Als plötzlich Hunderte Papageien aus einem Baum nahe seiner Wohnung im Tokioter Stadtteil Setagaya mit schrillen Schreien in den Abendhimmel flogen, fühlte sich der Fotograf Yoshinori Mizutani wie in einem Horrorfilm. »Ich musste an Die Vögel von Alfred Hitchcock denken – es war sehr gruselig«, sagt Mizutani. Die grünen Vögel mit den leuchtend roten Schnäbeln wirkten in der Großstadt deplatziert und in ihrer Masse bedrohlich. Und sie warfen Fragen auf: Was machen die hier? Und: Wo wollen die alle hin?
Der Fotograf begann zu recherchieren: Es handelt sich um Halsbandsittiche, eine Papageienart, die ursprünglich aus Indien stammt. Sie sind harmlos und kommen dem Menschen nur zu nahe, wenn sie bei ihm etwas Essbares vermuten. Nach Japan kamen die Vögel in den Sechzigerjahren, als die Haltung von Haustieren modern wurde; für Stadtbewohner schienen sie perfekt geeignet: Durch ihre grelle Farbe wirken sie dekorativ wie ein lebender Blumenstrauß, ihre Nahrung aus Samen, Früchten und Blüten ist auch für Menschen zu beschaffen, die sich ungern in Zoogeschäften aufhalten.
Doch weil die Tiere sehr laut werden können und sich Moden bekanntlich ändern, fanden sich einige Papageien bald ausgesetzt in der freien Wildbahn Tokios wieder. So wurden sie zu etwas, was Biologen Neobiota nennen: Arten, die in eine fremde Umgebung eingeschleppt wurden und sich dort rasch ausbreiten. Eine Folge der Globalisierung, die sich vielerorts auf der Welt beobachten lässt.
Die ausgesetzten Papageien fanden in Tokio ideale Bedingungen: angenehmes Klima, Samen und Früchte überall, kaum natürliche Feinde. So wurde aus den früheren Deko-Vögeln ein Schwarm von Tausenden. Der Fotograf Mizutani hat sie über Monate beobachtet und Bilder gemacht. Warum? »Ich bin fasziniert von den Vögeln, denn sie gehören eigentlich nicht hierher und sind trotzdem da«, sagt er. Ihr Zuhause ist ein riesiger Ginkgo-Baum auf dem Campus der Technischen Hochschule. Die Sittiche haben sich sehr gut an ihre Umgebung angepasst, sie kennen stille Ecken der Stadt, an denen sie brüten können, sie haben Geschmack an Kirschblüten gefunden und für ihren Wohnbaum eine Arbeitsteilung etabliert: Während manche Vögel schlafen, halten andere Ausschau nach Gefahren. Nähert sich eine potenzielle Bedrohung, schlagen sie Alarm – und alle Vögel rauschen in den Himmel.
Auf uns Menschen wirken die Tiere vielleicht auch deshalb so berührend, weil wir ihre Lage kennen: Keine Ahnung, wie wir in dieses Chaos aus Beton, Autos, Fußgängern und Leuchtreklamen geraten sind – aber wo wir schon mal da sind, machen wir mal das Beste draus.
Fotos: Yoshinori Mizutani