»Es ist unmoralisch, Geld von den Reichen zu nehmen, um es den Armen zu geben«

Ein Interview mit dem Ökonom Milton Friedman

SZ-Magazin: Herr Friedman, Sie haben schon manchen US-Präsidenten kommen und gehen sehen. Vor kurzem trafen Sie auch George W. Bush. Finden Sie, dass er gute Arbeit leistet? Milton Friedman: Das kommt drauf an. Seine Steuersenkungen waren richtig. Weniger begeistert bin ich vom Anstieg der Staatsausgaben. Sie gerieten besonders in den ersten drei Jahren seiner Administration außer Kontrolle. Die Republikaner nutzten die Gelegenheit, um alles zu finanzieren, was sie schon immer wollten. Heute sind wir in der kuriosen Situation, dass das Gute das Schlechte ausbalanciert: Die niedrigeren Steuern haben zumindest dazu beigetragen, dass die US-Wirtschaft schnell wuchs. Deshalb sind die Steuereinnahmen gestiegen und es hat sich im vergangenen Jahr nicht im Defizit niedergeschlagen, dass der Staat immer mehr ausgibt.

Sie sind 93 Jahre alt. Regen Sie sich eigentlich noch darüber auf, was auf der Welt im Allgemeinen passiert? Es ist zwar völlig irrational, aber: ja, ich kann mich noch darüber aufregen. Worüber? Über die hartnäckige Tendenz, dass der Staat eine immer größere Rolle in unserem Leben übernimmt. Beispiel USA: Bis Ronald Reagan 1980 an die Macht kam, stiegen die Staatsausgaben, gemessen am nationalen Einkommen, extrem schnell. Reagan konnte diesen relativen Trend zumindest stoppen. Seither verläuft diese Kurve horizontal, der Anteil der Staatsausgaben liegt bei rund vierzig Prozent. Das bedeutet allerdings auch, dass die Ausgaben in absoluten Zahlen weiter steigen.

Stimmt Sie der Gang der Welt optimistisch? Ich denke schon. Der Fall der Sowjetunion und der Wandel in China haben zu einem Freiheitsschub geführt. Die Zahl der Menschen, die in einer Art Marktwirtschaft leben und deren Chancen nutzen können, hat zugenommen wie nie zuvor. Mich erstaunt deshalb auch die öffentliche Wahrnehmung in meinem Land: Wir sind in den Vereinigten Staaten auf dem Höhepunkt des Wohlstandes. Auch wir hatten noch nie eine Periode wie die vergangenen zwanzig Jahre, mit derart stabilem Wachstum und nur zwei milden Rezessionen. Es war wirklich eine außerordentliche Zeit, mit hohem Lebensstandard und niedriger Arbeitslosigkeit. Trotzdem sind die Leute in Meinungsumfragen unzufrieden mit der Wirtschaftslage.

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Wie erklären Sie sich das? Ich denke, es hat mit dem Irakkrieg zu tun. Die Umfragen spiegeln das allgemeine Unbehagen über die Lage im Irak, was offensichtlich auch die Einschätzung der Wirtschaftslage beeinflusst. Zu welchem Lager gehören Sie, zu den Kriegsgegnern oder den Kriegsbefürwortern? Wir hätten nicht in den Irakkrieg ziehen sollen. Es war richtig, nach Afghanistan zu gehen, denn die Lage dort hatte direkt mit dem Angriff auf uns am 11. September zu tun. Nicht so im Irak. Ich glaube, dass wir als Nation prinzipiell nicht im Aggressionsgeschäft tätig sein sollten. Doch inzwischen ist die Frage eigentlich irrelevant geworden. Nun zählt nur noch, was wir jetzt tun werden. Ich halte es für extrem wichtig, dass wir dieses Abenteuer mit Erfolg abschließen und der Irak zu einem Land wird, das man besuchen kann, ohne dass auf einen geschossen wird.

