe ihn mit I Like To Move It, Move It infiziert. Praktisch jeder kennt das Gefühl, von einem Ohrwurm wie Last Christmas an den Rand des Wahnsinns getrieben zu werden.
OHRWÜRMER IN ALLER WELT
Im Englischen spricht man gelegentlich auch vom »earworm«, gängiger ist aber der Begriff »sticky song«, klebriges Lied. Auch die Franzosen kennen den »ver d’oreille«, den wörtlich übersetzten Ohrwurm.
Im Spanischen existiert der Ausdruck »canción pegadiza«, das heißt so viel wie: ansteckendes Lied.
Hat ein Schwede einen Ohrwurm, kann er sagen: »Jag har en låt på huvudet«. Wörtlich übersetzt: »Ich habe ein Lied auf dem Kopf.«
Der Italiener verwendet für den Ohrwurm das Wort »tormentone«, das in anderem Kontext auch »Werbeslogan« oder »Quäler« heißen kann.
Im Russischen sagt man: » ПЕСHЯ ПPИЧЕПИЛАСЪ« – Das Lied klebt.
Neurologen benennen das Phänomen eher ernsthaft: »Involuntary musical imagery« – also Musikbilder, die ungewollt entstehen.
DIE WISSENSCHAFT: EHER RATLOS
Wie kommt der Ohrwurm in den Kopf? Warum geht er nicht mehr weg? Wikipedia sagt, der Ohrwurm sei »ein eingängiges und merkfähiges Musikstück, das dem Hörer für einen längeren Zeitraum in Erinnerung bleibt«. Da fehlt: »und das einen in den Wahnsinn treibt«. Eigentlich müsste der Ohrwurm im Pschyrembel stehen, dem medizinischen Fachwörterbuch. Aber es ist ja nicht mal richtig klar, welche Fachrichtung zuständig ist. Manche Menschen gehen zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt, weil sie eine Melodie nicht mehr loswerden. Die Psychologen fühlen sich irgendwie zuständig – Sigmund Freud fand, dass der Ohrwurm eine unbewusste Artikulation von Wünschen sein muss, aber recht viel weiter kam er nicht. Andere setzen auf die Musikwissenschaftler: Die könnten vielleicht erklären, welche Melodien sich besonders gut im Kopf verhaken. Es finden Symposien statt, bei denen Forscher aus allen Fächern diskutieren, wie der Ohrwurm in unseren Kopf kommt. Die meisten enden mit kollektivem Schulterzucken.
DER MUSIKMEDIZINER
Eckart Altenmüller ist einer der wenigen Ohrwurm-Experten in Deutschland. Der Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Musikhochschule Hannover hat viele Hundert Menschen befragt, die unter Ohrwürmern leiden. Also bitte:
SZ-Magazin: Herr Altenmüller, wer leidet besonders unter Ohrwürmern?
Eckart Altenmüller: So viel wissen wir – sie treten besonders bei Leuten auf, die starke Emotionen beim Musikhören empfinden oder auch selber viel Musik machen. Diese Menschen haben ein geschultes auditives Gedächtnis.
Ist es denn nur eine Frage der Erinnerung? Es kommt einem doch vor, als würde das Lied regelrecht im Kopf ablaufen.
Aus wissenschaftlicher Sicht sind Ohrwürmer am ehesten mit den wackligen Beinen nach einer Schiffsreise vergleichbar: Auf dem Festland meint man immer noch das Schwanken der Planken zu spüren.
Was passiert da in unserem Kopf?
Eine Studie hat ergeben: Der Teil des Gehirns, der beim Hören von Musik aktiv ist, ist es auch dann, wenn wir uns die Musik nur vorstellen. Forscher zeichneten die Gehirntätigkeit von Testpersonen auf, ließen Musik laufen und unterbrachen das Stück für ein paar Sekunden: Wenn die Testpersonen das Lied einigermaßen gut kannten, machte ihr Gehirn einfach weiter, als laufe die Musik immer noch.
Ich hatte vor ein paar Tagen stundenlang das Lied der Schlümpfe im Kopf. Warum bloß?
Sie Armer. Für so etwas genügen schon ganz nebensächliche Assoziationen. Es könnte zum Beispiel sein, das Sie etwas Schlumpfblaues gesehen haben. Oder dass in der Zeitung irgendwas über Oberhausen stand und Sie von da auf Schlumpfhausen gekommen sind.
