Neue Bayern braucht das Land

Gerhard Polt, Helmut Dietl und Sepp Bierbichler haben bayerische Subkultur salonfähig gemacht. Hier kommt endlich die nächste Generation.

Gäbe es das kleine Dorf Baierbach nicht, dann müsste man es erfinden. Im Chiemgau liegt es, direkt am Simssee, gleich hinter Riedering, was wiederum gleich hinter Rosenheim kommt. Baierbach ist ein kleiner Weiler mit Bauernhäusern und Stadln und sieht aus, als habe ein Berliner Drehbuchautor sich diesen Fleck Erde für eine Vorabendserie ausgedacht – für eine Geschichte, in der es um Bayern geht und um den Maxi vom Trachtenverein, der bei der Blasmusik die Tuba spielt.

Baierbach ist aber keine Erfindung und den Maxi mit der Tuba gibt es auch, bloß dass der jetzt seltener dazu kommt, mit seinen Brüdern und den Spezln von den »Jungen Riederinger Musikanten« zusammen-zuspielen. Der Maxi ist zurzeit halt viel unterwegs. Wie das so ist, wenn man auf der Berlinale zum »European Shooting Star 2007« gewählt worden ist, in Saarbrücken den Tatort-Kommissar Franz Kappl spielt oder im Frühjahr eher als gedacht nach Japan fliegen muss, weil die Kirschblüte heuer früher einsetzte und Doris Dörrie dort ihren neuen Film mit dem Maxi dreht, der eben Kirschblüten heißt. Und da wär’s ja blöd gewesen, wenn die ganzen Blüten schon welk sind, bis man ankommt. Der blond gelockte Maximilian Brückner, 28, ist also ein gefragter Schauspieler. Aber er ist auch ein Vertreter jener Generation junger Bayern, die gerade Furore macht in der Kulturszene der Republik. Marcus H. Rosenmüller, 33, gehört dazu, dessen erster Kinofilm Wer früher stirbt ist länger tot mit mehr als 1,5 Millionen Zuschauern im Jahr 2006 der große Überraschungserfolg des deutschen Kinos war. Den Nachfolger Schwere Jungs haben inzwischen auch schon eine gute halbe Million gesehen.

Oder Christian Stückl, mit 45 der älteste unter den Neuen Wilden, der die Eröffnungsfeier der Fußball-WM ebenso inszeniert wie einen Shakespeare in Indien, den Jedermann in Salzburg, eine Oper in Köln oder die Geierwally am Münchner Volkstheater, das er seit fünf Jahren als Intendant leitet. Und beispielsweise auch Stephan Zinner, 32, der nach einigen Jahren als Ensemblemitglied an den Münchner Kammerspielen am Nockherberg beim Starkbieranstich den Markus Söder gab, gestern in Ralf Westhoffs Film Shoppen als suchender Single sein Kinodebüt hatte und mit seiner Band, den Hurricans, oder auch solo als Kabarettist gerade eine neue, vielversprechende Karriere begonnen hat.

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Nach Achternbusch, Polt, Kroetz und Ringsgwandl kommt, zwanzig, dreißig Jahre später, nun wieder eine neue Bewegung aus Bayern, die ganz typisch ist für dieses Bundesland. Aber sie ist auch ganz anders als damals, sie geht viel unbekümmerter und selbstverständlicher mit dem Dialekt und der Tradition um. Nicht aus Prinzip – sondern weil’s einfach ein unersetzlicher Teil der eigenen Identität ist, wenn man aus der sogenannten Provinz kommt.

Wie der Chiemgauer Brückner oder Rosenmüller, der sich im Abspann seines Erstlingsfilms gar mit dem zweiten Vornamen »Hausham« nach seinem Heimatort nennt und noch immer für den Ortsteil Agatharied im Haushamer Gemeinderat sitzt und Kommunalpolitik macht. Oder wie Zinner, der aus dem oberbayerischen Trostberg stammt – einer Stadt, von der man sich als durchfahrender Autofahrer nicht leicht erklären kann, wie sie zu diesem Namen gekommen ist, weil sie auf den ersten Blick so trostlos wirkt.