Welches sind die mächtigsten Antriebskräfte des Menschen? Zweifellos die Gier …Gier, Hass und Liebe.

Sie wurden berühmt als Hohepriester des Markts und haben den Menschen immer als rationalen Nutzenmaximierer skizziert, der im Wettbewerb mit anderen unermüdlich um seinen Vorteil ringt. Hat ein solcher Mensch Platz für Hass und Liebe? Natürlich. Wir Ökonomen kümmern uns nur darum, wie die Leute ihr Leben organisieren und wie sie ihre Ressourcen einsetzen, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Wir beurteilen diese Bedürfnisse jedoch nicht. Sie können individuell sehr unterschiedlich sein, von Hass, Liebe oder sonst einem Gefühl gesteuert. Die Macht des Hasses lässt sich ja kaum leugnen, sie treibt auch die islamischen Fundamentalisten von al-Qaida an. Wir können jetzt einfach hoffen, dass Leute mit anderen Werten wirksamer organisiert sind als sie und fähig, sie zu eliminieren. Doch die Zivilisation war immer ein riskantes und vorläufiges Unterfangen, ohne jede Garantie.

Sie haben mal gesagt, der Markt bringe jeden zur Vernunft. Sind wirklich alle Kulturen gleich geeignet, im Kapitalismus zu reüssieren? Nein, das scheint etwa die unterschiedliche Entwicklung von Nord- und Lateinamerika nahe zu legen. Beide wurden, grob gesehen, etwa zur gleichen Zeit zivilisiert. Und am Anfang machte es den Anschein, als hätten die Lateinamerikaner alle Vorteile auf ihrer Seite, schon weil sie mehr natürliche Ressourcen besaßen. Ihre Regierungsform hingegen war schlechter: Es regierten Diktatoren oder, besser formuliert, eine kleine Klasse kontrollierte die ganze Gesellschaft. Dies ist eine allgemein gültige Regel: Man kann unterscheiden zwischen solchen Gesellschaften, die von oben nach unten funktionieren, und anderen, die ihre Kraft von unten nach oben entfalten.

Wie kamen die USA zu dieser Stärke? Es hat viel mit Zufällen und Unfällen zu tun, die dem Land zu einem guten Start verhalfen. Vor allem aber waren die Gründer nach einem ersten Fehlversuch fähig, eine hervorragende Verfassung zu schaffen. Sie schufen eine Basis, die den Wettbewerb und die freie Preisbildung auf dem Markt erlaubte. Adam Smith hatte in seinem Klassiker Wealth of Nations prophezeit, dass Amerika Ende des 19. Jahrhunderts reicher sein werde als Großbritannien. Er hatte absolut Recht.

Kann man in Amerika heute noch vom Tellerwäscher zum Millionär aufsteigen? Ja, sicher. Mein Gott, schauen Sie bloß, was während des Internet-Booms passierte. Hunderte von jungen Menschen wurden plötzlich Millionäre. Besorgt bin ich über eine andere Entwicklung: Die Einkommensunterschiede sind größer geworden zwischen den Leuten an der Spitze und jenen am unteren Ende der Gesellschaft. Die wichtigste Ursache dafür ist unser untaugliches Schulsystem. Fast ein Drittel aller Schüler, die mit der Highschool beginnen, verlassen sie ohne Abschluss. Sie sind sozusagen zu einem Leben in der Unterschicht verdammt. So geraten wir zunehmend in die Situation, dass die Vermögenden die Habenichtse unterstützen und ein paternalistischer Staat regiert. Ich halte dies für eine sehr ungesunde Entwicklung unserer Gesellschaft; es schadet ihrer Seele, ihrem Selbstverständnis.

