»Die chinesische Kultur ist nichts anderes als ein Festessen aus Menschenfleisch, das nur den Reichen zum Genuss zubereitet wird.« Lu Xun, 1925
Lu Xun war der größte Schriftsteller, den China jemals hatte. Wenn je ein Chinese den Literaturnobelpreis verdient hätte, dann er. Er starb, zu seinem Glück, kurz bevor die kommunistische Partei 1949 an die Macht kam. Vor ein paar Jahren erschien das Kantoner Hochglanzmagazin New Weekly mit einem Holzschnitt von Lu Xun auf dem Titel. »Alles, was wir heute verfluchen möchten«, lautete die Titelzeile,
»hat Lu Xun schon verflucht.« Das ist so wahr wie tragisch. Einen Bürgerkrieg, ein kommunistisches Experiment und Dutzende von Millionen Toten später wird China noch immer von denselben Geistern verfolgt. Sie flüstern von schamloser Bereicherung, von Machtmissbrauch und Unterdrückung. Heute wie damals steht China ratlos vor denselben existenziellen Fragen: Wie soll es mit der Welt umgehen, wie mit seinen eigenen Bürgern?
Kein Zufall, dass sich das Lu-Xun-Wort von der »Menschenfresser-Gesellschaft« wie-derfand in einem chinesischen Blog, kurz nach dem Blutvergießen in Lhasa, der Hauptstadt Tibets.
China ist die Zivilisation und die Zivilisation ist China. So lehrten das die Konfuzianer. Dies war das Reich der Mitte. Das Zentrum der zivilisierten Welt. Allein durch sein Charisma ordnete der Herrscher Chinas die Welt, befriedete sein Reich und schlug die Völker an den Rändern der Welt in seinen Bann. Die Konfuzianer lehrten auch dies: »Der Herrscher sei Herrscher, der Untertan sei Untertan.« Wenn jeder seinen Platz kennt, herrscht Harmonie. Die Kommunisten haben Konfuzius einst verbrannt. Jetzt ziehen sie seine Bücher aus der kalten Asche hervor und richten ihnen Altäre ein. Im ganzen Land eröffnen konfuzianische Schulen. Die KP hat die Parole von der »harmonischen Gesellschaft« ausgegeben. Lu Xun hasste die Konfuzianer.
Wie einst mühen sich die Herrscher, ihrem Volk Tugend einzuflößen. Bei den Olympischen Spielen gehe es auch darum, meint Zhang Faqiang vom Chinesischen NOK, »die Qualität unseres Volkes zu steigern.« Das Pekinger Amt für geistige Zivilisation hat einen »Schlangesteh-Tag« eingeführt. Am Elften jedes Monats werden die Pekinger ermuntert, ordentlich anzustehen anstatt sich vorzudrängeln. Das Spucken will man ihnen austreiben. Der Pekinger »Zivilisationsindex«, meldet Professor Sha Lianxiang von der Volksuniversität erfreut, stehe im Moment bei 73,38 von 100 Punkten: »Das sind 4,32 Punkte mehr als vor einem Jahr.« Wird das reichen? Und wie hoch ist er in Zhongnanhai, jenem Teil des alten Kaiserpalastes, der seit Maos Tagen Sitz der Staats- und Parteiführer ist?
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Vielleicht hätten die Herren vom Internationalen Olympischen Komitee doch genauer hinschauen sollen, damals im Februar 2001, als sie Peking auf seine Tauglichkeit zur Olympiastadt abklopften. Tage vor der Ankunft der Inspektoren schon waren Wanderarbeiter unterwegs in der Stadt. Ihre Aufgabe: entlang der Hauptstraßen die kümmerlichen braunen Grashalme knallgrün zu sprühen. Schließlich hatte die Regierung ein »grünes Peking und grüne Spiele« versprochen. Ein weiteres Versprechen: »Wenn Sie Peking zum Gastgeber machen, dann helfen Sie der Entwicklung der Menschenrechte« (Liu Jinming, Vizepräsident des Pekinger Olympiakomitees im April 2001).