LIEDER, DIE MAN NIE MEHR LOSWIRD, TEIL 1
You’re my heart, you’re my soul
I’ll keep it shining everywhere I go
You’re my heart, you’re my soul
I’ll be holding you forever
Stay with you together
Modern Talking: »You’re My Heart, You’re My Soul«
WARUM EIGENTLICH AUSGERECHNET MUSIK?
»Musik ist sehr viel komplexer als die meisten anderen Reize. Vielschichtiger. Wir haben … Melodie, Rhythmus, Text, verschiedene Instrumente, verschiedene Klänge, Dynamik von sehr laut bis ganz leise. Das bedeutet, es gibt für ein Lied sehr viele verschiedene Haken, mit denen es sich im Gehirn verankern kann.«
Andréane McNally-Gagnon, Neurologin und Ohrwurm-Spezialistin, Kanada
UND WARUM SIND WIR SO HILFLOS?
Der New Yorker Psychiater Oliver Sacks schreibt in seinem Buch Der einarmige Pianist darüber, wie unser Gehirn Musik wahrnimmt. Es geht da auch um den Unterschied zwischen der Wahrnehmung von Bildern und von Musik: »Eine visuelle Szene kann auf hunderterlei Art konstruiert oder rekonstruiert werden, doch der Abruf eines Musikstücks aus dem Gedächtnis muss sich eng an das Original halten.« Sacks spricht von der »widerstandslosen Aufzeichnung der Musik im Gehirn«. Wenn wir uns der Musik aussetzen wollen, dann gibt es nichts Großartigeres, als wenn sie komplett die Regie übernimmt. Auf Konzerten, im Club, beim Festival. Aber wenn wir gerade keine Musik brauchen können, schon gar nicht Musik, die nicht mal vorhanden ist, sondern nur in unserem Kopf rumspukt – dann ist der Spaß vorbei.
Und die Technik macht alles immer schlimmer. Zwar gehen Experten davon aus, dass es Ohrwürmer schon immer gegeben hat, vielleicht hatten unsere Vorfahren das Steineklopfen des Höhlenbewohners nebenan im Ohr. Tatsache ist aber: Wer früher Musik hören wollte, musste dafür andere Menschen treffen. Erst seit Musik aufgezeichnet und unabhängig vom Musiker wiedergegeben werden kann, ist sie überall. Im Radio, im Fernsehen, auf dem iPod, im Handy. Oliver Sacks glaubt, genau das führe zur »Allgegenwart ärgerlich eingängiger Melodien, jener Hirnwürmer, die ungebeten kommen und uns erst wieder verlassen, wenn es ihnen passt«.
Die Lieder, die hängen bleiben, müssen also nicht gut sein oder auch nur unseren Geschmack treffen. In der Zeit berichtete mal eine Autorin, dass sie für eine Forschungsarbeit wochenlang Neonazi-Musik hören musste. »Schließlich ertappte ich mich dabei, unter der Dusche Opa war Sturmführer bei der SS zu summen.« Nicht zu beneiden.
LIEDER, DIE MAN NIE MEHR LOSWIRD, TEIL 2
Take me to the magic of the moment
On a glory night
Where the children of tomorrow dream away
In the wind of change
Scorpions: »Wind Of Change«
DAS IDEALE OHRWURMLIED?
Plattenproduzenten wären froh, wenn sie das genau vorhersagen könnten. Musikwissenschaftler haben schon mal eine Reihe von Merkmalen gefunden:
a) Einfachheit. Kinderlieder werden eher zum Ohrwurm als Schostakowitsch-Sinfonien. Aber: Komplexe Musikstücke bergen die Gefahr, dass einzelne, ganz kurze Teile sich im Kopf festsetzen. Weil wir nicht einfach das ganze Stück vor uns hin singen können, sondern immer an der gleichen prägnanten Stelle hängen bleiben.
b) Wiederholung. Je häufiger im Lied eine einfache Phrase wiederholt wird, umso besser sind die Chancen, dass die sich im Kopf verhakt. Im Englischen wird die einfache, prägende Melodie eines Hits als »Hookline« bezeichnet – sie bleibt wie ein Haken in unserem Kopf hängen. Typisches Beispiel: Seven Nation Army von den White Stripes.
c) Überraschung. Manchmal kann gerade das Gegenteil von a) und b) zum Ohrwurm führen. Eine Studie hat gezeigt, dass immer wieder auch Stücke hängen bleiben, in denen besonders ungewöhnliche Tonsprünge vorkommen oder rhythmische Stolperer. Versuchen Sie mal, Americaaus der West Side Story nachzusingen. Sie werden es sehr wahrscheinlich nicht sauber hinkriegen – aber es wird danach noch stundenlang in Ihrem Kopf rumgeistern.