Das Schulsystem verhindert heute die berühmte Chancengleichheit? Ja, ich glaube, die Schule ist der Ort, wo man am meisten für die Chancengleichheit tun kann. In den vergangenen zwanzig Jahren haben wir die Ausgaben pro Schüler real verdoppelt oder verdreifacht, mit null Resultat. Im Gegenteil, die Ergebnisse der Abschlussprüfungen wurden sogar schlechter; die Zahl der Aussteiger nahm zu. Ohne Zweifel hat dies mit dem Staatsmonopol zu tun. Es fehlt das materielle Interesse, die Schulen wirklich zu verbessern.

Das Thema liegt Ihnen so am Herzen, dass Sie zusammen mit Ihrer Frau eine Stiftung zur Förderung der freien Schulwahl gegründet haben. Bildungsgutscheine sind die einzige sinnvolle Lösung für das Qualitätsproblem der Schulen. Da der Staat die Bildungsproduzenten, also die öffentlichen Schulen, subventioniert, fehlen die Anreize für ein gutes Ausbildungsangebot. Wir sollten das gleiche Geld in Form von Bildungsgutscheinen den Konsumenten, also den Schülern, in die Hand drücken. Egal, aus welcher Schicht sie sind und welche Hautfarbe sie haben, die Eltern könnten dann zwischen den Schulen auswählen. Das würde zu einem gesunden Wettbewerb führen und die Qualität der Schulen verbessern.

Woran liegt es eigentlich, dass Amerika wächst und der alte Kontinent stagniert? Sind die Europäer zu faul geworden für den Kapitalismus? Ich glaube, es würde ihnen besser gehen, wenn sie ihre nationalen Währungen behalten und den Euro nicht eingeführt hätten. Der Euro hat die zentralistischen Tendenzen, die Top-down-Struktur, gefördert, statt dass der Schwung von unten kommt. Grundsätzlich denke ich auch, dass die europäischen Länder traditionellere Gesellschaften haben, die weniger gut neue Konzepte und neue Ideen aufnehmen können. Und natürlich sind die Staatsausgaben höher als in den Vereinigten Staaten und hier sind sie ja schon viel zu hoch.

Seit der Einführung des Euro warnen Sie vor den Konsequenzen, doch bis heute hat sich die Währung als ziemlich stabil erwiesen. Woher Ihre hartnäckige Skepsis? Länder sind einfach unterschiedlich betroffen von externen Ereignissen. Vor dem Euro konnten sie solche Entwicklungen mit einer Wechselkursanpassung ihrer nationalen Währung abfedern. Das ist heute nicht mehr möglich. Eine einheitliche europäische Geldpolitik ist weniger effizient und weniger flexibel als die alte Wechselkursregulierung.

Gibt es in zehn Jahren den Euro nicht mehr? Doch, es wird einen Euro geben, aber einen anderen. Ich denke, ein paar Länder werden ihn aufgegeben haben. Ich kann mir den Euro für eine sehr kleine Gruppe Länder vorstellen. Ich bin nur skeptisch, was einen Euro als Weltwährung betrifft.

Wissen Sie noch, wieso Sie Ökonom wurden? Als ich 1932 meinen Bachelor an der Universität erwarb, galten in den Vereinigten Staaten 25 Millionen Leute als arbeitslos. Ich hatte zwei Stipendiumsangebote für meine weiteren Studien: eins für angewandte Mathematik, eins für Ökonomie an der Universität Chicago.

Welches hätten Sie angenommen in einer Welt, die aus den Fugen war? Wie alt waren Sie, als Ihre Meinung feststand, dass der Markt prinzipiell soziale und wirtschaftliche Probleme besser löst als der Staat? In meinen frühen Zwanzigern wohl.