Konfuzius hatte einst auch gefordert, »die Begriffe richtigzustellen«. Dieses Anliegen ihres neuen Stichwortgebers ignorieren die Kommunisten beharrlich. Wenn sie von »Stabilität« sprechen, meinen sie ihre ewige Herrschaft. Worte wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechte leiten sich von dem Ziel ab. Das einst so großartige Peking haben sie nach der Olympiazusage komplett »umgespatelt«, wie der Schweizer Stadionbauer Jacques Herzog verblüfft ausrief: Die Altstadt wurde abgerissen und als seelenlose Kopie von Tokionewyorksingapur neu wieder aus dem Boden gestampft. »Den Charme des alten Peking pflegen«, nennen sie das im Internetauftritt der Olympiastadt Peking.
Das China der KP ist oft ein großes Trompe-l’Œil, doppelte Böden und hohle Kammern überall, vieles ist nicht, wie es scheint, und schon gar nicht, wie behauptet.
Dazu passt das großartigste Gebäude im neuen Peking, vielleicht das gewagteste Stück Architektur in ganz Asien:
der Doppelturm des holländischen Architekten Rem Kohlhaas, der dasteht, als sei ein Blitz in die Stadt gefahren. Der Bau, so der Plan, sollte gemeinsam mit dem grandiosen Olympiastadion und der eisblauen Schwimmhalle die Bilder beherrschen, die die Fernsehteams nach Hause funken. Er sollte Glanz verleihen und Moderne behaupten, wo nackte Macht und Lüge herrschen: In den Turm wird CCTV einziehen, das Staatsfernsehen.
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»Der Dalai Lama ist ein Wolf in Mönchskutte, ein Teufel mit dem Gesicht eines Menschen, aber mit dem Herzen einer Bestie.« Solche Worte schickt CCTV in alle chinesischen Wohnzimmer. Zhang Qingli, der Parteisekretär
der Autonomen Region Tibets, äußert sich nicht immer so böse. Er sagt auch: »Die kommunistische Partei ist wie Vater und Mutter zum tibetischen Volk. Das Zentralkomitee der Partei ist der wahre Buddha der Tibeter.«
Manchmal spricht der chinesische Außenminister direkt zur ausländischen Presse. Im Januar pries er die Redefreiheit in China. »Suchen Sie sich zehn Leute auf der Straße, die zu einem Polizisten gehen und die ihm zehnmal oder hundertmal ins Gesicht sagen ›Menschenrechte sind wichtiger als die Olympischen Spiele‹«, erklärte Minister Yang Jiechi: »Wenn die Leute müde werden vom langen Reden, dann wird der Polizist ihnen eine Tasse Tee anbieten.«
»Nehmen wir doch nur die Gentlemen, die täglich das Wort
›Vaterlandsliebe‹ im Mund führen und die doch zur Liebe zum Menschen nicht fähig sind.« Lu Xun, 1907
Chinesen wüssten am besten Bescheid über die Lage der Menschenrechte in China, wies das Außenministerium Kritiker zurecht. Also lassen wir Hu Jia zu Wort kommen, einen 34-jährigen Pekinger, der sich direkt an die Olympiabesucher wendet: »Wenn Sie nach Peking kommen, dann werden Sie Wolkenkratzer, breite Straßen, moderne Stadien und begeisterte Menschen vorfinden. Und das wird die Wahrheit sein, aber nicht die ganze Wahrheit, so wie Sie von einem Eisberg nur die Spitze sehen. Es wird Ihnen vielleicht entgehen, dass Blumen, Lächeln, Harmonie und Wohlstand gebaut sind auf einem Fundament von Kummer, Tränen, Haft, Folter und Blut«, schrieb Hu Jia in einem offenen Brief.
