In Bayern denkt man, wenn vom großen Vorsitzenden die Rede ist, noch immer an Franz Josef Strauß; ihm hat einst Edmund Stoiber die Aktentasche getragen. Wenn Stoiber heute Trost sucht, findet er den aber nicht bei den Worten seines Vor-Vorgängers, sondern bei den Worten eines anderen, der auch ein großer Vorsitzender war. Von Mao Tse-Tung stammt der Satz, der Stoiber durch die Krise rettet: »Nur wer keine Angst vor der Vierteilung hat, wagt es, den Kaiser vom Pferd zu zerren.« Stoibers Konkurrenten haben Angst: Innenminister Günther Beckstein hat Angst und bezeichnet sie als Fairness. Wirtschaftsminister Erwin Huber hat Angst und schwätzt von der Einheit der Partei.
Horst Seehofer hat ein schönes Amt als Bundesverbraucherminister und keine Lust mehr, sich zu überlegen, ob er Angst hat. Der Einzige, der keine Angst hätte, heißt Peter Gauweiler, aber er hat keine Chancen; Stoiber hat ihn, der die größte bayerische Polit-Begabung war, schon vor vielen Jahren vom Hofe verbannt. Jetzt verzehrt Gauweiler Neidvernichtungspillen in seiner Anwaltskanzlei am Münchner Promenadeplatz und verdient sich ein politisches Zubrot als CSU-Bundestagsabgeordneter. Das ist die Lage in der CSU. Ihr Chef, der bayerische Ministerpräsident, ist zwar in der Krise seines Lebens, aber er hat gute Chancen, sie durchzustehen. Die Herzen sind ihm nie zugeflogen, dafür fliegen ihm jetzt die Umfragewerte (die für Stoiber noch nie sehr hoch waren) wie Kanonenkugeln um die Ohren. Beckstein ist viel populärer als Stoiber, Huber ist viel lustiger, Seehofer ist gewandter, aber Stoiber ist, summa summarum, besser. Seine Fähigkeiten, die den Freistaat Bayern zum deutschen Wunderland gemacht haben, sind derzeit verdunkelt, aber nicht erloschen. Stoiber wird die Chance haben, sie noch einmal zu zeigen, weil seine derzeitigen Konkurrenten nicht erst die Vierteilung, sondern schon den Riss unter dem Fingernagel fürchten. Und so ist die Lage für Edmund Stoiber schlecht, aber nicht hoffnungslos.
Man zeigt in Deutschland mit Fingern auf ihn, seitdem er sich erst zum neuen Ludwig Erhard ausgerufen, sich aber dann aus dem Staub gemacht hatte, noch bevor er in Berlin als Wirtschaftsminister angetreten war. Stoiber floh zurück nach München, aber die Seinen nahmen ihn nicht mehr auf. Deshalb sagen die Menschen in Bayern, er habe nun nichts mehr zu lachen aber er lächelt. Doktor Stoiber lächelt so strahlend, wie es sonst nur der Doktor Blendamed im Werbefernsehen kann. Er lächelt wie zum Trotz und als wolle er allen die Zähne zeigen: den Parteifreunden, Chefredakteuren und Theaterdirektoren, den Unternehmensberatern, Vereins- und Vorstandsvorsitzenden, den Museumsleitern und Bürgermeistern.
Er lächelt für die bayerische Hautevolee, wenn sie herausgeputzt zur Besichtigung ihres angeschlagenen Ministerpräsidenten erscheint. Er lächelt für die Heuchlerinnen und Heuchler, die ihn schon abgeschrieben haben, ihm aber sagen, wie sie sich freuen, dass er in München geblieben ist. Er lächelt auch für die, die sich wünschen, dass an seiner Stelle Beckstein oder Huber zum Empfang des Ministerpräsidenten in die Residenz geladen hätten. Und er lächelt, trotzig und verlegen, für die, die ihm nun alles Gute wünschen, aber noch zehn Meter vor dem Händedruck Wetten darüber abgeschlossen haben, wie lange er »es« wohl noch macht.
Bei Großveranstaltungen wie dem Jahresempfang des Ministerpräsidenten setzt Stoiber sein Kampflächeln auf. Alle sollen es sehen: Diesmal sind in den Sälen der Münch-ner Residenz Leinwände aufgestellt worden, auf denen man das Defilee beobachten kann. Auf dem Bild sieht man nicht die lange Warteschlange, die sich vom Schwarzen Saal quer durch die Residenz bis zu den Reichen Zimmern zieht; man sieht, zwei Stunden lang, nur ein schmuckes Paar in Bedrängnis: den Ministerpräsidenten und seine Gattin Karin, vor wechselnden Hinterköpfen, beim Lächeln und Händeschütteln. Der Ministerpräsident steht da wie eine Eins, zwingt sich zu entspannter Gelassenheit; er hat dem Irrwisch in sich an diesem Abend Fesseln angelegt.
