Schon als Kind habe ich viel gezeichnet. Später im Studium – ich bin Biologe mit Schwerpunkt Artenvielfaltsforschung – gehörte der Malkasten ebenfalls dazu. Für meine Doktorarbeit war ich monatelang in verschiedenen Ländern Südamerikas unterwegs und habe dort eine Pflanzengattung namens »Bomarea« untersucht, eine sehr vielfältige Gruppe von Pflanzen, deren einzelne Arten im Hochgebirge und im Tiefland vorkommen, zehn Meter oder nur fünf Zentimeter hoch wachsen können. Zwar werden Pflanzen bei der wissenschaftlichen Arbeit eher fotografiert als gezeichnet, dennoch kam es nicht selten vor, dass ich in der Wildnis von Peru vor einer Pflanze saß und sie abgemalt habe. Aus einem einfachen Grund: Man schaut exakter als sonst. Versuchen Sie mal, etwas abzumalen – Sie werden merken, dass Sie das Objekt so genau betrachten wie nie zuvor. Damals habe ich erkannt, dass das Zeichnen ein Weg sein kann, um zu erkennen, wie die Dinge wirklich sind.
Inzwischen habe ich leider nur noch selten Zeit dafür. Umso mehr Spaß hat es mir gemacht, mit Wasserfarben fünf bedrohte Alpenblumen fürs SZ-Magazin zu malen. Meine Vorlage waren Fotos, die ich selbst bei diversen Wanderungen gemacht hatte. Zwar sind alle diese Blumen gefährdet, aber wenn man zur richtigen Jahreszeit unterwegs ist und weiß, wo man schauen muss, kann man sie noch finden. Ich bewundere die exakte Abbildungskunst der Pflanzenmaler früherer Epochen und besitze etliche Bildbände mit alten botanischen Tafeln. Was ich hier gemacht habe, ist im Vergleich dazu eher naive Malerei, bei der es mir vor allem um die Schönheit dieser fünf Blumen ging.
Daneben erzählen die Bilder aber auch eine Geschichte über den Wandel unseres Ökosystems. Die Blumen, die ich gemalt habe, sehen wir heute als Bergblumen an. Das war aber nicht immer so. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren sie alle im Flachland zu finden – und überhaupt nicht selten. Der Frühlings-Enzian hat früher in Sauerlach südlich von München, wo ich herkomme, neben den Bahngleisen geblüht. Mein Vater kann sich noch daran erinnern. Für die Mehlprimel und die anderen gilt dasselbe: alles einstige Allerweltsblumen, die aus dem Flachland verdrängt wurden und sich nun nur noch im ökologischen Rückzugsraum des Gebirges halten können. Und selbst da sind sie in Gefahr.
Leider steht es sehr schlecht um die Artenvielfalt in Deutschland. Je nachdem, wie man rechnet, sind ein Drittel bis die Hälfte aller Tier- und Pflanzenarten bedroht. Bei manchen Vogelarten haben wir Bestandsverluste von siebzig, achtzig oder neunzig Prozent. Inzwischen ist der Rückgang so massiv, dass er nicht nur Experten auffällt, sondern auch vielen Menschen im Alltag. Weil kaum noch Bienen oder Schmetterlinge in den Garten kommen. Oder weil dort, wo vor ein paar Jahren noch eine Blumenwiese war, jetzt allenfalls noch ein Löwenzahn blüht.
Trotzdem gibt es immer noch etliche Leute, die meinen, ein paar Blumenarten mehr oder weniger seien egal, was brauche uns das schon zu kümmern. Dabei geht es nicht um ein paar Blumen. Man kann sich unser Ökosystem als ein dicht geknüpftes Netz vorstellen. Dieses Netz trägt uns und ist in vielerlei Hinsicht die Grundlage unserer gesamten Lebensweise – zum Beispiel weil es uns überhaupt erst möglich macht, Ackerbau zu betreiben und uns zu ernähren. Die einzelnen Tier- und Pflanzenarten sind die Knoten des Netzes. Mit jeder Art, die wir ausrotten, schneiden wir einen Knoten raus. Wenn wir zu viele Knoten rausschneiden, reißt das Netz.
Um die Artenvielfalt in Deutschland zu verbessern, wären vor allem drei Dinge nötig. Zum ersten müssen wir weg von der industriellen Landwirtschaft mit ihrem massiven Einsatz von Dünger und Pestiziden. Zweitens müssen wir unsere Wälder besser schützen und anders bewirtschaften. Statistisch gesehen gibt es viel Wald in Deutschland, aber nur ein einstelliger Prozentsatz davon sind artenreiche Naturwälder; beim gesamten Rest handelt es sich eher um Holzplantagen, artenarm und anfällig für Schädlinge und Waldbrand. Und die dritte Maßnahme wäre eine andere Verkehrspolitik. Wir haben bereits, neben Holland, das dichteste Straßennetz von allen Flächenländern weltweit. Trotzdem bauen wir weiter und weiter. Der Flächenverbrauch und der Zerschneidungseffekt, den viele Straßen verur-sachen, tragen massiv zum Artensterben bei.
Wenn sich da nichts tut, wird es ganz eng für uns. Dann haben wir irgendwann unsere eigene Lebensgrundlage zerstört.