Hu Jia ist ein fröhlicher Mann mit Brille und schlaksiger Gestalt. Er ist Buddhist. Hu Jia ist zum Buddhisten geworden, als er 15 war. In der Nacht zum 4. Juni 1989 war das. Der Buddhismus lehrt, man solle keine Mücke töten. In jener Nacht zerquetschten die Panzer der Volksbefreiungsarmee Studenten und Arbeiter, die auf dem Platz des Himmlischen Friedens demonstriert hatten. Hu Jia isst kein Fleisch mehr seit jener Nacht. Er hat eben erst eine kleine Tochter bekommen, Qianci. »Wozu hat der Mensch einen Mund?«, hat Hu Jia sich gefragt. Zum Schweigen? Und wozu hat er ein Gedächtnis? Zum Vergessen auf Befehl? Hu Jia möchte nicht, dass seine Tochter so aufwächst.
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Also spricht er in seinem Brief. Und erinnert. An die Brüder Ye, die sich wehrten gegen den Abriss ihres Hauses vor den Olympischen Spielen, die verhaftet und misshandelt wurden. An den behinderten Diskuswerfer Fang Zheng, der zwei nationale Rekorde hält, den aber die Sicherheitsbehörden nicht antreten lassen bei den Paralympics 2008: weil er seine beiden Beine am 4. Juni 1989 verloren hat, unter einem Panzer. An die mehr als dreißig Journalisten und mehr als fünfzig Internetbenutzer, die wegen eines Essays oder einer E-Mail im Gefängnis sitzen. An Chinas Umerziehungslager, die Laojiao, in denen einer verschwinden kann, ohne je einen Anwalt oder ein Gericht gesehen zu haben. An die Elektroschocks, die Verbrennungen, die Insassen dort widerfahren. An die jährlich etwa 8000 Hingerichteten. China exekutiert noch immer ein Vielfaches mehr als der Rest der Welt zusammen. Nach ihrem Tod werden den Hingerichteten Organe entnommen und für Transplantationen verwendet.
»China hat den Olympischen Spielen das Motto ›Eine Welt, ein Traum‹ gegeben«, schrieb Hu Jia. »Alles, was wir wollen, ist, dass die Regierung ihre Versprechen hält.« Ende Dezember kamen zwanzig Polizisten zu Hu Jias Wohnung. Eine Tasse Tee bot ihm keiner an. Sie verhafteten ihn. Wegen »Aufrufs zum Umsturz der Staatsgewalt«. Wie sie auch Yang Chunlin den Prozess machten, weil der »Menschenrechte statt Olympischer Spiele« gefordert hatte: fünf Jahre Haft, das Urteil wurde letzte Woche verkündet – am Tag, an dem in Athen das olympische Feuer entzündet wurde. Und so hat China nun nicht nur olympische Stadien von Weltrang und olympische Hostessen mit millimetergenau vermessenem Knochenbau, es hat auch olympische Häftlinge. Und es hat die wohl jüngste politische Gefangene der Welt: Hu Jias vier Monate altes Töchterchen Qianci steht gemeinsam mit seiner Mutter seit Monaten unter Hausarrest. Ihr Wohnblock trägt den Namen »BoBo Freedom City«.
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»Und wie leicht wir doch zu Sklaven werden können und auch noch äußerst zufrieden damit sind.« Lu Xun, 1925
All das, was Hu Jia schreibt, ist längst bekannt und lässt sich vielfach nachlesen. Wie kommt es, dass die Welt das bis zu dem Blutvergießen in Tibet vergessen und verdrängt zu haben schien? Nicht nur hat Peking seine Versprechen nicht gehalten – es hat die Olympischen Spiele früh zum Anlass genommen, die Schrauben noch anzuziehen. Kein Bettler und kein Dissident, kein enteigne-ter Bauer und kein zorniger Tibeter sollte das Fest stören, das die Partei zu ihrem eigenen Ruhm ausrichten wollte. Kein Stäubchen sollte auf den glänzenden Fassaden des neuen Peking liegen, in denen sich die staunenden Gesichter der 20 000 anreisenden Journalisten spiegeln würden.