Und Sie waren sich damals schon sicher? Immerhin waren Sie damit lange Teil einer Minderheit. Ich konnte nicht sicher sein, dass ich richtig lag, doch ich verließ mich auf die Fakten. Mein Vorteil war, dass ich zwar zu einer Minderheit gehörte, aber an der Universität Chicago eine kleine Clique Gleichgesinnter um mich hatte, so dass ich im Alltag nicht dauernd angegriffen wurde. Das war 1947 auch Friedrich von Hayeks Konzept bei der Gründung der Mont Pèlerin Society in der Schweiz. Er brachte all diese Leute zusammen, die eine Woche pro Jahr Ideen diskutierten und nicht mehr das Gefühl hatten, mit ihren Ideen allein zu sein. Uns verband der Glaube an die Bedeutung der Freiheit, Freiheit im Sinne privaten Eigentums, eines freien Handels und so weiter. Im Visier hatten wir damals nicht unbedingt die Sowjetunion, sondern vor allem die zentrale Planung in fast allen europäischen Staaten.

Sie schrieben damals gegen den Keynesianismus an, der staatliche Eingriffe in die Wirtschaft so populär machte. Haben Sie John Maynard Keynes eigentlich je kennen gelernt? Ich habe ihn nie getroffen, aber wir haben mal korrespondiert. Er lehnte einen Artikel von mir ab, den ich publizieren wollte, meinen ersten.

Heute gehören Sie zum Mainstream und der Ruhm von Keynes ist verblasst. Glauben Sie, dass Sie den Gang der Geschichte beeinflusst haben? Das ist schwierig zu beurteilen. Wir haben sicher zum Wandel in der öffentlichen Meinung beigetragen, aber unsere wichtigste Rolle war, Alternativen anzubieten für die Zeit, als Alternativen möglich wurden. Wir hatten zum Beispiel seit den sechziger Jahren über flexible Wechselkurse diskutiert. Nun waren wir nicht dafür verantwortlich, dass sie schließlich auch eingeführt wurden. Aber dank uns gab es ein Modell, das im richtigen Moment bereitstand.

Glauben Sie, die Europäer leben auch heute noch in einem sozialistischen System? In einem teilsozialistischen, ja. Das gilt sogar für die Vereinigten Staaten, wo fast vierzig Prozent des nationalen Einkommens von der Regierung ausgegeben oder kontrolliert werden. Das macht uns fast halbsozialistisch. Die Rettung einer freien Gesellschaft ist, dass der Staat so ineffizient ist. Wenn er seine vierzig Prozent wirklich effizient einsetzen würde, wäre es mit der freien Gesellschaft nicht mehr so weit her.

Was ist mit Ländern wie Finnland, wo der Staat effizient ist, die Leute gern Steuern bezahlen und die Wirtschaft wächst? Man trifft in dieser Welt auf alle möglichen Anomalien. Es gibt keinen Grund, weshalb Laisser-faire nicht auch in Skandinavien funktionieren würde. Vielleicht kommen sie auch dort eines Tages zu Sinnen. Halten Sie es nur für ineffizient, wenn der Staat eingreift, oder auch für unmoralisch? Beides. Ich halte es für unmoralisch, wenn der Staat mich davon abhalten will, Marx zu lesen oder Marihuana zu rauchen. Er versucht in beiden Fällen zu kontrollieren, was ich zu mir nehme. Es ist ebenso unmoralisch, Geld von den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben, unter der Voraussetzung, dass die Reichen ihr Geld ehrlich verdient haben. Wieso ist Stehlen moralisch? Und wo ist der Unterschied zwischen Besteuerung und Diebstahl? Man kann Steuern legitimieren, wenn man sie als den Preis für notwendige staatliche Dienstleistungen betrachtet. Demzufolge wäre es also moralisch, den Leuten eine Steuer für staatliche Dienstleistungen aufzuerlegen, die sie bezahlen können. Und als eine dieser Dienstleistungen könnte man das Schaffen einer egalitäreren Gesellschaft betrachten. Ist dies wirklich eine notwendige staatliche Dienstleistung? Daran zweifle ich.