Auf a) und b) setzt die Popwelt fast ausschließlich. Popmusik wird heute oft völlig anders produziert als früher. Die Idee, dass es eine hübsche Strophe geben könnte, dann einen Übergang, danach den starken Refrain – völlig veraltet. Bei Hits von Rihanna oder Pink hat jeder einzelne Takt den sogenannten Ringtone-Charakter, das Element ist so prägnant, dass es auch als Handyklingelton funktionieren würde. Dafür gibt es sogar eigene Spezialisten, Menschen, die keine Lieder schreiben, sondern erst ins Studio geholt werden, sobald die Begleitmusik fertig ist – die denken sich dann kurze Phrasen aus, Einzeiler und Schlachtrufe, die sich im Radio sofort durchsetzen und jedem Hörer ewig im Ohr bleiben.
Was auch gern gemacht wird: Songs überhaupt auf eine einzige Hookline reduzieren. Zum Beispiel Hits wie Eric Prydz’ Call On Me oder Armand Van Heldens Barbra Streisand: Die Produzenten nehmen einzelne Takte aus älteren Stücken und lassen sie endlos in Schleife laufen. Strophen, Zwischenteile, Soli? Kann man alles wegschmeißen. Wichtig ist nur der eine kurze Schnipsel, der schon für das Original charakteristisch war. Als würde man von Beethovens Fünfter immer nur Dadadadaaa im Kreis spielen.
LIEDER, DIE MAN NIE MEHR LOSWIRD, TEIL 3
We are the champions – my friends
And we’ll keep on fighting – till the end
We are the champions
We are the champions
No time for losers
Cause we are the champions – of the world
Queen: »We Are The Champions«
Was tun?
DAS HÄLT MAN JA IM KOPF NICHT AUS
IRRSINN
In einer Folge der TV-Serie Star Trek: The Next Generation kommt ein Ohrwurm vor, der eingesetzt wird, um die besonders sensible Schiffspsychologin Deanna Troi an den Rand des Wahnsinns zu bringen.
GEHEIMNISKRÄMEREI
The Demolished Man, ein Roman des Science-Fiction-Autors Alfred Bester, spielt in einer Welt, in der jeder Telepathie beherrscht. Ein Mann infiziert sich selbst mit einem besonders nervigen Ohrwurm, der seine Gedanken für die anderen übertönen soll.
WEHMUT
In Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit begegnet der Held Marcel einer schönen Frau und hört zugleich eine Sonate, die ihm sofort im Gedächtnis bleibt. Der Ohrwurm untermalt von da an die Erinnerung an die Begegnung – bis er die Frau endlich wiedertrifft.
WENN ES RICHTIG ERNST WIRD
Der englische Extrembergsteiger Joe Simpson kletterte Mitte der 80er-Jahre mit einem Freund in den Anden. Er stürzte ab und wurde von seinem Kompagnon für tot gehalten – dabei hatte er überlebt. Zwar hatte er sich alle möglichen Knochen gebrochen und konnte sich kaum rühren, aber Joe Simpson begann, den Berg hinunterzurobben, Zentimeter für Zentimeter, bis ins Basislager. Eine mehrtägige Tortur, bei der ihn Hunger und Schmerz plagten, Fieber und Halluzinationen – und ein Ohrwurm. Später berichtete Simpson, dass ihn der sanfte Singsang des alten Boney-M-Hits Brown Girl In The Ring ununterbrochen begleitete. Fieber und Wahn und Shalalalala vermengten sich zu einem Höllenohrwurm, der ihn den Berg hinuntertrieb, der Rettung entgegen.