Und so steckte China im letzten Jahr wegen »Subversion« mehr als 740 Bürger in Arbeitslager und Gefängnis, doppelt so viele wie noch zwei Jahre zuvor. In Peking trat das »Zentralkomitee für die umfassende Steuerung der öffentlichen Sicherheit« zusammen und erteilte Polizei und Geheimdiensten einen Marschbefehl für die sechs Monate von März bis September: »Konflikte, Chaos und Aktivitäten gegen die öffentliche Ordnung« seien auszumerzen. Stabil nämlich sieht China nur an der Oberfläche aus. Die Polizei selbst hat Zahlen veröffentlicht, wonach sich die Zahl von »Zwischenfällen mit den Massen« – Demonstrationen und Unruhen mit mehr als 50 Beteiligten – von knapp 9000 im Jahr 1993 auf 87 000 im Jahr 2005 erhöht hat. Das sind eine Menge zorniger Leute.
Es ist Zeit für den Westen, sich von einer lieben Illusion zu verabschieden: der Legende, dass der wirtschaftliche Aufstieg das Land demokratischer machen werde, dass mehr Wohlstand automatisch zu mehr Freiheit führt. Altbundeskanzler Gerhard Schröder ist ebenso ein Anhänger dieser These wie das IOK und die meisten Geschäftsleute, die in Peking aufkreuzen. Vielleicht weil sie daran glauben, vielleicht weil sie bequem ist. Sie stimmt bloß nicht. »Chinas Erfolgsgeschichte ist die ernsthafteste Herausforderung für die liberale Demokratie seit dem Faschismus der 1930er-Jahre«, schreibt der China-Kenner Ian Buruma. Denn in China ist zwar der Kommunismus tot – aber die Herrschaft der Partei quicklebendig. China ist dabei, sich von einer linken in eine rechte Diktatur zu verwandeln. Dies ist ein Regime, in dem die Partei- und die Wirtschaftselite Hand in Hand gehen bei der Plünderung des Volksvermögens, in dem diese Elite sich das Wohlwollen einer urbanen Mittelschicht mit deren Teilhabe am Wohlstand erkauft und sich gegen den Rest auf die Macht der Armee stützt.
China hat es all denen, die sich gern täuschen lassen, immer leicht gemacht. Es hat
ja auch spektakuläre Erfolge vorzuweisen bei Wirtschaftswachstum und Hungerbekämpfung. Fahren sie nicht Audi, die Pekinger und Shanghaier, trinken sie nicht Cappuccino bei Starbucks, sehen sie nicht MTV, reisen sie nicht nach Bangkok und nach Heidelberg? Man suchte nach Vertrautem und fand Chinesen im Konsumrausch. Sind sie nicht wie wir? Entsteht hier nicht die Mittelklasse, die unweigerlich nach Demokratie verlangen wird? Der Australier David Goodman hat ein Buch über Chinas neue Reiche geschrieben und kommt zu dem ernüchternden Schluss, dass Chinas neue Unternehmer »weniger eine neue Mittelklasse bilden als vielmehr einen zentralen Teil der künftigen herrschenden Klasse«: Nicht die Kapitalisten übernehmen die Partei, sondern die Partei übernimmt die Kapitalisten. Die meisten Städter haben ohnehin den faustischen Pakt akzeptiert, den ihnen die Partei nach Tiananmen 1989 anbot: Mach Geld – und halt den Mund.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Warum China heute eines der ungerechtesten Länder ist.
Es wäre schon etwas gewonnen, wenn der Westen nun die Natur des Wandels in China nicht länger leugnete. Die letzten Monate wurde endlos das Klischee wiedergekäut, Olympia 2008 werde die »Coming-out Party« Chinas als respektierte Nation im Kreis der Weltmächte. Nun hatte das Regime sein Coming-out mit Tibet 2008 schon fünf Monate früher als geplant: Für einen Moment wurde der Vorhang gelupft, stand der Kaiser nackt da. Es ist ja kein Rückfall, was da zu sehen ist. Dieses Regime kann nicht anders, als jede noch so kleine Herausforderung seiner unumschränkten Macht zu vernichten.