Wie sieht die ideale Gesellschaft aus? Nehmen Sie Hongkong: Im Jahr 1945 war das Durchschnittseinkommen ein Drittel so hoch wie dasjenige von Großbritannien, heute ist es ein Drittel höher als das britische. Bevor Hongkong von China übernommen wurde, lagen die Staatsausgaben bei unter 15 Prozent. Wenn wir unsere Quote ebenfalls nicht über 15 Prozent hätten steigen lassen, wären wir heute mehr als doppelt so reich.

Konkret: Welche Aufgaben soll der Staat übernehmen, welche soll er lassen? Idealerweise sollte er das Land gegen äußere Feinde verteidigen. Zweitens soll er eine Gerichtsbarkeit bereitstellen, wo die Leute ihre Differenzen bereinigen können. Drittens würde der Staat die Regeln des Spiels festlegen, wie Eigentumsrechte zum Beispiel. Ich bin auch für eine staatliche Polizei. Mein Sohn hat einmal ein Buch geschrieben, in dem er ein anarchistisches System vorschlug. Private Sicherheitsfirmen hätten da die Funktion der Polizei übernommen. Ich habe mich nie davon überzeugen können, dass dies funktionieren würde.

Wieso wollen Sie nicht, dass der Staat den Armen und Schwachen hilft? Das Ziel ist es doch, möglichst wenig Arme und Schwache zu haben. Hier liegt die Stärke dieses Ideals. Den verbleibenden Armen würde man privat helfen. Die private Fürsorge gab es schon immer. Früher forderten Sie nur, dass man alle Sozialprogramme durch eine Art Minimaleinkommen für jeden Bürger ersetzt. Wir reden ja jetzt von einer idealen Welt, das Minimaleinkommen ist eine Idee für diese, die reale Welt. Kollege Charles Murray hat ein Buch geschrieben, in dem er vorschlägt, jedem Erwachsenen 10 000 Dollar im Jahr zu geben. Wenn sich einer mit dem Geld betrinken will, wäre das dann sein Problem. Ich gehe einig mit John Stuart Mill: Der Staat ist dazu da, den Bürger vor anderen Bürgern zu schützen. Er ist nicht dazu da, die Leute vor sich selbst zu beschützen.

Mit diesem Gedanken haben Sie aber bisher kein Gehör gefunden. Sie fordern schon lange die völlige Straffreiheit des Drogenkonsums. Es ist wirklich komisch: Wir haben in den USA die Erfahrung der Prohibition, als selbst der Alkoholkonsum verboten war. Niemand zweifelt heute daran, dass die Prohibition ein Fehler war. Das Problem ist, dass die potenziellen Konsumenten heutiger illegaler Drogen nicht mehr als zehn bis 15 Prozent einer Gesellschaft ausmachen – zu wenig, um genügend politischen Druck aufzubauen. Dabei ist unsere Drogenpolitik völlig irrsinnig und schadet sogar unseren außenpolitischen Interessen. So wollen wir Afghanistan wieder aufbauen, doch gleichzeitig versuchen wir, den Anbau und Handel von Heroin zu unterbinden. Die Droge ist eines der wichtigsten Exportgüter des Landes und eine der wenigen Möglichkeiten für Afghanen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die amerikanische Regierung mischt sich in eine Transaktion zwischen einem willigen Verkäufer und einem willigen Kunden ein – das ist absurd.

Was war Ihr größter Erfolg? Weiß der Himmel! Am meisten Einfluss wird mir in der Geldpolitik zugeschrieben, aber Alan Greenspan hatte als Notenbankchef mindestens ebenso viel Anteil am Erfolg. Ich halte zum Beispiel meinen Beitrag zur Abschaffung der obligatorischen Wehrpflicht in den siebziger Jahren für wertvoll. Das war ein solch gravierender Eingriff in die menschliche Freiheit. Es gibt allerdings gewisse kleine Länder, die keine andere Wahl haben. Dazu gehört zum Beispiel Israel. Wenn man für eine adäquate Landesverteidigung über die Hälfte einer bestimmten Altersgruppe einziehen müsste, hat man wohl keine Alternative zur Wehrpflicht. Ansonsten müsste man zu viele zu hohe Löhne zahlen, um genug Freiwillige zu finden.