Die drei schauen ganz verwundert, spricht man sie auf ihren sorglosen Umgang mit den bayerischen Wurzeln an – ja, warum sollte es denn überhaupt anders sein?! Brückner erinnert sich an die Aufnahmeprüfung an der Otto Falckenberg Schule. Eigentlich hatte er ja Arzt werden wollen, aber die Mutter hat ihn überredet, sich zu bewerben und ihm fünfzig Euro für die Fahrt nach München gegeben. Beim Vorsprechen hat er dann den Monolog des Riederinger Krippenspiels im Dialekt vorgetragen: »Ausglacht ham’s mich alle, die anderen Mitbewerber. Aber wahrscheinlich bin ich grad deswegen gnommen worden, zwengs dem Bairisch!«

Christian Stückl hat eine ähnliche Geschichte parat. Als er 1987 als Regisseur eines Laientheaters entdeckt wurde, luden ihn die Kammerspiele zum Vorstellungsgespräch ein. Man hat sich dann unterhalten, und der damalige künstlerische Direktor des Hauses, Michael Wachsmann, hat ihn nach einer Viertelstunde etwas ratlos gefragt: »Herr Stückl, glauben Sie denn, Sie können sich unseren Schauspielern auch in norddeutscher Sprache verständlich machen?« Es war dann aber doch nicht notwendig und Stückl spricht noch immer ausschließlich den Oberammergauer Heimat-dialekt: »I bin ja aa koa Schauspieler, da muas i ned Hochdeutsch reden.«

Stückl ist aber auch der Einzige in diesem Quartett der Neuen Wilden, der sich noch an die Zeiten erinnern kann, als jugendliche Revoluzzer »Stoppt Strauß«-Plaketten trugen und ein Bekenntnis zu Bayern in weiten Kreisen als intellektuell bedenklich galt. Es herrschte damals, in den Siebziger- und Achtzigerjahren, so erscheint es rückblickend, eine Art Weißbier- und Weihrauch-Stalinismus mit entsprechendem Personenkult, ganz zugeschnitten auf den großen Vorsitzenden der CSU.

In diesen Zeiten gab es die erste bayerische Kulturrevolution, die bundesweit Aufsehen erregte. Der Passauer Sigi Zimmerschied sezierte die Befindlichkeiten des (nieder-)bayerischen Spießers, bis dahinter ein ganz alltäglicher Faschist auftauchte; Georg Ringsgwandl bot vogelwildes Rock-Kabarett; der Schauspieler Sepp Bierbichler schimpfte von der Bühne des Residenztheaters auf die Staatsregierung herunter, weshalb der damalige Schauspiel-direktor Frank Baumbauer seinen Hut nehmen musste. Herbert Achternbusch bekam die Filmförderung gestrichen, weil er mit Das Gespenst einen Jesus-Film gedreht hatte, den der schwarze Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann für eine blasphemische Sauerei hielt. In Dieter Hildebrandts Scheibenwischer brachten jahrelang Gerhard Polt und die Biermösl Blosn den Bayerischen Rundfunk derart zur Raserei, dass er sich bei einer Folge aus dem ARD-Verbund ausschaltete.

Längst vergangene Zeiten sind das. Heute stehen Stücke von Polt und Ringsgwandl ganz unangefochten auf dem Spielplan des Bayerischen Staatsschauspiels, und Karten dafür bekommt man nur mit viel Glück. Wenn die einstigen Nestbeschmutzer irgendeinen Kulturpreis des Freistaats Bayern noch nicht bekommen haben sollten, so muss es sich dabei gewiss um ein Versehen handeln. Und wenn Achternbusch im kommenden Jahr siebzig wird, erhält er wohl den Bayerischen Verdienstorden und wird zum Staatsfilmer ernannt.

Für die Neuen Wilden ist das nicht weiter erstaunlich. Für sie sind diese Namen längst Teil des bayerischen Kulturkanons. Brückner nennt Polt, der nächste Woche 65 wird, als Vorbild, Zinner hat gar eine Ringsgwandl-Nummer in seinem Solo-Programm, und wie er Geschichten immer noch einen Tick weiterdreht, bis der Aberwitz aufscheint, erinnert bisweilen an den älteren Kollegen. Marcus H. Rosenmüller wiederum sieht sich künstlerisch sozialisiert durch Fernsehserien wie Irgendwie und Sowieso von Franz Xaver Bogner oder die Münchner Geschichten von Helmut Dietl: »Das hat bei uns in Hausham damals jeder gesehen, bestimmte Dialoge konnten wir alle auswendig hersagen.«

Freilich – das sind nur ein paar Einflüsse unter vielen anderen, und wahrscheinlich macht das den Erfolg auch nördlich des Mains aus. Rosenmüllers Dialektkomödie Wer früher stirbt ist länger tot bedient sich bei vielen Genres, zitiert mal den britischen Horrorfilm der Sechzigerjahre, vereint Slapstick à la Jerry Lewis mit Hitchcock-Suspense und Rockmusik und lässt bei aller Komik auch Platz für große Gefühle. Dem professionellen Filmkritiker erscheint so etwas meist verwerflich oder wenigstens doch unentschlossen. Aber es trifft offensichtlich genau den Nerv einer Zeit, in der dem Einzelnen die große, weite Welt immer näher auf den Pelz rückt – am Arbeitsplatz, im Internet, vor dem Fernseher – und er diese ganzen vielen Eindrücke mit einer Sehnsucht nach der überschaubaren kleinen Welt um ihn herum in Einklang bringen möchte.