»Ausländern, die China aus Unwissenheit loben, kann verziehen werden. Wenn die Ausländer ausgehen, stehen ihnen Autos zur Verfügung, wenn sie unterwegs sind, werden sie eskortiert. Ganz zu schweigen von den üppigen Banketten, die man ihnen bereitet. Natürlich werden die Ausländer da China preisen. Wenn ein Ausländer, obwohl er zu einem Festmahl eingeladen ist, an unserer Stelle die Zustände in China verurteilt, dann ist dies ehrenwert und bewunderungswürdig.« Lu Xun, 1925
China ist heute eines der ungerechtesten Länder der Erde. Die Kluft zwischen Reich und Arm ist größer als in vielen Ländern Afrikas. Die Zahl der Milliardäre ist dem »Hurun-Report« zufolge von 15 im Jahr 2006 auf mehr als 100 nur ein Jahr später angewachsen. Gleichzeitig werden Bauern verprügelt und eingesperrt, weil sie sich gegen die Enteignung ihrer Länder wehren. »Heute sind die Kader tat-
sächlich wieder Großgrundbesitzer geworden und die Bauern wieder Leibeigene«, hieß es letztes Jahr in einem Manifest der Bauern von Fujin in Nordostchina. Wie vor der Revolution. Aber auch in den Städten verdecken die spiegelnden Fassaden eine haltlose Welt. Dieser Staat, der glaubt, es sich leisten zu können, seine besten und engagiertesten Bürger wegzusperren, der hat auch die Gesellschaft korrumpiert. Jeder misstraut jedem, die Jagd nach Geld hat alle Werte abgelöst.
Die erstaunlichste Abkehr von den Olympischen Spielen hat nicht Steven Spielberg vollzogen, sondern Ai Weiwei, ein Pekinger Künstler von Weltruf und einer der Schöpfer des Olympiastadions. Anfang des Jahres verkündete ein reumütiger Ai Weiwei, er schäme sich für seine Mitarbeit, die Herrscher in Peking seien »mächtige Manipulatoren«, die der Welt ein »falsches Lächeln« zeigen wollten. In seinem Blog attackierte er den »schockierenden Reichtum« der neuen Elite, während »die Armen immer ärmer« würden. »›Eine Welt?‹«, zitiert er das offizielle Motto: »Welche Welt? Keine Gerechtigkeit, keine Gleichheit, nur Betrug und Verrat. ›Ein Traum?‹ – Welcher Traum? Mehr korrupte Kader, endlose Lügen und fragwürdiger Wohlstand.«
Die Frage ist, warum vielen im Westen nicht nur die Kritik an Peking, sondern schon der Blick auf die Realität so schwer fällt. Wo doch viel auf dem Spiel steht, auch für uns. Der Blick in chinesische Internetforen ist erhellend, selbst wenn man weiß, dass alle Peking-kritischen Stimmen sofort gelöscht werden, vom Betreiber selbst oder von einem der mehr als 30 000 Internetpolizisten Chinas.