Haben Sie sich in Ihrer Karriere je geirrt und Ihre Meinung geändert? Natürlich. Das Schöne daran ist, dass man diese Irrtümer aus der Erinnerung verbannt.

Das glaube ich Ihnen nicht. Na gut, hier ein Beispiel: Ich war früher ein Befürworter von Monopolbekämpfung. Inzwischen bin ich zum Schluss gekommen, dass sie sinnlos ist, weil Maßnahmen gegen Monopole dazu tendieren, der regulierten Industrie mehr zu nützen als der Öffentlichkeit.

Bereuen Sie heute Ihren Einsatz für Pinochet? Sie fuhren in den siebziger Jahren nach Chile, um bei der Bekämpfung der Inflation mitzuhelfen, prompt wurden Sie zum Symbol des zynischen Kapitalisten, der einen Diktator unterstützt. Das war kein Fehler. Als ich Jahre später nach China fuhr und dort die gleichen Reden über Inflation und freie Märkte hielt wie früher in Chile, hat niemand protestiert. Wieso?

Pinochet hat die Opposition erbarmungslos unterdrückt und verfolgt. Wie war das mit Ihrem Credo einer freien Gesellschaft vereinbar? Schauen wir doch, wie ich überhaupt nach Chile kam und was ich dort tat: Nachdem Pinochet eine Gruppe von Ökonomen um Hilfe gebeten hatte, die an meiner Universität in Chicago ausgebildet worden waren, fuhr ich für Vorträge nach Chile. Ich habe auch dort über die Freiheit gesprochen. Ich habe auch damals gesagt, dass Freiheit die Redefreiheit bedingt. Schauen Sie, was passiert ist: Chile ist ein freies Land. Pinochet ließ irgendwann freie Wahlen zu und wurde abgewählt.

Sie glauben, Diktatur und freie Marktwirtschaft können nicht nebeneinander bestehen? Ich glaube nicht, nein. Ich denke, dass auch in China der Gegensatz zwischen der wirtschaftlichen Freiheit und der politischen Unfreiheit schon bald zu einem neuen Konflikt führen wird. Die Proteste auf dem Tiananmen-Platz waren nur die ersten einer Serie von Ereignissen, die früher oder später passieren werden.

Als Ökonom haben Sie während Ihrer ganzen Karriere menschliches Verhalten erforscht: Was ist das Wichtigste im Leben? Für mich? Die intellektuelle Aktivität, das Nachdenken über Dinge.

Das war wichtiger, als Vater zu werden oder zu heiraten? Natürlich habe ich auch viel Freude an meinen Kindern, Enkeln und Urenkeln. Doch intellektuelle Aktivität hat einfach den größten Teil meines Lebens ausgemacht.

Wann gehen Sie in den Ruhestand? Wenn ich sterbe. Aber ich arbeite heute ja nur noch wenig. Ich verschwende meine Zeit, um mit Leuten wie Ihnen zu reden.

Milton Friedman, 93, gilt als der berühmteste und einflussreichste lebende Ökonom. Er war unter anderem Berater von Richard Nixon und Ronald Reagan und pflegt auch heute noch engen Kontakt zum Weißen Haus. Als Mitglied der »Chicago School« entwickelte er die Monetarismus-Theorie, die in den siebziger Jahren die Wirtschaftswissenschaft revolutionierte. Demnach sollte die Geldpolitik nicht über den Zinssatz, sondern über die Geldmenge geregelt werden. Er war einer der schärfsten Kritiker des Keynesianismus, der mit staatlichen Eingriffen die Wirtschaft zu regulieren versuchte. Friedman erhielt 1976 den Nobelpreis für Ökonomie. Er lebt mit seiner Frau Rose in San Francisco.