Von da ist es nicht mehr weit zu den pathologischen Ohrwürmern: Manche Menschen leiden unter sogenannten akustischen Halluzinosen. Ich weiß: Wenn mich die Schlümpfe plagen oder Live Is Life, dann wird das irgendwann wieder vorbei sein. Nervig, aber nicht weiter beängstigend. Bei Menschen mit beginnender Demenz dagegen hört das unter Umständen nicht mehr auf. Der Musikphysiologe Altenmüller sagt: »Besonders schlimm kann es werden, wenn solche Menschen schlecht hören. Da gibt es tatsächlich eine Verselbstständigung von Ohrwürmern, weil nicht genug Input von außen kommt. Das Gehirn produziert für sich selbst Musik, es bleibt auf den immer gleichen Liedern hängen. Eine Art Phantomschmerz.«
DIE GANZE WAHRHEIT
Mit dem einen Satz benennt der Musikmediziner Eckart Altenmüller möglicherweise das ganze große Geheimnis des Ohrwurms: Das Gehirn produziert für sich selbst Musik. Altenmüller erklärt: »Ein Ohrwurm ist eine Form von Dauerzyklus. Eine Erregungsschleife zwischen dem inneren Hören und dem inneren Singen.« Dazu muss man wissen, wie das Gehirn aufgebaut ist: Einfach gesagt gibt es links das Gesangszentrum und rechts das akustische Gedächtnis. Die Theorie des Neurologen besagt, dass die eine Hirnhälfte der anderen etwas vorsingt. Und deren Reaktion regt sie wiederum zum Weitersingen an. Eine endlose Rückkopplung.
Altenmüller ist zuversichtlich, dass da irgendwo auch die Lösung steckt. »Normalerweise lassen sich solche Schleifen am ehesten unterbrechen, indem wir uns auf etwas anderes konzentrieren. Und genau da könnte man technisch eingreifen. Mithilfe der Magnetstimulation könnte man diesen Loop unterbrechen.« Das würde bedeuten: Wer seit Tagen YMCA vor sich hin summt, geht einfach zum Arzt und setzt seinen Kopf ein paar starken Magnetfeldern aus, die das Gehirn so beeinflussen, dass es die Schleife unterbricht. Klingt gut, oder?
GUT, VERSTANDEN. ABER WARUM LEIDEN WIR ÜBERHAUPT?
Wenn die eine Hälfte meines Gehirns der anderen was vorsingt – warum singt sie dann nicht einfach etwas, was ich mag? Ein Lied von den Specials? Ein Chopin-Prélude? Ich höre so gut wie nie Radio, das Argument mit der Häufigkeit haut also nicht ganz hin.
Dazu eine These aus der Neurologie:
Musik, die wir nicht mögen, verhakt sich besser, weil sie unsere Aufmerksamkeit fordert. Lieder, die wir mögen, fließen einfach so angenehm durch uns durch. Aber Musik, die uns nervt, meldet sich aggressiv in unserem auditiven Gedächtnis.
Und eine aus der Kognitionspsychologie:
Unser Unterbewusstsein versucht, die Lieder gewissermaßen fertigzusingen. Wir haben einen kurzen Schnipsel im Kopf und wollen das Lied vervollständigen. Bei unseren Lieblingsliedern ist das kein Problem, einmal durchgesungen, fertig. Aber bei Liedern, die wir nicht so gut kennen, bleiben wir endlos an einer Zeile hängen – weil wir nicht wissen, wie die nächste geht.
LIEDER, DIE MAN NIE MEHR LOSWIRD, TEIL 4
Sex bomb sex bomb
you’re a sex bomb you can give it to me
when I need to come along
sex bomb sex bomb
you’re my sex bomb and baby
you can turn me on
Tom Jones: »Sex Bomb«
WAS TUN?
Die BBC hat im März eine Umfrage durchgeführt, um zu erfahren, wie Menschen ihre Ohrwürmer bekämpfen. Hier die schönsten Ergebnisse (garantiert nicht wissenschaftlich belegbar):
»Ich versuche mir das Lied als Platte auf einem Plattenspieler vorzustellen. Ich nehme im Geiste die Nadel von der Platte und drehe den Tonarm zur Seite. Meistens hört dann der Song auf.«
Robert Graeme, Wales
»Ich arbeite in Singapur und habe immer wieder Ohrwürmer, deren Text ich nicht mal verstehe. Mir hilft am besten: sehr komplizierte Rechenaufgaben im Kopf lösen.«
Paula Robinson, Singapur
»Schreiben Sie die Wörter des Songtexts rückwärts auf und singen Sie sie. All My Loving von den Beatles wird dann ›lla ym gnivol I lliw evig ot ouy‹. Das bringt das Gehirn durcheinander und sofort herrscht Ruhe.«
William Van Duyn, Kanada
»Ich singe den Song so, als stünde ich auf einer Bühne. Ich schmettere ein richtig pathetisches Ende – und hoffe, dass es wirklich das Ende ist.«
Judy Tiller, USA
»Ich praktiziere seit mehr als 20 Jahren Meditation. Wenn ich meine innere Stille kultiviere, ist es ganz leicht, den Ohrwurm auszulöschen.«
Mike McGarry, USA
NEIN, JETZT MAL IM ERNST
Schon klar, die Tipps der BBC-Zuschauer führen nicht weiter. Und man will ja auch nicht zweimal die Woche zur Magnettherapie rennen, weil einem gerade die Schlümpfe im Kopf rumspuken. Aber was könnte sonst noch helfen? Was rät die Fachwelt?