Aber bei beiden spürt man die innere Unruhe: Karin Stoiber, bewundernswert gefasst und zugewandt, streicht immerzu mit dem linken Zeigefinger ihren Daumen. Und Edmund Stoibers Blick springt, kaum steht der eine Gast vor ihm, schon auf den jeweils nächsten gerade so, als warte er auf einen, der nicht kommt, der ihm aber eigentlich die Ernennungsurkunde für die nächsten dreißig Jahre überbringen sollte. Und schließlich flieht sein Blick weg von den Gästen, wahrscheinlich dahin, wo die nach seinem Dafürhalten richtige Arbeit auf ihn wartet die neuen Gesetze, die neuen Reformen, die Bayern noch schöner und noch moderner machen sollen.
Von Strauß hat Stoiber viel gelernt, auch, dass man sich nicht von Stimmungen abhängig machen darf, »die ja heute noch schneller wechseln als damals; heute Pfui, morgen Hui«. So sagt er es, aber man sieht ihm dabei an, wie es in ihm arbeitet, man hört beinah den inneren Monolog, der davon handelt, wie er es allen noch zeigen wird. Es ist dies ein Monolog, den er öffentlich nie so preisgeben würde, den man sich aber nach Gesprächen mit ihm und seinen Vertrauten gut ausmalen kann:
»Ob die denn wirklich alle glauben, dass ich schon alt und matt geworden bin? Sollen die mich doch anschauen: Sieht so einer aus, der aufhören soll, so voll im Saft, so leistungsfähig bis zum Umfallen? Die reden sich leicht, die haben nicht so viel Wahlkampf machen müssen, die waren nicht Kanzlerkandidat, die haben nicht an der Nord- und der Ostsee rumturnen und Krabben schälen müssen. Da ist Bayern zwangsläufig ein wenig zu kurz gekommen. Aber ich hab rechtzeitig gemerkt, dass Brüssel und Berlin nicht das Richtige für mich sind und die hier werden auch noch merken, wie wichtig ich als Ministerpräsident für sie bin.«
Stoiber giert nach Zuneigung, und je weiter sie weg ist, umso mehr rennt er ihr nach. Andere können arbeiten, er kann sich zerreißen: Wenn es nicht reicht, dasser, wie bisher, mit hundert CSU-Ortsvorsitzenden im Jahr spricht, dann müssen es eben jetzt tausend sein. Und wenn es spät wird in Wildbad Kreuth und um ihn herum dann die sitzen, denen er traut, dann gesteht er, dass auch er nicht das ewige Leben habe und nicht unersetzlich sei »aber derzeit schon«.
Er kennt seinen Wert, selbst wenn der im Augenblick vor allem darin besteht, dass der Unsicherheitsfaktor eines Putsches gegen Stoiber höher ist als der Unsicherheitsfaktor Stoiber. Hochgefährlich würde es für ihn dann, wenn die SPD in den Umfragen zunähme. Aber in Bayern schaut es so aus, als ob die CSU ganz vom Erdboden verschwinden könnte, und die SPD selbst dann kein einziges Prozent gewönne. Das ist nicht Stoibers Verdienst, aber sein Vorteil. Und so kann Stoiber bei seinem Mantra bleiben: »Das Land braucht mich. Das Land braucht mich.«
Stoiber wartet darauf, dass die anderen seine Sicht der Dinge so schnell teilen, wie er das bisher in seinen zwölf Ministerpräsidenten-Jahren gewohnt war. Da war es in Bayern fast so wie in Rom zu Zeiten des Kaisers Caligula, dem die Leute auch dann noch Beifall klatschten, wenn er sein Pferd zum Konsul machte. Weil das mit dem Beifall aber diesmal länger dauert, erinnert Stoiber bei guter Gelegenheit schon einmal daran, wer die Partei wiederbelebt hat, als sie in der Zeit nach Strauß und Streibl in den Umfragen auf, um Gottes willen, 39 Prozent gefallen war.