Und tatsächlich ist das globale Dorf ja auch in Bayern längst Wirklichkeit. Heute kann man Ökobauer sein und für die CSU im Gemeinderat sitzen, man kann sich gleichzeitig in der Anti-Mobilfunk-Initiative engagieren und im Katholischen Jungfrauenbund. Ein Jugendlicher auf dem Land ist tagsüber vielleicht als Grufti unterwegs oder hört Death Metal, er ist aber auch Mitglied im Burschenverein, und zum Maibaumaufstellen erscheint er ganz selbstverständlich in der heimischen Tracht. Wenn auch mit Augenbrauen-Piercing.

Christian Stückl fand es schon immer spannend, die unterschiedlichen Welten zusammenzubringen. Gern erzählt er die Geschichte von der WM-Eröffnungsfeier in der Münchner Allianz Arena, wo er Schuhplattler mit Hip-Hoppern aus Berlin zusammen-spannte und die Trachtler erst mal skeptisch fragten: »Wos solln wir jetzt da machen mit die Neger?« Oder er erinnert sich an seinen südindischen Sommernachtstraum, den er 1995 aus Mysore auch nach Bayern holte: »Des war ned schlecht«, sagt er, »am Schluss haben dann die Inder mit den Dörflern im Festzelt auf dem Tisch getanzt.«

Dass bayerische Folklore und Weltläufigkeit, künstlerischer Anspruch und Unterhaltung zusammenpassen, weiß Stückl schon lange. Er stammt ja auch aus Oberammergau, und das ist ein Ort mit großem künstlerischen Selbstbewusstsein, nicht zuletzt wegen seiner berühmten Passionsspiele. Zweimal schon war Stückl deren Oberspielleiter und hat das Massenspektakel behutsam modernisiert. So wie er auf der anderen Seite, etwa an den Kammerspielen, sperrige Texte von Werner Schwab oder Bernard-Marie Koltès mit frisch-naiver Spielfreude anreicherte.

Seine Intendanz am Volkstheater begann er mit Shakespeares blutrünstiger Tragödie Titus Andronicus, vergaß aber gleichwohl nicht das bayerische Element. Wobei wiederum Maximilian Brückner eine wichtige Rolle spielt, denn den hat Stückl bei einem Workshop an der Otto Falckenberg Schule entdeckt und mit ihm die Jungen Riederinger Musikanten, die seitdem immer wieder in Volkstheater-Inszenierungen zum Einsatz kommen. Doch selbst wenn sie eine vermeintlich abgenudelte Komödie wie den Brandner Kaspar, die zuvor fast dreißig Jahre lang am Staatstheater gelaufen war, neu auf die Bühne bringen, zeigt sich da-bei Kosmopolitisches.

Brückner spielt darin den »Boandlkramer«, also den personifizierten Tod, eine körperlich enorm fordernde Rolle, in der er daherkommt wie eine Mischung aus Marilyn Manson und Pumuckl auf Ecstasy. Ende April ist die 100. Vorstellung gelaufen und im November war das Volkstheater mit diesem Stück auf Tournee, in Brasilien. »Und auch da hat’s funktioniert«, sagt Stückl, »mit portugiesischen Übertiteln halt.«

Der Brückner Maxi aber ist in Rio de Janeiro zum Bergsteigen gegangen. Auf den Zuckerhut, und zwar in der Lederhose. Und davor war er an der Copacabana Wellenreiten gewesen, so wie er daheim am Simssee in der Früh gern zum Schwimmen geht. So viel anders als daheim ist es draußen in der Welt nun auch wieder nicht.

Halt, doch, eines schon: »Dahoam is denen völlig wurscht, ob ich grad einen Tatort gedreht hab. Die reden mich immer noch genau so saublöd an wie früher.« Da grinst er dann, der Brückner Maxi, und man weiß, warum ihm seine bayerischen Wurzeln so wichtig sind: Die bleiben halt, selbst wenn der Erfolg mal wieder gehen sollte.