Man ist nur so lange überzeugt davon, genau zu wissen, wie etwas aussieht, bis man den Versuch unternimmt, es zu zeichnen. Dann sitzt man vor dem Blatt Papier, und die Striche und Formen, die man mit dem Bleistift über das Weiß zieht, wollen einfach nicht erfassen, was man so eindeutig im Kopf oder vor sich hat. Die Abstände wirken unstimmig, die Proportionen falsch, die Details zu universell.
Wer etwas zeichnen will, muss sehr gut hinschauen, sich jede Linie und jeden Schnörkel sorgfältig einprägen. Bewegungen machen das Vorhaben noch komplizierter, ein Wackeln und ein Windstoß reichen, um Skizzen durcheinanderzubringen. Erfasst hat man am Ende ohnehin nur einen Moment, was atmet und wächst, kann im nächsten schon anders aussehen, und was sich nicht zeichnen lässt, ist in der Regel die Zeit.

Um einen Vogelschwarm in seiner einfachsten Form auf ein Blatt Papier zu bringen, braucht es im Allgemeinen nicht viel. Zwei kleine Bögen, und schon schmückt ein Vogel den Himmel der Zeichenlandschaft. Ob gerade ein Weißstorch oder eine Flussseeschwalbe durch die Lüfte fliegen, ist damit natürlich noch lange nicht sichtbar. Und auch die Formationen und Sturzflüge verschwinden hinter den Bleistiftstrichen.
Welche Linien würden Vögel selbst in den Himmel zeichnen? Welche Spuren würden ihre Körper in der Luft hinterlassen, wenn sie es könnten? Das fragte sich eines Tages der spanische Fotograf Xavi Bou. Also beschloss er, mit seiner Kamera jeden Moment ihrer Bewegungen einzufangen und die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft ihrer Flüge auf einmal zu zeigen. Wenn man so will, also doch eine Zeichnung der Zeit.

Eine Welt ohne Vögel wäre unvorstellbar: Das zeigen Xavi Bous Fotos, wenn er das Flugmuster von Papageientauchern auf den Äußeren Hebriden in Schottland einfängt.
»Ornithographies« heißt das Projekt, mit dem Xavi Bou die Flugbahnen von Vögeln und damit das Unsichtbare sichtbar machen möchte. Mit einer Videokamera nimmt der 45-Jährige das Treiben der Tiere in der Natur auf, filtert aus dem Material später einzelne Aufnahmen heraus und verdichtet sie am Computer so lange zu einem Werk, bis die ausgesuchten Bilder sich überlappen und die Silhouetten der Vögel verloren gehen.

Eine Armada von Tauben in Katalonien.
Was dann als Flugmuster übrig bleibt, hat mit den Umrissen der einzelnen Vögel oft nichts mehr zu tun. Mal flattern Linien um Felsen wie Bänder um Turnende, mal sperren Windungen wie Stacheldraht den Zugang zum Himmel ab. Flecken verdunkeln den Tageshimmel wie Tinte, und Bögen und Kreise geben Aufschluss über die Formen, die Vogelschwärme einnehmen, um Kraft zu sparen und sich vor Feinden zu schützen.

Küstenseeschwalben brüten bis in die Nordpolarregion hinein (dieses Foto wurde in Island aufgenommen) und überwintern im antarktischen Sommer. Wohl kein anderes Tier der Welt legt eine weitere Zugstrecke zurück.
Xavi Bou studierte erst Geologie und dann Fotografie. Für »Ornithographies« nahm er die ersten Bilder 2015 auf, lange war er vor allem als Werbe- und Modefotograf tätig. Heute ist sein Terminkalender durch die Natur vorgegeben. Seine Arbeiten sollen auch ein Aufruf sein, öfter in den Himmel zu blicken und jeden Flügelschlag ganz genau zu betrachten. Vielleicht so, als würde man planen, ihn zu zeichnen.

Ein Kiebitz zieht derweil ein einsames Muster in den schottischen Himmel.