Thema: Tibet. Zeitpunkt: während der Unruhen. »Wer hat euch all das Geld vom Vaterland geschickt?«, fragt einer die Tibeter: »Habt ihr das alles vergessen?« Ein anderer meinte, es sei gut von der Regierung, »diesen Krebstumor herauszuschneiden«. Ein Dritter warnte die Tibeter: »Wenn ihr euch schlecht benehmt, dann nehmen wir eure Kultur und stecken sie ins Museum.« Ein Blogger klagte, Ausländer seien leider alle »gehirngewaschen«. Und einer schrieb: »Warum reden wir überhaupt? Separatistischer Müll sollte getötet werden. Und wenn wir eines Tages Demokratie haben, dann will ich die Nationalisten an der Macht sehen.«
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Was das zeigt? Erstens, dass Zensur funktioniert und der Siegeszug des Internets ebenso wenig wie der des Kapitalismus China automatisch in ein freies Land verwandeln wird. Und zweitens gibt das einen Vorgeschmack auf die Zukunft nach der KP – eine Erinnerung daran, dass die Kommunisten nicht nur ökologische und moralische Verheerungen anrichten, an denen künftige Generationen noch zu tragen haben. Junge Chinesen wissen tatsächlich nichts von Darfur, nichts von Tiananmen 1989, nichts von der wahren Geschichte Taiwans oder Tibets. Stattdessen hat die KP sie mit Nationalismus geimpft. In den Schulen wird die Geschichte Chinas als endlose Abfolge von Demütigungen durch ausländische Mächte gelehrt, von der erst die KP Erlösung bringt. Dreißig Jahre lang ist Chinas Wirtschaft nur gewachsen – was aber passiert, wenn es zu einer Krise kommt? Wie werden die Kommunisten dann ablenken? Es gibt heute junge Chinesen, die halten einen Krieg mit den USA für unausweichlich.
Ein Grund mehr, nicht zu schweigen. Ein Grund mehr, sich nicht zum Komplizen zu machen. Nicht wie die Firmen Microsoft und Google auf ihren chinesischen Seiten Suchbegriffe wie »Demokratie« und »Dalai Lama« zu sperren. Nicht wie Yahoo den Autor Shi Tao an die chinesischen Schergen auszuliefern. Nicht wie jener deutsche Geschäftsmann hinter vorgehaltener Hand zu flüstern, das große China sei doch gar nicht anders zu regieren, überhaupt wisse der Chinese mit Demokratie ohnehin nix anzufangen.
»In meiner Brust schlagen zwei Herzen: die des Sportlers und die des Menschen«, sagte im Deutschlandfunk ein nach Peking 2008 befragter deutscher Ruderer. Höchste Zeit, die beiden zusammenzunähen. »Die Spiele müssen politisch neutral sein«, sagte Deutschlands oberster Olympiafunktionär Thomas Bach vergangene Woche. Bach möchte auch bei der Eröffnungsfeier in Peking keine Proteste von Sportlern sehen. Seine Begründung: Man wolle ja auch nicht, dass bei der Feier »Diktaturen für sich werben«. Hat der Mann wirklich gesagt. Derweil hat die Partei die Spiele längst zu Propagandafutter gemacht und bombardiert damit die eigenen Bürger: Schaut her, die Welt respektiert und hofiert uns, also tut ihr gut daran, das Gleiche zu tun. Noch der Fackellauf durch Tibet soll Symbol sein für den Anspruch Chinas auf das Dach der Welt und ist nun nichts anderes als eine Verhöhnung der Opfer.
Aber es genügt ja, das IOK bei seinen eigenen Worten zu packen. Die olympische Idee, erklärt das IOK auf seiner Webseite, beruhe »auf der Achtung fundamental und universell gültiger ethischer Prinzipien«. Klingt verdächtig nach Menschenrechten. Also Boykott? Im Gegenteil. Hinfahren ist viel besser. Maul aufmachen. Hinter die Fassaden gucken. Mit Chinesen sprechen. T-Shirts mit dem Gesicht Hu Jias tragen. Stirnbänder in den Farben Tibets. Als Sportler der Eröffnungsfeier fernbleiben, dafür aber einen Blog schreiben. Als Journalist die Funktionäre in Pressekonferenzen stellen – die kommunistischen und olympischen. Beim Start des Marathons auf dem Tiananmen-Platz nach jener Nacht im Jahre 1989 fragen. Sich nicht einwickeln lassen. Lügenblasen durchstechen. China vier Wochen lang daran erinnern, was es braucht, um wirklich eine respektierte Macht zu werden. »Olympia ruft: Mach mit!«, heißt es auf der Webseite des Deutschen Olympischen Sportbundes. Genau.