– Es ist zwecklos, an etwas anderes zu denken. Einen Ohrwurm durch Konzentration loszuwerden, das funktioniert natürlich nicht. Ein alter Spaß unter Kognitionspsychologen geht so: Denken Sie jetzt nicht an einen rosa Elefanten. Und? Eben.
– Es gibt Fachleute, die auf Gegenohrwürmer schwören. Der Vorteil: Wenn das Lied stark genug ist, kann es den Ohrwurm tatsächlich verdrängen. Nachteil: Sehr wahrscheinlich wird es einfach selbst zum Ohrwurm. Die Website unhearit.com bietet Geplagten an, sie nach genau diesem Prinzip von ihrem Leid zu erlösen. Ich empfehle aber: nicht anklicken (Ich habe den Fehler gerade gemacht. Seitdem: Time After Time von Cindy Lauper. Ununterbrochen!).
– Manche Experten empfehlen, das Lied einfach einmal konzentriert in der Originalaufnahme anzuhören. Bis zum Schlussakkord. Immerhin besteht die Chance, dass dann die auditive Seite im Gehirn fürs Erste gesättigt ist. Aber was, wenn die verdammte linke Hirnhälfte dann doch wieder von selbst anfängt, der rechten was vorzusingen?
– Hilfreich könnte der Tipp einer amerikanischen Psychologin sein, die empfiehlt, nach verborgenen Zusammenhängen zu suchen: Wenn der Ohrwurm tatsächlich, wie schon Freud fand, Ausdruck eines unterdrückten Wunsches ist, dann müsste man vielleicht nur den Wunsch klar benennen – und wäre den Ohrwurm los. Aber so ein Ohrwurm kann ja nicht immer für irgendwas stehen. Ich habe zum Beispiel häufig einen, auf den ich mir gar keinen Reim machen kann: die Melodie der DDR-Hymne – mit dem Text von Schillers Glocke. Probieren Sie es mal aus: Passt exakt aufeinander. »Festgemauert in der Erden / steht die Form aus Leeeeehm gebrannt.« Irgendwann, vor Monaten, hat sich das in meinem Kopf festgesetzt, aus heiterem Himmel, wie von Aliens eingepflanzt. Ich will nicht jammern, aber manchmal kommt man sich mit so einem Ohrwurm vor wie von fremden Mächten ferngesteuert. Zum Glück beruhigt mich der Musikphysiologe Altenmüller: Er sagt, die Text/Melodie-Mischung sei medizinisch gesehen völlig unbedenklich.
LIEDER, DIE MAN NIE MEHR LOSWIRD, TEIL 5
When we all give the power
We all give the best
Every minute of an hour
Don’t think about the rest
And you all get the power
You all get the best
When everyone gets everything
And every song everybody sings
Opus: »Live Is Life«
SCHLUSSAKKORD
Also: Gegen den Ohrwurm hilft im Grunde nichts. Keine Psychotricks, keine Gegenohrwürmer. Jahre der Forschung haben nicht sehr viel mehr gebracht als den guten Rat, sich abzulenken und zu hoffen, dass er verschwindet.
Immerhin, ich habe rausgefunden, warum bei mir gerade Live Is Life so oft zum Ohrwurm wird: Das Lied fällt mir jedes Mal ein, wenn ich eine Tautologie höre. Gestern hat ein Kollege im Büro gesagt, »Genug ist genug«, ich habe im Geiste ergänzt »nanaaa nanana«. Neulich meinte eine Freundin, »Neu ist neu« – ich dachte, »nanaaa nanana«. Funktioniert jedes Mal. Leider. Macht mich wahn-sin-nig. Aber es beruhigt mich ein bisschen, dass ich weiß, woher es kommt.
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