»Und da wollen die mir nicht zutrauen, mich selbst wiederzubeleben und eine kleine Scharte auszuwetzen? Wer, wenn nicht ich, kann dafür sorgen, dass Bayern die Stürme der Globalisierung gut übersteht und ein Sozialstaat bleibt? Es ist noch so viel zu tun, bevor ich aufhören kann.«
So monologisiert einer, der keine Energiekrise in sich spürt. So redet einer, der in Bayern alles gewonnen hat, was er gewinnen konnte: die CSU, die Wahlen, die Zweidrittelmehrheit, die Anerkennung von Arbeitgebern ebenso wie von Gewerkschaften. So redet einer, der nicht merken will, dass das gerade alles zerrinnt. Es ist dies wohl auch schwer zu bemerken für einen, dem es bisher nichts geschadet hatte, wenn es Misserfolge gab im weiß-blauen Paradies: Da waren der Konkurs von Kirch, die Pleiten bei Dornier und bei der Maxhütte, das Arbeitslosendesaster in Oberfranken. Wenn seinem Vorgänger Max Streibl das passiert wäre, dann hätte es geheißen: Der kann es halt nicht. Bei Stoiber hieß es lange: Wenn selbst der es nicht kann, dann kann es keiner.
Stoiber verkennt, dass er selbst seinen Nimbus zerstört, dass er den bayerischen Stolz verletzt hat. Was soll man von einem halten, der EU-Kommissionspräsident hätte werden können oder Bundespräsident, der beinah Kanzler geworden wäre und dann der Superminister werden wollte sich aber nicht getraut hat? Was soll man von einem Mann halten, der immer Sporen trägt, aber selten reitet? Da hilft es nicht viel, wenn dieser Stoiber, mit noch mehr Leidenschaft als früher, den Helden der Arbeit gibt. Dass er arbeiten kann, wissen die Leute; sie haben ihm nicht deswegen das Vertrauen entzogen. Die Arbeit, die der Exzessivjurist Edmund Stoiber jetzt leisten müsste, kann er aber am wenigsten: Beziehungsarbeit. Es geht dabei nicht so sehr um die Beziehung zwischen ihm und den politischen Profis, sondern um die zur Bevölkerung; solange er deren Vertrauen nicht wiedergewinnt, wird es in der Fraktion und in der Partei nicht ruhig werden. Solange ist er ein Ministerpräsident auf Bewährung.
Stoiber unterschätzt seine Maläse, weil er sie auf seinen Zöger- und Zauder-Sommer bezieht. Aber die Stoibersche Erosion hat lange vor dem Sommer 2005 angefangen. Der Beginn lässt sich genau datieren: Es war die Regierungserklärung nach dem traumhaften Wahlsieg vom 21. September 2003. Damals hat Stoiber in Bayern die Zweidrittelmehrheit gewonnen, aber die Bodenhaftung verloren. Damals begann sein Machtamok. Damals begann der Wahn, die gegen Schröder knapp verlorene Bundestagswahl von 2002 quasi nachträglich gewinnen zu wollen und Deutschland zu zeigen, welch ein Kanzler an ihm verloren gegangen sei.
Stoiber fühlte sich wie ein rechtmäßiger Thronerbe, der durch Lug und Trug von einem politischen Schlawiner, Gerhard Schröder nämlich, um den Erfolg gebracht worden war. Stoiber diktierte, ohne Rücksprache mit den Betroffenen, ohne Rückversicherung in der Partei, Reformen ins Papier. Er tat so, als sei er König Ludwig und Graf Montgelas in einer Person und als sei Bayern noch immer eine Monarchie. Er löste alle möglichen Ämter auf, exekutierte eine rücksichtslose Spar- und Reformpolitik, stieß die Treuesten der Treuen vor den Kopf. Stoibers Landesreform war nicht rundweg falsch, aber rundweg rücksichtslos; sie beschädigte das Wurzelwerk der Partei.
Das Ur-Vertrauen von halb Bayern in die CSU und deren Parteichef ist verschwunden. Die Dominanz Stoibers in der Partei ist dahin, die Edmundokratie Vergangenheit. Aber Edmund Stoiber ist immer lernfähig gewesen. Nun will er nach dem Jahr des großen Zauderns die Offensive lernen. Stoiber spürt die eigene Angst vor der Leere nach der Politik, aber er spürt noch viel stärker die Angst seiner Konkurrenten vor dem Putsch. Diese Angst der anderen will Stoiber sich zu Nutze machen. Er wird eine Mitgliederbefragung ausrufen nach dem Motto: Wer sagt, er mache es besser als ich, der möge sich stellen.
Ein bayerischer Katholik wie Stoiber würde sich nie als Machiavellist bezeichnen. Aber wenn man bei Franz Josef Strauß gelernt hat, ist man einer. Und ein Machiavelli würde in Stoibers Situation das tun, was keiner erwartet: angreifen. In Edmund Stoiber keimt der Angriff.